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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Karl Salzor

Im Hofe ist es still.

Der Geselle hat das Pferd bereits gefüttert und sitzt nun auf einem um-
gestülpten Korbe in einer schattigen Ecke. Er hat den Kopf Wider die Wand
gelehnt, den Hut tief ins Gesicht gerückt und rührt sich auch nicht, als er durch
das Geflecht des Strohhutes die Geschwister kommen sieht. Er wird gehen müssen;
was braucht ihm da viel an dem ganzen Kram zu liegen?

Karl trägt seine Bürde durch die offenstehende Haustür. Als die Tante, die
in der Küche sitzt, Schritte hört, sieht sie nach, wer es sei. Karl ruft mit tiefem
Weh in der Stimme:

"Lied, lieb Tante!"

Und diese:

"Jeszmajajvsepp, was ein Unglück, ihr lieben Kinder!"

Als Sophie die Stimme ihrer Tante hört, springt sie mit einem Ruck von
Karls Arm und macht wieder ihre tollen Worte und Gebärden wie auf der Gasse.
Die Tante, in deren Gesicht keine Farbe ist, richtet einen starren fragenden Blick
auf den Neffen. Der antwortet:

"Sie ist irr worden, Tante, vielleicht hat sie auch nur Fieber. Wir schaffen
sie ins Bett!"

Er packt die Kranke mit festem Griff und führt sie unter dem Beistand seiner
Tante in das neben der Küche liegende Zimmer der beiden Frauen. Während
Karl das Bett bereitet, entkleidet die Tante das Mädchen und setzt sich dann zu
ihm auf den Vettrand, der Kranken gütig zusprechend wie einem unpäßlichen
kleinen Kinde. Es dauert lange, bis sie ein wenig beruhigt ist. Nur mit ihrem
immer unheimlicher werdenden Lachen, das die beiden Zuhörer selbst in eine
große Erregung versetzt, hört sie nicht auf. Sie ist wie von einem Lachkrcnnpf
befallen.

Als Karl seine Tante nach den Einzelheiten des Unglücks auszufragen beginnt,
macht Sophie Anstalten, wieder aus dem Bette zu springen und gebärdet sich ganz
rasend. Tante Seelchen verweist ihm das Fragen:

"Jeßgott, lieber Bub, frag "weil net; du siehst ja, wie das Märe gleich
zu toben anfängt. Red eben garnix mehr davon, nachher will ich dir ja sagen,
was ich weiß!"

Und sie beruhigt die Kranke wieder.

Nach einer Weile sagt sie zu Karl, der vor Ungeduld vergeht, genau zu
wissen, was vorgefallen sei, mit besorgtem Gesichte:

"Man kann sie net allein lassen; 's wird gut sein, Karl, wenn du nauf ins
Schloß gehst und holst eine Schwester. Ich kann doch net am Bett hocken bleiben,
's ist doch so viel Arbeit jetzert!"

"Ja, Tante Seelchen, ich geh!"

Der Bursche sieht prüfend an sich hinunter:

"Tante, werd ich denn so zu den Schwestern gehen können, oder soll ich
mein ander Jäckchen und die Sonntagsstiefel anziehen?"

"Ach, lieber Bub, geh nur so, wie du bist; wer guckt denn heut darnach?!"

Karl geht hinaus. Im Hausgang bleibt er stehen und sinnt eine kleine
Weile. Soll er die Stiege hinauf in des Vaters Schlafzimmer gehen und selber


Karl Salzor

Im Hofe ist es still.

Der Geselle hat das Pferd bereits gefüttert und sitzt nun auf einem um-
gestülpten Korbe in einer schattigen Ecke. Er hat den Kopf Wider die Wand
gelehnt, den Hut tief ins Gesicht gerückt und rührt sich auch nicht, als er durch
das Geflecht des Strohhutes die Geschwister kommen sieht. Er wird gehen müssen;
was braucht ihm da viel an dem ganzen Kram zu liegen?

Karl trägt seine Bürde durch die offenstehende Haustür. Als die Tante, die
in der Küche sitzt, Schritte hört, sieht sie nach, wer es sei. Karl ruft mit tiefem
Weh in der Stimme:

„Lied, lieb Tante!"

Und diese:

„Jeszmajajvsepp, was ein Unglück, ihr lieben Kinder!"

Als Sophie die Stimme ihrer Tante hört, springt sie mit einem Ruck von
Karls Arm und macht wieder ihre tollen Worte und Gebärden wie auf der Gasse.
Die Tante, in deren Gesicht keine Farbe ist, richtet einen starren fragenden Blick
auf den Neffen. Der antwortet:

„Sie ist irr worden, Tante, vielleicht hat sie auch nur Fieber. Wir schaffen
sie ins Bett!"

Er packt die Kranke mit festem Griff und führt sie unter dem Beistand seiner
Tante in das neben der Küche liegende Zimmer der beiden Frauen. Während
Karl das Bett bereitet, entkleidet die Tante das Mädchen und setzt sich dann zu
ihm auf den Vettrand, der Kranken gütig zusprechend wie einem unpäßlichen
kleinen Kinde. Es dauert lange, bis sie ein wenig beruhigt ist. Nur mit ihrem
immer unheimlicher werdenden Lachen, das die beiden Zuhörer selbst in eine
große Erregung versetzt, hört sie nicht auf. Sie ist wie von einem Lachkrcnnpf
befallen.

