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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen und Genießen

unterliegt es auch der Veränderung. Vielleicht war es nötig, um der Arbeiter¬
schaft und dem Kleinbürgertum aus dem Sumpf zu helfen, in den sie durch
den jungen Jndustrialismus geraten waren. Aber wenn die Sozialdemokratie
es zum Vehikel benutzen will, um die Lohnarbeiterschaft zur herrschenden Klasse
zu machen, zum Mittel, mit dem sie den Staat erobern will, ein Ziel, das man
als Unbefangener doch wirklich nicht wünschen kann, dann ist es tatsächlich Zeit,
darüber nachzudenken, ob dieses Wahlrecht noch den veränderten Verhältnissen
entspricht, ob man es noch weiter ausbauen und auf die Einzellandtage
noch übertragen soll oder nicht*).




schaffen und Genießen
Die Tendenz zur reinen Konsumtion und ihre Bekämpfung
Professor Dr. Alfred Vierkandt- vonII.

Wir beenden damit unseren Rundgang. Der Sinn des Ganzen ist klar: der
moderne Mensch wünscht, so können wir es in einem Bilde ausdrücken, wenn er
den Mühen der Berufsarbeit den Rücken kehrt, sich auf ein Ruhesofa zu legen und die
Güter des Lebens gleich gebratenen Tauben sich von selbst in den Mund fliegen
lassen. Die allgemeinen Ursachen dieser ganzen Wandlung sind die nämlichen,
die wir für das engere Gebiet der häuslichen Wirtschaft bereits oben kennen
lernten. Auf der einen Seite wirken die Bemühungen der Berufstätigkeit auf sie
hin. Die Industrie -- dieses Wort im weitesten Sinne genommen -- sucht
uach immer neuen Betätigungen und Absatzmöglichkeiten; unsere Lehrer und
Gelehrten, Künstler und Schriftsteller suchen ebenso immer neues Publikum zu
gewinnen und für ihre Tätigkeit neue Ziele ausfindig zu machen. Alle diese
Bemühungen sind dabei entsprechend der Gesamtart unserer Zeit mit einem viel
höheren Maße von Rationalität verbunden, als es jemals früher der Fall war.
So ergießt sich eine Flut von Angeboten und Erzeugnissen über das Publikum,
deren dieses sich kaum zu erwehren vermag. Und dazu kommt die innere
Resonanz, die diese Anerbietungen bei ihm finden: sie stellen durchweg verlockende
Reize für die Konsumenten dar. Sie appellieren einerseits an edlere Interessen,
wie das Bildungsinteresse, den Natursinn, das Freiheitsbedürfnis und das Streben



*) Wir weisen auf den Aufsatz des Syndikus der Handelskammer zu Schweidnitz, des
Herrn Dr. Heubner, in Heft 26 vom Jahre 1911 "Ständegliederung und Ständeverfassung" der
,
D. Schriftltg. ähnliche Forderungen, wenn auch von anderen Gesichtspunkten ausgehend, erhebt.
Schaffen und Genießen

unterliegt es auch der Veränderung. Vielleicht war es nötig, um der Arbeiter¬
schaft und dem Kleinbürgertum aus dem Sumpf zu helfen, in den sie durch
den jungen Jndustrialismus geraten waren. Aber wenn die Sozialdemokratie
es zum Vehikel benutzen will, um die Lohnarbeiterschaft zur herrschenden Klasse
zu machen, zum Mittel, mit dem sie den Staat erobern will, ein Ziel, das man
als Unbefangener doch wirklich nicht wünschen kann, dann ist es tatsächlich Zeit,
darüber nachzudenken, ob dieses Wahlrecht noch den veränderten Verhältnissen
entspricht, ob man es noch weiter ausbauen und auf die Einzellandtage
noch übertragen soll oder nicht*).




schaffen und Genießen
Die Tendenz zur reinen Konsumtion und ihre Bekämpfung
Professor Dr. Alfred Vierkandt- vonII.

