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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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begnügen, auf das kennzeichnende Spiral¬
ornament hinzuweisen, das von den feinsten
bis zu den großzügigsten Typen vertreten ist.
Es gibt auf dem ganzen Gebiet der germa¬
nischen Kultur aus der ersten Hälfte der ge¬
nannten Periode kein einziges Gerät, keinen
einzigen Schmuck, der aus dem östlichen
Mittelmeerkulturkreise stammt.

So zeigt das objektive Material ein unserer
ältesten Kultur viel günstigeres Bild, als die
antiken Schriftsteller oder vielmehr das, was
man aus ihnen herauszulesen Pflegt. Denn
in Wirklichkeit haben die Römer, außer in
den Zeiten hochgehender nationaler Erbitterung
gegen ihre Besieger nur mit der größten
Hochachtung von den Germanen gesprochen
und hauptsächlich ihren edlen Typus sehr Wohl
beobachtet und im Gegensatz zu Thrakern und
Galliern in zahlreichen Bildwerken verewigt.
ES ist ein alter Irrtum, daß die Germanen
von den Fremden zu ihrem Nutzen immer
nur gelernt hätten; im Gegenteil, es war
mit den alten Germanen wie mit uns, was
Goethe treffend ausgedrückt hat: "Der
Deutsche läuft keine größere Gefahr, als sich
mit und an seinen Nachbarn zu steigern."
Er braucht es nicht, er verliert nur dabei,
wie es den Germanen der jüngeren Bronze¬
zeit gegangen ist, denn "es ist vielleicht keine
Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu ent¬
wickeln, als die deutsche".

Die Mahnung, sich nicht ans Ausland zu
verlieren, können wir immer und immer
wieder gebrauchen, und wenn die Vorgeschichte
sie uns zuruft, so ist sie in der Tat eine
"hervorragend nationale Wissenschaft".

Wir können mit dem Verfasser wünschen,
daß die Kenntnis unserer ältesten Vorzeit
weit ins Volk dringt und dürfen uns freuen,
daß die Zeit der dilettantischen Beschäftigung
mit den Vorgeschichten vorüber ist. überall
sind Männer der Wissenschaft am Werke, uns
durch genauere Einzeluntersuchungen über
unsere Urkultur aufzuklären. Große Verdienste
um die germanische Altertumskunde hat sich
auch der Trübnersche Verlag erworben durch
die Herausgabe des "Reallexikons der ger¬
manischen Altertumskunde", das von Johannes
Hoops in Heidelberg in Verbindung mit
vielen Fachgelehrten bearbeitet wird. Das
groß angelegte Werk ist hier (1912 Ur. 9)

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bereits erwähnt worden. Jetzt sind die
Lieferungen 2 und 3 (Badegerät ^Dichtung)
erschienen und binnen kurzem wird der erste
Band fertig vorliegen.

Fritz Tychow -
Aunst

Andrea Orcagnas Fresco in der Kirche
Santa Croce zu Florenz. Die Renaissance
ist das Fest des Rausches mit all seinen Aus¬
schweifungen und seinem Katzenjammer. Neben
die Vergötterung der Helden stellt sie die tiefste
seelische Demütigung z den in Wortund Bild ver¬
herrlichten Siegen der Mediceer entsprechen
die Fresken auf dem Pisaner Camposanto, die
die Nichtigkeit des Irdischen predigen. Der
eklektische Geist der Zeit versteht es allerdings,
dem Fürchterlichsten eine schöne Seite abzu¬
gewinnen und "die scheußliche Pest, die die
blühende Stadt Italiens, Florenz heimsuchte",
bildet den Hintergrund für die graziösen Spöt¬
tereien, die Boccaccio 1343 in seinem Deka-
merone vereinigte.

Die grausigen Eindrücke der Seuche mögen
Wohl auch dem Andrea Orcagna (1308 s?>
bis 1368) vorgeschwebt haben, als er in der
Florentiner Franziskanerkirche Santa Croce
sein Fresko "Das jüngste Gericht" schuf, dessen
Großartigkeit Vasari in seinen Vile schildert.
Jahrhundertelang hat man den Bericht des
Vasari für Erdichtung gehalten, da keinerlei
Spur auf das ehemalige Vorhandensein dieser
Fresken hinwies. Vor kurzem aber ließ ein
Zufall die Nichtigkeit erkennen. Unter einem
Altarbild, "Christus in Gethsemane", das man
zur Ausbesserung herabnahm, fand man ein
Fragment des l'rionko actis morte aus dem
vierzehnten Jahrhundert von Andrea Orcagna,
einen etwa vier Meter hohen, zwei Meter
breiten, mit einem gotischen Rahmen ein¬
gefaßten Ausschnitt I DaS Gemälde ist deutlich
erkennbar, soweit die Wand nicht durch das
Hineintreiben von Stützbalken für das neue
Christusbild beschädigt wurde, und der ge¬
waltige Eindruck der erhaltenen Gruppen ge¬
nügt, um auch in unseren Augen den Ruf
zu rechtfertigen, den das Gesamtwert vom
vierzehnten bis zur Hälfte des sechszehnten
Jahrhunderts genoß.

