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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Aindersprache und innere Wahrhaftigkeit
Rreisschulinspektor Dr. Raub von

as Steckenpferd aller pädagogischen Tugendwächter ist der Klapper¬
storch. Für was alles trägt dieser unglückselige Märchenvogel nicht
die Verantwortung! Für die Lügenhaftigkeit der Jugend und ihre
sexuelle Schmutzgesinnung, für ihren frühreifen Skeptizismus und
ihre Respektlosigkeit; denn diese böswillige Vertrauenstäuschung der
Eltern lehrt ja die Kinder lügen, wie die Erzieher lügen, fälscht ja die natürliche
Unschuld des Geschlechtsempfindens durch den Lüsternheitsreiz der Heimlichkeit,
zwingt ja die Kleinen, alle Aussprüche Erwachsener mißtrauisch nachzuprüfen,
verleiht ja dem Heranwachsenden das Gefühl, klüger und ehrlicher zu sein als
seine berufenen Führer.

O wehe dieser Ausgeburt des leibhaftigen pädagogischen fff Gottseibeiuns!
Salzmanns Krebsbüchlein hätte füglich ungeschrieben bleiben können; denn in
diesem einen Rattenkönig von pädagogischen Todsünden allein haben wir den Grund
für alle Verderbtheit des kommenden Geschlechts. Wunder über Wunder, daß bei
dieser gewaltsamen Mlßerziehung unser Vaterland nicht längst ein einziges riesiges
Verbrecherasyl ist! Darum Kampf dem Klapperstorch! Und wir werden die Reform¬
erziehung und als Resultat das Reformkind haben.

Das Reformkind wird nicht zur Lügenhaftigkeit neigen und die Sprache in
naiver Dreistigkeit als Mittel, Zwecke zu erreichen, gebrauchen; das Reformkind
wird nicht, wenn das neue und fremde Gefühl der Geschlechtlichkeit über es herein¬
bricht, damit zu spielen geneigt sein; das Reformkind wird nicht im Alter der geil
aufschießenden Körper- und Verstandeskräfte, in dem beliebten Rüpelalter, an allen
Überlieferungen zu zweifeln und an allen Autoritäten zu rütteln geneigt sein.
Das Reformkind, fürchte ich, wird ein Homunkulus sein, dem vor lauter Tugend¬
haftigkeit die Kraft zur Sünde fehlt. Oder sollte die Gefahr trotz Reformpädagogik
nicht so groß sein? Sollte nicht der Klappersiorch allein und was seiner Art ist
in der Erziehung von ehedem die Schuld an all den aufgezählten Sünden tragen,
sondern die menschliche Natur des Kindes, von deren "natürlicher Güte" der alte
Menschenkenner von Sanssouci zu dem großen Philanthropen sagte: "Salzmann,
Er kennt die Kanaille nicht?"

Ernsthaft gesprochen: ich habe es nicht etwa darauf abgesehen, eine Ehren-
rettung des Klapperstorchs zu schreiben, nicht einmal eine Ehrenrettung unserer
Eltern -- sie haben das nicht nötig. Vielmehr möchte ich nur von diesem viel
gebrauchten und viel mißbrauchten pädagogischen Musterbeispiel aus einem Fun¬
damentalirrtum unserer heutigen Erziehungsrichtung zu Leibe.




Aindersprache und innere Wahrhaftigkeit
Rreisschulinspektor Dr. Raub von

as Steckenpferd aller pädagogischen Tugendwächter ist der Klapper¬
storch. Für was alles trägt dieser unglückselige Märchenvogel nicht
die Verantwortung! Für die Lügenhaftigkeit der Jugend und ihre
sexuelle Schmutzgesinnung, für ihren frühreifen Skeptizismus und
ihre Respektlosigkeit; denn diese böswillige Vertrauenstäuschung der
Eltern lehrt ja die Kinder lügen, wie die Erzieher lügen, fälscht ja die natürliche
Unschuld des Geschlechtsempfindens durch den Lüsternheitsreiz der Heimlichkeit,
zwingt ja die Kleinen, alle Aussprüche Erwachsener mißtrauisch nachzuprüfen,
verleiht ja dem Heranwachsenden das Gefühl, klüger und ehrlicher zu sein als
seine berufenen Führer.

O wehe dieser Ausgeburt des leibhaftigen pädagogischen fff Gottseibeiuns!
Salzmanns Krebsbüchlein hätte füglich ungeschrieben bleiben können; denn in
diesem einen Rattenkönig von pädagogischen Todsünden allein haben wir den Grund
für alle Verderbtheit des kommenden Geschlechts. Wunder über Wunder, daß bei
dieser gewaltsamen Mlßerziehung unser Vaterland nicht längst ein einziges riesiges
Verbrecherasyl ist! Darum Kampf dem Klapperstorch! Und wir werden die Reform¬
erziehung und als Resultat das Reformkind haben.