Als Karl seine Tante nach den Einzelheiten des Unglücks auszufragen beginnt,
macht Sophie Anstalten, wieder aus dem Bette zu springen und gebärdet sich ganz
rasend. Tante Seelchen verweist ihm das Fragen:

„Jeßgott, lieber Bub, frag «weil net; du siehst ja, wie das Märe gleich
zu toben anfängt. Red eben garnix mehr davon, nachher will ich dir ja sagen,
was ich weiß!"

Und sie beruhigt die Kranke wieder.

Nach einer Weile sagt sie zu Karl, der vor Ungeduld vergeht, genau zu
wissen, was vorgefallen sei, mit besorgtem Gesichte:

„Man kann sie net allein lassen; 's wird gut sein, Karl, wenn du nauf ins
Schloß gehst und holst eine Schwester. Ich kann doch net am Bett hocken bleiben,
's ist doch so viel Arbeit jetzert!"

„Ja, Tante Seelchen, ich geh!"

Der Bursche sieht prüfend an sich hinunter:

„Tante, werd ich denn so zu den Schwestern gehen können, oder soll ich
mein ander Jäckchen und die Sonntagsstiefel anziehen?"

„Ach, lieber Bub, geh nur so, wie du bist; wer guckt denn heut darnach?!"

Karl geht hinaus. Im Hausgang bleibt er stehen und sinnt eine kleine
Weile. Soll er die Stiege hinauf in des Vaters Schlafzimmer gehen und selber


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[0479] Karl Salzor Im Hofe ist es still. Der Geselle hat das Pferd bereits gefüttert und sitzt nun auf einem um- gestülpten Korbe in einer schattigen Ecke. Er hat den Kopf Wider die Wand gelehnt, den Hut tief ins Gesicht gerückt und rührt sich auch nicht, als er durch das Geflecht des Strohhutes die Geschwister kommen sieht. Er wird gehen müssen; was braucht ihm da viel an dem ganzen Kram zu liegen? Karl trägt seine Bürde durch die offenstehende Haustür. Als die Tante, die in der Küche sitzt, Schritte hört, sieht sie nach, wer es sei. Karl ruft mit tiefem Weh in der Stimme: „Lied, lieb Tante!" Und diese: „Jeszmajajvsepp, was ein Unglück, ihr lieben Kinder!" Als Sophie die Stimme ihrer Tante hört, springt sie mit einem Ruck von Karls Arm und macht wieder ihre tollen Worte und Gebärden wie auf der Gasse. Die Tante, in deren Gesicht keine Farbe ist, richtet einen starren fragenden Blick auf den Neffen. Der antwortet: „Sie ist irr worden, Tante, vielleicht hat sie auch nur Fieber. Wir schaffen sie ins Bett!" Er packt die Kranke mit festem Griff und führt sie unter dem Beistand seiner Tante in das neben der Küche liegende Zimmer der beiden Frauen. Während Karl das Bett bereitet, entkleidet die Tante das Mädchen und setzt sich dann zu ihm auf den Vettrand, der Kranken gütig zusprechend wie einem unpäßlichen kleinen Kinde. Es dauert lange, bis sie ein wenig beruhigt ist. Nur mit ihrem immer unheimlicher werdenden Lachen, das die beiden Zuhörer selbst in eine große Erregung versetzt, hört sie nicht auf. Sie ist wie von einem Lachkrcnnpf befallen. Als Karl seine Tante nach den Einzelheiten des Unglücks auszufragen beginnt, macht Sophie Anstalten, wieder aus dem Bette zu springen und gebärdet sich ganz rasend. Tante Seelchen verweist ihm das Fragen: „Jeßgott, lieber Bub, frag «weil net; du siehst ja, wie das Märe gleich zu toben anfängt. Red eben garnix mehr davon, nachher will ich dir ja sagen, was ich weiß!" Und sie beruhigt die Kranke wieder. Nach einer Weile sagt sie zu Karl, der vor Ungeduld vergeht, genau zu wissen, was vorgefallen sei, mit besorgtem Gesichte: „Man kann sie net allein lassen; 's wird gut sein, Karl, wenn du nauf ins Schloß gehst und holst eine Schwester. Ich kann doch net am Bett hocken bleiben, 's ist doch so viel Arbeit jetzert!" „Ja, Tante Seelchen, ich geh!" Der Bursche sieht prüfend an sich hinunter: „Tante, werd ich denn so zu den Schwestern gehen können, oder soll ich mein ander Jäckchen und die Sonntagsstiefel anziehen?" „Ach, lieber Bub, geh nur so, wie du bist; wer guckt denn heut darnach?!" Karl geht hinaus. Im Hausgang bleibt er stehen und sinnt eine kleine Weile. Soll er die Stiege hinauf in des Vaters Schlafzimmer gehen und selber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/479>, abgerufen am 29.06.2024.