Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.Aus Prozessen des Jahres Störenfried zur Ruhe und Raison zu bringen -- durch großmütige Darreichung Die Besorgnis bestand nur in der einen Richtung: will die Türkei ihrerseits Aus Prozessen des Jahres Dr. Paul Ernst von in Frühling des Jahres 1911 wurde ein Kindermißhandlungsprozeß Aus Prozessen des Jahres Störenfried zur Ruhe und Raison zu bringen — durch großmütige Darreichung Die Besorgnis bestand nur in der einen Richtung: will die Türkei ihrerseits Aus Prozessen des Jahres Dr. Paul Ernst von in Frühling des Jahres 1911 wurde ein Kindermißhandlungsprozeß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0458" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322205"/> <fw type="header" place="top"> Aus Prozessen des Jahres</fw><lb/> <p xml:id="ID_1916" prev="#ID_1915"> Störenfried zur Ruhe und Raison zu bringen — durch großmütige Darreichung<lb/> des alten Gnadengehaltes' aber jeder Staatsmann fürchtet sich vor der Mißdeutung<lb/> eines solchen Aktes durch den künftigen Nachfolger. So haben die Mächte in<lb/> Cettinje intervenieren müssen und zwar mit einmütiger Energie, einschließlich<lb/> Rußland, das angesichts seiner ostasiatischen Sorgen leicht sich in Baltischport zu<lb/> einer Friedenspolitik auf dem Balkan hat verpflichten können. Das weiß auch<lb/> der Zar von Bulgarien, dessen Größe in seiner fünfundzwanzigjährigen Regierung<lb/> darin sich bewährte, immer den richtigen Augenblick an der Stirnlocke zu fassen<lb/> und festzuhalten; er weiß, daß „sein Moment" jetzt nicht gekommen ist, und er<lb/> reist ruhig in die Ferien, unbekümmert um die mazedonischen Meetings.</p><lb/> <p xml:id="ID_1917"> Die Besorgnis bestand nur in der einen Richtung: will die Türkei ihrerseits<lb/> zur Lösung der inneren Krisis das gesamte Osmanentum gegen einen äußeren<lb/> Feind führen? Der Italiener stellt sich nicht. Also gegen Montenegro? Ein türkisch ¬<lb/> montenegrinischer Krieg hätte den Bulgaren, Serben und Griechen zur Schicksals¬<lb/> stunde gerufen — und Österreich und Nußland wären interessiert worden. Die<lb/> Staatskunst des neuen Kabinettes in der Türkei verzichtet aber auf solche wag¬<lb/> halsige Abenteuer und zieht es vor, einen ehrlichen Frieden zu wahren, um endlich<lb/> Zeit, Ruhe und Kraft zu finden für eine aufrichtige Ausgestaltung des Konstitution a°<lb/> lismus der neuen Türkei.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Aus Prozessen des Jahres<lb/><note type="byline"> Dr. Paul Ernst</note> von</head><lb/> <p xml:id="ID_1918"> in Frühling des Jahres 1911 wurde ein Kindermißhandlungsprozeß<lb/> in Berlin verhandelt, der typisch ist. Nichts kann uns deutlicher<lb/> den Abgrund zeigen, der unter unserer Kultur sich auftut, wie diese<lb/> Kindermißhandlungen. Unzählige Jahrtausende haben die Menschen<lb/> gerungen, sich aus der Gedankenlosigkeit und Roheit des Tieres<lb/> zu befreien: schon bei dem ersten Aufleuchten der Geschichte, in den alten Zeiten<lb/> Babylons finden wir ein hohes Sittlichkeitsbewußtsein bei den vorzüglichsten<lb/> Menschen erreicht, und die ganze bekannte Geschichte der Menschheit scheint nur<lb/> den Zweck zu haben, dieses Sittlichkeitsbewußtsein in immer größeren Kreisen von<lb/> Völkern zu verbreiten, indem es gleichzeitig