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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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gemeinen die Ergebnisse der neueren For¬
schungen angedeutet: die Selbständigkeit der
nordwesteuropäischen Kultur und ihre Unab¬
hängigkeit vom Orient in den frühesten
Kulturperioden. Seitdem hat der Berliner
Hochschullehrer Professor Dr. Gustaf Kossinna,
der einzige Inhaber eines Lehrstuhls für
deutsche Borgeschichte, in zwei sehr bedeut¬
samen Schriften die Beweismittel für seine
Behauptungen zusammengestellt. Die eine
Schrift ("Die Herkunft der Germanen",
Würzburg 1911) wurde den Teilnehmern an
der dritten Tagung der deutschen Gesellschaft
für Vorgeschichte in Koblenz (3. bis 7. August
1911) vorgelegt und fand allgemeine Aner¬
kennung und Zustimmung auch bei den skan¬
dinavischen Gelehrten mit dem Altmeister
Montelius an der Spitze. Kossinna stellt dort
auf Grund seiner immer mehr verfeinerten
Methode der Siedelungsarchäologie fest, daß
in Skandinavien schon seit der Zeit der jün¬
geren Muschelhaufen (ö000 bis 4000 v. Chr.)
Germanen gewohnt haben, daß diese im letzten
Stadium der Bronzezeit I (1800 bis 1700)
zunächst nach Nordwestdeutschland gewandert
sind, eine Zeitlang auch den Osten eingenommen,
ihn aber wieder geräumt haben, um langsam
nach Süden und Südwesten vorzudringen,
während um 700 v. Chr. übers Meer ge¬
kommene Germanen wieder den Osten ein-
nahmen.

Die zweite im Titel genannte Untersuchung
bildete den Gegenstand des Festvortrages
auf der Koblenzer Tagung und ist jetzt
erfreulicher Weise mit einigen Zusätzen er¬
schienen.

Alte Vorurteile auszurotten, ist eine dornige
Arbeit, und die deutschen Vorgeschichtler, die
dem alten Satze: ex Orients lux entgegen¬
treten, werden noch mühevoll zu ringen haben,
bis sie die Ergebnisse ihrer Forschung zu
allgemeiner Anerkennung bringen werden.
Überall scheinen die alten Schriftsteller der
Annahme einer hohen Kultur der Germanen
zu widersprechen. Da sie unzweifelhaft den
Germanen viel Neues brachten, haben Griechen
und Römer den Eindruck gehabt, daß sie es
mit Barbaren zu tun hätten. Das ist aber
ihre ganz persönliche Auffassung, nur haben
sie den Vorteil, Schriftliches hinterlassen zu
haben, dessen Inhalt von der ganzen west¬

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europäischen Gelehrtenwelt in Überschätzung
der antiken Kultur auf Treu und Glauben
hingenommen wurde. "Wo aber der Mund
des Geschichtsschreibers verstummt, da öffnen
sich die Gräber und reden, und die Wissen¬
schaft der Prähistorie entnimmt ihrem Inhalt
eine Fülle gesicherter Kenntnisse" (Lamprecht).
Und Kossinna hat nun die Gräber und son¬
stigen Fundstätten reden gemacht und mit
objektivem Material die Sage von der Un¬
kultur der alten Germanen widerlegt.

Schon die Megalithgräber, sür die man
einst ein eigenes Volk erfunden hatte, er¬
scheinen im Norden und Westen Europas viel
früher als in Afrika und Asien und zeigen
nirgends eine größere Mannigfaltigkeit der
Form als im Westen und Norden. Hier
müssen sie also bodenständig gewesen sein.
Ebenso ist es mit dem Erwerbe des edelsten
Zugtieres, des Pferdes, "von dem es jetzt
feststeht, daß vielmehr umgekehrt die Indo-
germanen, genauer die Arier, bei ihrer Um¬
siedlung von Europa nach Vorderasien es der
semitischen Welt gebracht haben". Und wenn
der jetzige Stand der Funde ältester Schrift¬
zeichen es wahrscheinlich macht, daß die
Silbenschrift in Westeuropa im Kulturkreis
der Erbauer der Megalithgräber entstanden
und den Phöniziern nur die Einführung der
Lautschrift zu danken ist, so bekommt aller¬
dings unsere Anschauung von der ältesten
westeuropäischen Kultur ein ganz anderes
Aussehen.