Das Reformkind wird nicht zur Lügenhaftigkeit neigen und die Sprache in
naiver Dreistigkeit als Mittel, Zwecke zu erreichen, gebrauchen; das Reformkind
wird nicht, wenn das neue und fremde Gefühl der Geschlechtlichkeit über es herein¬
bricht, damit zu spielen geneigt sein; das Reformkind wird nicht im Alter der geil
aufschießenden Körper- und Verstandeskräfte, in dem beliebten Rüpelalter, an allen
Überlieferungen zu zweifeln und an allen Autoritäten zu rütteln geneigt sein.
Das Reformkind, fürchte ich, wird ein Homunkulus sein, dem vor lauter Tugend¬
haftigkeit die Kraft zur Sünde fehlt. Oder sollte die Gefahr trotz Reformpädagogik
nicht so groß sein? Sollte nicht der Klappersiorch allein und was seiner Art ist
in der Erziehung von ehedem die Schuld an all den aufgezählten Sünden tragen,
sondern die menschliche Natur des Kindes, von deren „natürlicher Güte" der alte
Menschenkenner von Sanssouci zu dem großen Philanthropen sagte: „Salzmann,
Er kennt die Kanaille nicht?"

Ernsthaft gesprochen: ich habe es nicht etwa darauf abgesehen, eine Ehren-
rettung des Klapperstorchs zu schreiben, nicht einmal eine Ehrenrettung unserer
Eltern — sie haben das nicht nötig. Vielmehr möchte ich nur von diesem viel
gebrauchten und viel mißbrauchten pädagogischen Musterbeispiel aus einem Fun¬
damentalirrtum unserer heutigen Erziehungsrichtung zu Leibe.


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[0482] [Abbildung] Aindersprache und innere Wahrhaftigkeit Rreisschulinspektor Dr. Raub von as Steckenpferd aller pädagogischen Tugendwächter ist der Klapper¬ storch. Für was alles trägt dieser unglückselige Märchenvogel nicht die Verantwortung! Für die Lügenhaftigkeit der Jugend und ihre sexuelle Schmutzgesinnung, für ihren frühreifen Skeptizismus und ihre Respektlosigkeit; denn diese böswillige Vertrauenstäuschung der Eltern lehrt ja die Kinder lügen, wie die Erzieher lügen, fälscht ja die natürliche Unschuld des Geschlechtsempfindens durch den Lüsternheitsreiz der Heimlichkeit, zwingt ja die Kleinen, alle Aussprüche Erwachsener mißtrauisch nachzuprüfen, verleiht ja dem Heranwachsenden das Gefühl, klüger und ehrlicher zu sein als seine berufenen Führer. O wehe dieser Ausgeburt des leibhaftigen pädagogischen fff Gottseibeiuns! Salzmanns Krebsbüchlein hätte füglich ungeschrieben bleiben können; denn in diesem einen Rattenkönig von pädagogischen Todsünden allein haben wir den Grund für alle Verderbtheit des kommenden Geschlechts. Wunder über Wunder, daß bei dieser gewaltsamen Mlßerziehung unser Vaterland nicht längst ein einziges riesiges Verbrecherasyl ist! Darum Kampf dem Klapperstorch! Und wir werden die Reform¬ erziehung und als Resultat das Reformkind haben. Das Reformkind wird nicht zur Lügenhaftigkeit neigen und die Sprache in naiver Dreistigkeit als Mittel, Zwecke zu erreichen, gebrauchen; das Reformkind wird nicht, wenn das neue und fremde Gefühl der Geschlechtlichkeit über es herein¬ bricht, damit zu spielen geneigt sein; das Reformkind wird nicht im Alter der geil aufschießenden Körper- und Verstandeskräfte, in dem beliebten Rüpelalter, an allen Überlieferungen zu zweifeln und an allen Autoritäten zu rütteln geneigt sein. Das Reformkind, fürchte ich, wird ein Homunkulus sein, dem vor lauter Tugend¬ haftigkeit die Kraft zur Sünde fehlt. Oder sollte die Gefahr trotz Reformpädagogik nicht so groß sein? Sollte nicht der Klappersiorch allein und was seiner Art ist in der Erziehung von ehedem die Schuld an all den aufgezählten Sünden tragen, sondern die menschliche Natur des Kindes, von deren „natürlicher Güte" der alte Menschenkenner von Sanssouci zu dem großen Philanthropen sagte: „Salzmann, Er kennt die Kanaille nicht?" Ernsthaft gesprochen: ich habe es nicht etwa darauf abgesehen, eine Ehren- rettung des Klapperstorchs zu schreiben, nicht einmal eine Ehrenrettung unserer Eltern — sie haben das nicht nötig. Vielmehr möchte ich nur von diesem viel gebrauchten und viel mißbrauchten pädagogischen Musterbeispiel aus einem Fun¬ damentalirrtum unserer heutigen Erziehungsrichtung zu Leibe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/482>, abgerufen am 03.07.2024.