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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

holt. Türme und Häuser brechen im Welt¬
untergang zusammen; Abgründe öffnen sich
den Flüchtigen entgegen. -- Eine Erklärung
zu diesen: Bilde geben die in gotischen Ma¬
juskeln aufgezeichneten Worte, die vielleicht
einem alten Sterbegevet entnommen, den
Leser ernähren, daß das Ende ihn nicht in
derTodessünde überrasche, (clienon ti Zinn^Ks
in mortsle peccato.) Ein nicht weniger schwer¬
mutvolles Gemälde schließt sich an. Es ist
eine Gruppe von Bettlern, wie man sie oft
vor Kirchentüren sieht: ein blinder Kahlkopf,
eine verkrüppelte Alte, die mit beiden Händen
ihre Krücke umklammert, ein Ladiner, der sich
mühsam aufrecht hält -- alle erbitten in Furcht
und Sehnsucht, voll Schauer, Schmerz und
Erregung das letzte Almosen. "Oe vier, el
a äare omai l'ultima cera", o komm, uns
das letzte Mahl zu geben. -- An den Armen
geht der Vernichter des Lebens vorüber; aber
eine Gruppe von Toten, unter ihnen ein
Kardinal -- am roten Barett erkennbar, zeigt,
wie er die Vornehmen seinem Willen unter¬
wirft.

Um einen Begriff von dem ganzen Fresko
zu geben, sei erwähnt, daß nach dein Bericht
Vasaris,Orcagna "in Santa Croce von Florenz
die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies
mit unzähligen Figuren malte." Es wurden
ähnliche Borgänge wie in Visa dargestellt,
"mit Ausnahme der Legende, wie San Macario
den drei Königen das menschliche Elend zeigt
und des Lebens der Eremiten, die Gott auf
ihrem Berge dienen." Aus der Fülle der
Gestalten erwähnt Vasari den Papst Clemens
den Sechsten, den Arzt Dino del Garbo, den
Zauberer Cenco d'AScoli, einen Diener der
Kommune, Guardi, der von einem Teufel
geschleift wird und in seiner Begleitung den
Notar und den Richter, die den Andrea einst
verurteilt hatten. So rächte sich der Meister,
indem er seine Feinde in die Hölle versetzte
und nur seinen Freunden den Himmel er¬
schloß. -- Im übrigen sei noch bemerkt,
daß auch Ghiberti wie Giovambattista Gelli
von Orcagnas Fresken in Santa Croce be¬
richten.

Als Vasari seinen scheinbar so liebevollen
Bericht über das von ihm so geschätzte Werk
Orcagnas l.1663) veröffentlichte, hatte er auf

[Spaltenumbruch]

Wunsch des Großherzogs bereits die Zeich¬
nungen für vierzehn Altäre, deren Bilder
natürlich das Fresko verdecken mußten, ent¬
worfen, und so Cosimos des Ersten Willen,
das Fresko übertünchen zu lassen, gutgeheißen.
Ani so humorvoller erscheint es, daß der ruch¬
lose Zerstörer des Werks diesem ein Denkmal
setzen mußte.

Unsere bisherigen Erörterungen lassen noch
eine letzte Frage offen: die nach dem Autor
der Fresken im Pisaner Camposanto. In der
zweiten Ausgabe seiner Vile schreibt Vasari
allerdings diese Fresken gleichfalls dem Orcagna
zu. Rum ist aber eine auffallende, grund¬
sätzliche Verschiedenheit in der Komposition
und Zeichnung beider Werke vorhanden. Ganz
abgesehen davon, daß daS Fresko von Santa
Croce von der Zeit deS Ghiberti ab dem
Andrea Orcagna urkundlich zugeschrieben wird,
zeigt es auch alle Merkmale dieses Malers.
Der Schmerz erscheint verhalten, nur in den
Mienen der Unglücklichen ausgedrückt; trotz
aller geschilderten Schrecknisse wird jede Über¬
treibung vermieden. Der Anonymus in Pisa
dagegen wirkt durchaus theatralisch, seine Ge¬
stalten erscheinen vor Verzweiflung verzerrt
und streifen fast die Karikatur. So scheint
uns die Annahme Venturis berechtigt, die
Pisaner Fresken seien nach dem Vorbilde der
Florentiner im Jahre 1377, also neun Jahre
nach Orcagnas Tod entstanden. Im übrigen
fällt die Bemerkung Vasaris ins Gewicht, der
"berühmte, schöne Reitertrupp der Fürsten",
vom Pisaner Camposante allgemein bekannt,
sei auf dem Florentiner Fresko nicht vor¬
handen gewesen. Dies wird auch durch den
Rahmen mit den geometrischen Figuren be¬
wiesen, der das Bild abschließt und der
Bettlergruppe gewissermaßen als Stütze dient.
Hätte nun Orcagna die Pisaner Fresken nach¬
geahmt, so würde er sicher ein so wirkungs¬
volles Element nicht übersehen haben; aber
Orcagna war nicht ein Künstler, der die
Werke anderer in kleinerem Maßstabe wieder¬
holt oder sich in willkürlichen Fortlassungen
und Hinzufügungen gefallen hätte. So muß
vorderhand die Frage nach dem Autor der
Pisaner Fresken ungelöst bleiben, wenn nicht
vielleicht ein weiterer Fund neue Folgerungen
Max Kirschstein zuläßt.