Mit handgreiflichen Beweisen kommt uns
Kossinna bei der Darstellung der völligen
Selbständigkeit der steinzeitlichen Keramik und
der Steinwaffen Mittel- und Nordeuropas,
wo damals Nordindogermanen wohnten. Die
Gefäße zeigen eine typologisch lückenlose
Entwicklung, von fremdem Einfluß ist nirgends
etwas zu merken. Wirklich überraschend sind
die Erzeugnisse der bronzezeitlichen Metall¬
industrie Germaniens, denen in dieser Periode
(1700 bis 1400 v. Chr.) in ganz Süddeutsch¬
land, der Schweiz, Frankreich, England,
Italien, Osterreich und Ungarn nichts ähn¬
liches an die Seite zu stellen ist. Ohne den
Abbildungen der Schwertgriffe, Gürtelplatten,
des Frauenschmucks usw. läßt sich kein Bild
von der erstaunlichen Kulturhöhe der germa¬
nischen Bronzezeit geben, wir müssen uns

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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gemeinen die Ergebnisse der neueren For¬
schungen angedeutet: die Selbständigkeit der
nordwesteuropäischen Kultur und ihre Unab¬
hängigkeit vom Orient in den frühesten
Kulturperioden. Seitdem hat der Berliner
Hochschullehrer Professor Dr. Gustaf Kossinna,
der einzige Inhaber eines Lehrstuhls für
deutsche Borgeschichte, in zwei sehr bedeut¬
samen Schriften die Beweismittel für seine
Behauptungen zusammengestellt. Die eine
Schrift („Die Herkunft der Germanen",
Würzburg 1911) wurde den Teilnehmern an
der dritten Tagung der deutschen Gesellschaft
für Vorgeschichte in Koblenz (3. bis 7. August
1911) vorgelegt und fand allgemeine Aner¬
kennung und Zustimmung auch bei den skan¬
dinavischen Gelehrten mit dem Altmeister
Montelius an der Spitze. Kossinna stellt dort
auf Grund seiner immer mehr verfeinerten
Methode der Siedelungsarchäologie fest, daß
in Skandinavien schon seit der Zeit der jün¬
geren Muschelhaufen (ö000 bis 4000 v. Chr.)
Germanen gewohnt haben, daß diese im letzten
Stadium der Bronzezeit I (1800 bis 1700)
zunächst nach Nordwestdeutschland gewandert
sind, eine Zeitlang auch den Osten eingenommen,
ihn aber wieder geräumt haben, um langsam
nach Süden und Südwesten vorzudringen,
während um 700 v. Chr. übers Meer ge¬
kommene Germanen wieder den Osten ein-
nahmen.

Die zweite im Titel genannte Untersuchung
bildete den Gegenstand des Festvortrages
auf der Koblenzer Tagung und ist jetzt
erfreulicher Weise mit einigen Zusätzen er¬
schienen.

Alte Vorurteile auszurotten, ist eine dornige
Arbeit, und die deutschen Vorgeschichtler, die
dem alten Satze: ex Orients lux entgegen¬
treten, werden noch mühevoll zu ringen haben,
bis sie die Ergebnisse ihrer Forschung zu
allgemeiner Anerkennung bringen werden.
Überall scheinen die alten Schriftsteller der
Annahme einer hohen Kultur der Germanen
zu widersprechen. Da sie unzweifelhaft den
Germanen viel Neues brachten, haben Griechen
und Römer den Eindruck gehabt, daß sie es
mit Barbaren zu tun hätten. Das ist aber
ihre ganz persönliche Auffassung, nur haben
sie den Vorteil, Schriftliches hinterlassen zu
haben, dessen Inhalt von der ganzen west¬