immer rationaler und geistiger gestaltet<lb/> wird. Da erleben wir, mitten in den Hauptstädten unserer Kultur, Straße an<lb/> Straße neben der selbstlosen Arbeit des Gelehrten, der Hingebung des Künstlers,<lb/> der Begeisterung des Gottsuchers, der Hoffnnngsseligkeit des Menschheitsbeglückers<lb/> Vorgänge, wie sie selbst unter den höheren Tieren nicht beobachtet werden. Alles,<lb/> was uns menschlich am Menschen erscheint, macht solche Vorgänge unerklärlich,<lb/> dennoch sind sie nicht durchaus selten.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0458]
Aus Prozessen des Jahres
Störenfried zur Ruhe und Raison zu bringen — durch großmütige Darreichung
des alten Gnadengehaltes' aber jeder Staatsmann fürchtet sich vor der Mißdeutung
eines solchen Aktes durch den künftigen Nachfolger. So haben die Mächte in
Cettinje intervenieren müssen und zwar mit einmütiger Energie, einschließlich
Rußland, das angesichts seiner ostasiatischen Sorgen leicht sich in Baltischport zu
einer Friedenspolitik auf dem Balkan hat verpflichten können. Das weiß auch
der Zar von Bulgarien, dessen Größe in seiner fünfundzwanzigjährigen Regierung
darin sich bewährte, immer den richtigen Augenblick an der Stirnlocke zu fassen
und festzuhalten; er weiß, daß „sein Moment" jetzt nicht gekommen ist, und er
reist ruhig in die Ferien, unbekümmert um die mazedonischen Meetings.
Die Besorgnis bestand nur in der einen Richtung: will die Türkei ihrerseits
zur Lösung der inneren Krisis das gesamte Osmanentum gegen einen äußeren
Feind führen? Der Italiener stellt sich nicht. Also gegen Montenegro? Ein türkisch ¬
montenegrinischer Krieg hätte den Bulgaren, Serben und Griechen zur Schicksals¬
stunde gerufen — und Österreich und Nußland wären interessiert worden. Die
Staatskunst des neuen Kabinettes in der Türkei verzichtet aber auf solche wag¬
halsige Abenteuer und zieht es vor, einen ehrlichen Frieden zu wahren, um endlich
Zeit, Ruhe und Kraft zu finden für eine aufrichtige Ausgestaltung des Konstitution a°
lismus der neuen Türkei.
Aus Prozessen des Jahres
Dr. Paul Ernst von
in Frühling des Jahres 1911 wurde ein Kindermißhandlungsprozeß
in Berlin verhandelt, der typisch ist. Nichts kann uns deutlicher
den Abgrund zeigen, der unter unserer Kultur sich auftut, wie diese
Kindermißhandlungen. Unzählige Jahrtausende haben die Menschen
gerungen, sich aus der Gedankenlosigkeit und Roheit des Tieres
zu befreien: schon bei dem ersten Aufleuchten der Geschichte, in den alten Zeiten
Babylons finden wir ein hohes Sittlichkeitsbewußtsein bei den vorzüglichsten
Menschen erreicht, und die ganze bekannte Geschichte der Menschheit scheint nur
den Zweck zu haben, dieses Sittlichkeitsbewußtsein in immer größeren Kreisen von
Völkern zu verbreiten, indem es gleichzeitig immer rationaler und geistiger gestaltet
wird. Da erleben wir, mitten in den Hauptstädten unserer Kultur, Straße an
Straße neben der selbstlosen Arbeit des Gelehrten, der Hingebung des Künstlers,
der Begeisterung des Gottsuchers, der Hoffnnngsseligkeit des Menschheitsbeglückers
Vorgänge, wie sie selbst unter den höheren Tieren nicht beobachtet werden. Alles,
was uns menschlich am Menschen erscheint, macht solche Vorgänge unerklärlich,
dennoch sind sie nicht durchaus selten.
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