Die uns vom Camposanto in Pisa bekannte
Darstellung sehen wir hier teilweise wieder-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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begnügen, auf das kennzeichnende Spiral¬
ornament hinzuweisen, das von den feinsten
bis zu den großzügigsten Typen vertreten ist.
Es gibt auf dem ganzen Gebiet der germa¬
nischen Kultur aus der ersten Hälfte der ge¬
nannten Periode kein einziges Gerät, keinen
einzigen Schmuck, der aus dem östlichen
Mittelmeerkulturkreise stammt.

So zeigt das objektive Material ein unserer
ältesten Kultur viel günstigeres Bild, als die
antiken Schriftsteller oder vielmehr das, was
man aus ihnen herauszulesen Pflegt. Denn
in Wirklichkeit haben die Römer, außer in
den Zeiten hochgehender nationaler Erbitterung
gegen ihre Besieger nur mit der größten
Hochachtung von den Germanen gesprochen
und hauptsächlich ihren edlen Typus sehr Wohl
beobachtet und im Gegensatz zu Thrakern und
Galliern in zahlreichen Bildwerken verewigt.
ES ist ein alter Irrtum, daß die Germanen
von den Fremden zu ihrem Nutzen immer
nur gelernt hätten; im Gegenteil, es war
mit den alten Germanen wie mit uns, was
Goethe treffend ausgedrückt hat: „Der
Deutsche läuft keine größere Gefahr, als sich
mit und an seinen Nachbarn zu steigern."
Er braucht es nicht, er verliert nur dabei,
wie es den Germanen der jüngeren Bronze¬
zeit gegangen ist, denn „es ist vielleicht keine
Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu ent¬
wickeln, als die deutsche".

Die Mahnung, sich nicht ans Ausland zu
verlieren, können wir immer und immer
wieder gebrauchen, und wenn die Vorgeschichte
sie uns zuruft, so ist sie in der Tat eine
„hervorragend nationale Wissenschaft".

Wir können mit dem Verfasser wünschen,
daß die Kenntnis unserer ältesten Vorzeit
weit ins Volk dringt und dürfen uns freuen,
daß die Zeit der dilettantischen Beschäftigung
mit den Vorgeschichten vorüber ist. überall
sind Männer der Wissenschaft am Werke, uns
durch genauere Einzeluntersuchungen über
unsere Urkultur aufzuklären. Große Verdienste
um die germanische Altertumskunde hat sich
auch der Trübnersche Verlag erworben durch
die Herausgabe des „Reallexikons der ger¬
manischen Altertumskunde", das von Johannes
Hoops in Heidelberg in Verbindung mit
vielen Fachgelehrten bearbeitet wird. Das
groß angelegte Werk ist hier (1912 Ur. 9)

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bereits erwähnt worden. Jetzt sind die
Lieferungen 2 und 3 (Badegerät ^Dichtung)
erschienen und binnen kurzem wird der erste
Band fertig vorliegen.

Fritz Tychow -
Aunst

Andrea Orcagnas Fresco in der Kirche
Santa Croce zu Florenz. Die Renaissance
ist das Fest des Rausches mit all seinen Aus¬
schweifungen und seinem Katzenjammer. Neben
die Vergötterung der Helden stellt sie die tiefste
seelische Demütigung z den in Wortund Bild ver¬
herrlichten Siegen der Mediceer entsprechen
die Fresken auf dem Pisaner Camposanto, die
die Nichtigkeit des Irdischen predigen. Der
eklektische Geist der Zeit versteht es allerdings,
dem Fürchterlichsten eine schöne Seite abzu¬
gewinnen und „die scheußliche Pest, die die
blühende Stadt Italiens, Florenz heimsuchte",
bildet den Hintergrund für die graziösen Spöt¬
tereien, die Boccaccio 1343 in seinem Deka-
merone vereinigte.

Die grausigen Eindrücke der Seuche mögen
Wohl auch dem Andrea Orcagna (1308 s?>
bis 1368) vorgeschwebt haben, als er in der
Florentiner Franziskanerkirche Santa Croce
sein Fresko „Das jüngste Gericht" schuf, dessen
Großartigkeit Vasari in seinen Vile schildert.
Jahrhundertelang hat man den Bericht des
Vasari für Erdichtung gehalten, da keinerlei
Spur auf das ehemalige Vorhandensein dieser
Fresken hinwies. Vor kurzem aber ließ ein
Zufall die Nichtigkeit erkennen. Unter einem
Altarbild, „Christus in Gethsemane", das man
zur Ausbesserung herabnahm, fand man ein
Fragment des l'rionko actis morte aus dem
vierzehnten Jahrhundert von Andrea Orcagna,
einen etwa vier Meter hohen, zwei Meter
breiten, mit einem gotischen Rahmen ein¬
gefaßten Ausschnitt I DaS Gemälde ist deutlich
erkennbar, soweit die Wand nicht durch das
Hineintreiben von Stützbalken für das neue
Christusbild beschädigt wurde, und der ge¬
waltige Eindruck der erhaltenen Gruppen ge¬
nügt, um auch in unseren Augen den Ruf
zu rechtfertigen, den das Gesamtwert vom
vierzehnten bis zur Hälfte des sechszehnten
Jahrhunderts genoß.

Die uns vom Camposanto in Pisa bekannte
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/640>, abgerufen am 29.06.2024.