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Grenzboten III 191280
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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holt. Türme und Häuser brechen im Welt¬
untergang zusammen; Abgründe öffnen sich
den Flüchtigen entgegen. — Eine Erklärung
zu diesen: Bilde geben die in gotischen Ma¬
juskeln aufgezeichneten Worte, die vielleicht
einem alten Sterbegevet entnommen, den
Leser ernähren, daß das Ende ihn nicht in
derTodessünde überrasche, (clienon ti Zinn^Ks
in mortsle peccato.) Ein nicht weniger schwer¬
mutvolles Gemälde schließt sich an. Es ist
eine Gruppe von Bettlern, wie man sie oft
vor Kirchentüren sieht: ein blinder Kahlkopf,
eine verkrüppelte Alte, die mit beiden Händen
ihre Krücke umklammert, ein Ladiner, der sich
mühsam aufrecht hält — alle erbitten in Furcht
und Sehnsucht, voll Schauer, Schmerz und
Erregung das letzte Almosen. „Oe vier, el
a äare omai l'ultima cera", o komm, uns
das letzte Mahl zu geben. — An den Armen
geht der Vernichter des Lebens vorüber; aber
eine Gruppe von Toten, unter ihnen ein
Kardinal — am roten Barett erkennbar, zeigt,
wie er die Vornehmen seinem Willen unter¬
wirft.

Um einen Begriff von dem ganzen Fresko
zu geben, sei erwähnt, daß nach dein Bericht
Vasaris,Orcagna „in Santa Croce von Florenz
die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies
mit unzähligen Figuren malte." Es wurden
ähnliche Borgänge wie in Visa dargestellt,
„mit Ausnahme der Legende, wie San Macario
den drei Königen das menschliche Elend zeigt
und des Lebens der Eremiten, die Gott auf
ihrem Berge dienen." Aus der Fülle der
Gestalten erwähnt Vasari den Papst Clemens
den Sechsten, den Arzt Dino del Garbo, den
Zauberer Cenco d'AScoli, einen Diener der
Kommune, Guardi, der von einem Teufel
geschleift wird und in seiner Begleitung den
Notar und den Richter, die den Andrea einst
verurteilt hatten. So rächte sich der Meister,
indem er seine Feinde in die Hölle versetzte
und nur seinen Freunden den Himmel er¬
schloß. — Im übrigen sei noch bemerkt,
daß auch Ghiberti wie Giovambattista Gelli
von Orcagnas Fresken in Santa Croce be¬
richten.

Als Vasari seinen scheinbar so liebevollen
Bericht über das von ihm so geschätzte Werk
Orcagnas l.1663) veröffentlichte, hatte er auf

[Spaltenumbruch]

Wunsch des Großherzogs bereits die Zeich¬
nungen für vierzehn Altäre, deren Bilder
natürlich das Fresko verdecken mußten, ent¬
worfen, und so Cosimos des Ersten Willen,
das Fresko übertünchen zu lassen, gutgeheißen.
Ani so humorvoller erscheint es, daß der ruch¬
lose Zerstörer des Werks diesem ein Denkmal
setzen mußte.

Unsere bisherigen Erörterungen lassen noch
eine letzte Frage offen: die nach dem Autor
der Fresken im Pisaner Camposanto. In der
zweiten Ausgabe seiner Vile schreibt Vasari
allerdings diese Fresken gleichfalls dem Orcagna
zu. Rum ist aber eine auffallende, grund¬
sätzliche Verschiedenheit in der Komposition
und Zeichnung beider Werke vorhanden. Ganz
abgesehen davon, daß daS Fresko von Santa
Croce von der Zeit deS Ghiberti ab dem
Andrea Orcagna urkundlich zugeschrieben wird,
zeigt es auch alle Merkmale dieses Malers.
Der Schmerz erscheint verhalten, nur in den
Mienen der Unglücklichen ausgedrückt; trotz
aller geschilderten Schrecknisse wird jede Über¬
treibung vermieden. Der Anonymus in Pisa
dagegen wirkt durchaus theatralisch, seine Ge¬
stalten erscheinen vor Verzweiflung verzerrt
und streifen fast die Karikatur. So scheint
uns die Annahme Venturis berechtigt, die
Pisaner Fresken seien nach dem Vorbilde der
Florentiner im Jahre 1377, also neun Jahre
nach Orcagnas Tod entstanden. Im übrigen
fällt die Bemerkung Vasaris ins Gewicht, der
„berühmte, schöne Reitertrupp der Fürsten",
vom Pisaner Camposante allgemein bekannt,
sei auf dem Florentiner Fresko nicht vor¬
handen gewesen. Dies wird auch durch den
Rahmen mit den geometrischen Figuren be¬
wiesen, der das Bild abschließt und der
Bettlergruppe gewissermaßen als Stütze dient.
Hätte nun Orcagna die Pisaner Fresken nach¬
geahmt, so würde er sicher ein so wirkungs¬
volles Element nicht übersehen haben; aber
Orcagna war nicht ein Künstler, der die
Werke anderer in kleinerem Maßstabe wieder¬
holt oder sich in willkürlichen Fortlassungen
und Hinzufügungen gefallen hätte. So muß
vorderhand die Frage nach dem Autor der
Pisaner Fresken ungelöst bleiben, wenn nicht
vielleicht ein weiterer Fund neue Folgerungen
Max Kirschstein zuläßt.

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Grenzboten III 191280
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/641>, abgerufen am 01.07.2024.