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europäischen Gelehrtenwelt in Überschätzung
der antiken Kultur auf Treu und Glauben
hingenommen wurde. „Wo aber der Mund
des Geschichtsschreibers verstummt, da öffnen
sich die Gräber und reden, und die Wissen¬
schaft der Prähistorie entnimmt ihrem Inhalt
eine Fülle gesicherter Kenntnisse" (Lamprecht).
Und Kossinna hat nun die Gräber und son¬
stigen Fundstätten reden gemacht und mit
objektivem Material die Sage von der Un¬
kultur der alten Germanen widerlegt.

Schon die Megalithgräber, sür die man
einst ein eigenes Volk erfunden hatte, er¬
scheinen im Norden und Westen Europas viel
früher als in Afrika und Asien und zeigen
nirgends eine größere Mannigfaltigkeit der
Form als im Westen und Norden. Hier
müssen sie also bodenständig gewesen sein.
Ebenso ist es mit dem Erwerbe des edelsten
Zugtieres, des Pferdes, „von dem es jetzt
feststeht, daß vielmehr umgekehrt die Indo-
germanen, genauer die Arier, bei ihrer Um¬
siedlung von Europa nach Vorderasien es der
semitischen Welt gebracht haben". Und wenn
der jetzige Stand der Funde ältester Schrift¬
zeichen es wahrscheinlich macht, daß die
Silbenschrift in Westeuropa im Kulturkreis
der Erbauer der Megalithgräber entstanden
und den Phöniziern nur die Einführung der
Lautschrift zu danken ist, so bekommt aller¬
dings unsere Anschauung von der ältesten
westeuropäischen Kultur ein ganz anderes
Aussehen.

Mit handgreiflichen Beweisen kommt uns
Kossinna bei der Darstellung der völligen
Selbständigkeit der steinzeitlichen Keramik und
der Steinwaffen Mittel- und Nordeuropas,
wo damals Nordindogermanen wohnten. Die
Gefäße zeigen eine typologisch lückenlose
Entwicklung, von fremdem Einfluß ist nirgends
etwas zu merken. Wirklich überraschend sind
die Erzeugnisse der bronzezeitlichen Metall¬
industrie Germaniens, denen in dieser Periode
(1700 bis 1400 v. Chr.) in ganz Süddeutsch¬
land, der Schweiz, Frankreich, England,
Italien, Osterreich und Ungarn nichts ähn¬
liches an die Seite zu stellen ist. Ohne den
Abbildungen der Schwertgriffe, Gürtelplatten,
des Frauenschmucks usw. läßt sich kein Bild
von der erstaunlichen Kulturhöhe der germa¬
nischen Bronzezeit geben, wir müssen uns