Wir beenden damit unseren Rundgang. Der Sinn des Ganzen ist klar: der
moderne Mensch wünscht, so können wir es in einem Bilde ausdrücken, wenn er
den Mühen der Berufsarbeit den Rücken kehrt, sich auf ein Ruhesofa zu legen und die
Güter des Lebens gleich gebratenen Tauben sich von selbst in den Mund fliegen
lassen. Die allgemeinen Ursachen dieser ganzen Wandlung sind die nämlichen,
die wir für das engere Gebiet der häuslichen Wirtschaft bereits oben kennen
lernten. Auf der einen Seite wirken die Bemühungen der Berufstätigkeit auf sie
hin. Die Industrie — dieses Wort im weitesten Sinne genommen — sucht
uach immer neuen Betätigungen und Absatzmöglichkeiten; unsere Lehrer und
Gelehrten, Künstler und Schriftsteller suchen ebenso immer neues Publikum zu
gewinnen und für ihre Tätigkeit neue Ziele ausfindig zu machen. Alle diese
Bemühungen sind dabei entsprechend der Gesamtart unserer Zeit mit einem viel
höheren Maße von Rationalität verbunden, als es jemals früher der Fall war.
So ergießt sich eine Flut von Angeboten und Erzeugnissen über das Publikum,
deren dieses sich kaum zu erwehren vermag. Und dazu kommt die innere
Resonanz, die diese Anerbietungen bei ihm finden: sie stellen durchweg verlockende
Reize für die Konsumenten dar. Sie appellieren einerseits an edlere Interessen,
wie das Bildungsinteresse, den Natursinn, das Freiheitsbedürfnis und das Streben



*) Wir weisen auf den Aufsatz des Syndikus der Handelskammer zu Schweidnitz, des
Herrn Dr. Heubner, in Heft 26 vom Jahre 1911 „Ständegliederung und Ständeverfassung" der
,
D. Schriftltg. ähnliche Forderungen, wenn auch von anderen Gesichtspunkten ausgehend, erhebt.
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[0419] Schaffen und Genießen unterliegt es auch der Veränderung. Vielleicht war es nötig, um der Arbeiter¬ schaft und dem Kleinbürgertum aus dem Sumpf zu helfen, in den sie durch den jungen Jndustrialismus geraten waren. Aber wenn die Sozialdemokratie es zum Vehikel benutzen will, um die Lohnarbeiterschaft zur herrschenden Klasse zu machen, zum Mittel, mit dem sie den Staat erobern will, ein Ziel, das man als Unbefangener doch wirklich nicht wünschen kann, dann ist es tatsächlich Zeit, darüber nachzudenken, ob dieses Wahlrecht noch den veränderten Verhältnissen entspricht, ob man es noch weiter ausbauen und auf die Einzellandtage noch übertragen soll oder nicht*). schaffen und Genießen Die Tendenz zur reinen Konsumtion und ihre Bekämpfung Professor Dr. Alfred Vierkandt- vonII. Wir beenden damit unseren Rundgang. Der Sinn des Ganzen ist klar: der moderne Mensch wünscht, so können wir es in einem Bilde ausdrücken, wenn er den Mühen der Berufsarbeit den Rücken kehrt, sich auf ein Ruhesofa zu legen und die Güter des Lebens gleich gebratenen Tauben sich von selbst in den Mund fliegen lassen. Die allgemeinen Ursachen dieser ganzen Wandlung sind die nämlichen, die wir für das engere Gebiet der häuslichen Wirtschaft bereits oben kennen lernten. Auf der einen Seite wirken die Bemühungen der Berufstätigkeit auf sie hin. Die Industrie — dieses Wort im weitesten Sinne genommen — sucht uach immer neuen Betätigungen und Absatzmöglichkeiten; unsere Lehrer und Gelehrten, Künstler und Schriftsteller suchen ebenso immer neues Publikum zu gewinnen und für ihre Tätigkeit neue Ziele ausfindig zu machen. Alle diese Bemühungen sind dabei entsprechend der Gesamtart unserer Zeit mit einem viel höheren Maße von Rationalität verbunden, als es jemals früher der Fall war. So ergießt sich eine Flut von Angeboten und Erzeugnissen über das Publikum, deren dieses sich kaum zu erwehren vermag. Und dazu kommt die innere Resonanz, die diese Anerbietungen bei ihm finden: sie stellen durchweg verlockende Reize für die Konsumenten dar. Sie appellieren einerseits an edlere Interessen, wie das Bildungsinteresse, den Natursinn, das Freiheitsbedürfnis und das Streben *) Wir weisen auf den Aufsatz des Syndikus der Handelskammer zu Schweidnitz, des Herrn Dr. Heubner, in Heft 26 vom Jahre 1911 „Ständegliederung und Ständeverfassung" der , D. Schriftltg. ähnliche Forderungen, wenn auch von anderen Gesichtspunkten ausgehend, erhebt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/419>, abgerufen am 29.06.2024.