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[0639] Maßgebliches und Unmaßgebliches gemeinen die Ergebnisse der neueren For¬ schungen angedeutet: die Selbständigkeit der nordwesteuropäischen Kultur und ihre Unab¬ hängigkeit vom Orient in den frühesten Kulturperioden. Seitdem hat der Berliner Hochschullehrer Professor Dr. Gustaf Kossinna, der einzige Inhaber eines Lehrstuhls für deutsche Borgeschichte, in zwei sehr bedeut¬ samen Schriften die Beweismittel für seine Behauptungen zusammengestellt. Die eine Schrift („Die Herkunft der Germanen", Würzburg 1911) wurde den Teilnehmern an der dritten Tagung der deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte in Koblenz (3. bis 7. August 1911) vorgelegt und fand allgemeine Aner¬ kennung und Zustimmung auch bei den skan¬ dinavischen Gelehrten mit dem Altmeister Montelius an der Spitze. Kossinna stellt dort auf Grund seiner immer mehr verfeinerten Methode der Siedelungsarchäologie fest, daß in Skandinavien schon seit der Zeit der jün¬ geren Muschelhaufen (ö000 bis 4000 v. Chr.) Germanen gewohnt haben, daß diese im letzten Stadium der Bronzezeit I (1800 bis 1700) zunächst nach Nordwestdeutschland gewandert sind, eine Zeitlang auch den Osten eingenommen, ihn aber wieder geräumt haben, um langsam nach Süden und Südwesten vorzudringen, während um 700 v. Chr. übers Meer ge¬ kommene Germanen wieder den Osten ein- nahmen. Die zweite im Titel genannte Untersuchung bildete den Gegenstand des Festvortrages auf der Koblenzer Tagung und ist jetzt erfreulicher Weise mit einigen Zusätzen er¬ schienen. Alte Vorurteile auszurotten, ist eine dornige Arbeit, und die deutschen Vorgeschichtler, die dem alten Satze: ex Orients lux entgegen¬ treten, werden noch mühevoll zu ringen haben, bis sie die Ergebnisse ihrer Forschung zu allgemeiner Anerkennung bringen werden. Überall scheinen die alten Schriftsteller der Annahme einer hohen Kultur der Germanen zu widersprechen. Da sie unzweifelhaft den Germanen viel Neues brachten, haben Griechen und Römer den Eindruck gehabt, daß sie es mit Barbaren zu tun hätten. Das ist aber ihre ganz persönliche Auffassung, nur haben sie den Vorteil, Schriftliches hinterlassen zu haben, dessen Inhalt von der ganzen west¬ europäischen Gelehrtenwelt in Überschätzung der antiken Kultur auf Treu und Glauben hingenommen wurde. „Wo aber der Mund des Geschichtsschreibers verstummt, da öffnen sich die Gräber und reden, und die Wissen¬ schaft der Prähistorie entnimmt ihrem Inhalt eine Fülle gesicherter Kenntnisse" (Lamprecht). Und Kossinna hat nun die Gräber und son¬ stigen Fundstätten reden gemacht und mit objektivem Material die Sage von der Un¬ kultur der alten Germanen widerlegt. Schon die Megalithgräber, sür die man einst ein eigenes Volk erfunden hatte, er¬ scheinen im Norden und Westen Europas viel früher als in Afrika und Asien und zeigen nirgends eine größere Mannigfaltigkeit der Form als im Westen und Norden. Hier müssen sie also bodenständig gewesen sein. Ebenso ist es mit dem Erwerbe des edelsten Zugtieres, des Pferdes, „von dem es jetzt feststeht, daß vielmehr umgekehrt die Indo- germanen, genauer die Arier, bei ihrer Um¬ siedlung von Europa nach Vorderasien es der semitischen Welt gebracht haben". Und wenn der jetzige Stand der Funde ältester Schrift¬ zeichen es wahrscheinlich macht, daß die Silbenschrift in Westeuropa im Kulturkreis der Erbauer der Megalithgräber entstanden und den Phöniziern nur die Einführung der Lautschrift zu danken ist, so bekommt aller¬ dings unsere Anschauung von der ältesten westeuropäischen Kultur ein ganz anderes Aussehen. Mit handgreiflichen Beweisen kommt uns Kossinna bei der Darstellung der völligen Selbständigkeit der steinzeitlichen Keramik und der Steinwaffen Mittel- und Nordeuropas, wo damals Nordindogermanen wohnten. Die Gefäße zeigen eine typologisch lückenlose Entwicklung, von fremdem Einfluß ist nirgends etwas zu merken. Wirklich überraschend sind die Erzeugnisse der bronzezeitlichen Metall¬ industrie Germaniens, denen in dieser Periode (1700 bis 1400 v. Chr.) in ganz Süddeutsch¬ land, der Schweiz, Frankreich, England, Italien, Osterreich und Ungarn nichts ähn¬ liches an die Seite zu stellen ist. Ohne den Abbildungen der Schwertgriffe, Gürtelplatten, des Frauenschmucks usw. läßt sich kein Bild von der erstaunlichen Kulturhöhe der germa¬ nischen Bronzezeit geben, wir müssen uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/639>, abgerufen am 01.07.2024.