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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht
Erich Lrichs- von

le Klagen darüber, daß der Parlamentarismus sich im Nieder¬
gange befinde, haben sich in letzter Zeit angesichts der Vorgänge
im preußischen Abgeordnetenhause und im ungarischen Parlamente
wieder vermehrt. Konservative Blätter suchen diese Vorgänge im
Sinne ihrer Partei auszunutzen und gegen das allgemeine und
gleiche Wahlrecht auszuspielen; die liberale Presse vermeidet es im allgemeinen,
näher auf dieses Thema einzugehen. Der moderne Parlamentarismus ist eine
Schöpfung des politischen Liberalismus. Der liberale Gedanke von der sou¬
veränes des Volkes gipfelt in der Selbstregierung des Volkes, die wiederum
praktisch nur durch Vertreterkonvente möglich ist. Die liberalen Ideen von der
politischen Freiheit und der politischen Gleichheit haben in Volksvertretungen,
die wie der deutsche Reichstag auf Grund allgemeinen und gleichen Wahlrechts
gewählt werden, Erfüllung gefunden.

An alte Ideale rührt man nicht gern. Man glaubt nicht mehr so ganz
an sie, aber man mag sich das nicht so recht eingestehen. Man verteidigt sie
wie Dogmen und steht nicht, wie aus den Idealen Idole werden. Ideale sind
nur lebenskräftig, solange sie nicht in die Wirklichkeit umgesetzt sind. Sie sind
nur solange vollkommen, wie sie Ziele des Willens anzeigen; sind sie zur Wirk¬
lichkeit, sind sie Einrichtungen geworden, so unterliegen sie allen Unvollkommen-
heiten wie andere menschliche Einrichtungen auch. Man verschließt davor ver¬
gebens die Augen, die Gegner werden schon darauf aufmerksam machen. Es
mag den liberalen Parteien bequem oder unbequem sein, daß die Frage nach
dem Niedergange des Parlamentarismus gerade jetzt erörtert wird, wo eine
neue liberale Welle durch die Lande geht; sie kommen aber nicht darum hin,
sich an diesen Erörterungen zu beteiligen und nötigenfalls ihre Stellung zu den
alten Idealen des Liberalismus zu revidieren, sie fallen zu lassen und neue
aufzustellen.

Das Eine steht jedenfalls fest, daß sich im modernen Parlamentarismus,
der sich auf dem allgemeinen gleichen Wahlrecht aufbaut, eine Menge schwerer
Unzulänglichkeiten gezeigt haben. Die schlimmsten Unzuträglichkeiten sind die,




Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht
Erich Lrichs- von

le Klagen darüber, daß der Parlamentarismus sich im Nieder¬
gange befinde, haben sich in letzter Zeit angesichts der Vorgänge
im preußischen Abgeordnetenhause und im ungarischen Parlamente
wieder vermehrt. Konservative Blätter suchen diese Vorgänge im
Sinne ihrer Partei auszunutzen und gegen das allgemeine und
gleiche Wahlrecht auszuspielen; die liberale Presse vermeidet es im allgemeinen,
näher auf dieses Thema einzugehen. Der moderne Parlamentarismus ist eine
Schöpfung des politischen Liberalismus. Der liberale Gedanke von der sou¬
veränes des Volkes gipfelt in der Selbstregierung des Volkes, die wiederum
praktisch nur durch Vertreterkonvente möglich ist. Die liberalen Ideen von der
politischen Freiheit und der politischen Gleichheit haben in Volksvertretungen,
die wie der deutsche Reichstag auf Grund allgemeinen und gleichen Wahlrechts
gewählt werden, Erfüllung gefunden.

An alte Ideale rührt man nicht gern. Man glaubt nicht mehr so ganz
an sie, aber man mag sich das nicht so recht eingestehen. Man verteidigt sie
wie Dogmen und steht nicht, wie aus den Idealen Idole werden. Ideale sind
nur lebenskräftig, solange sie nicht in die Wirklichkeit umgesetzt sind. Sie sind
nur solange vollkommen, wie sie Ziele des Willens anzeigen; sind sie zur Wirk¬
lichkeit, sind sie Einrichtungen geworden, so unterliegen sie allen Unvollkommen-
heiten wie andere menschliche Einrichtungen auch. Man verschließt davor ver¬
gebens die Augen, die Gegner werden schon darauf aufmerksam machen. Es
mag den liberalen Parteien bequem oder unbequem sein, daß die Frage nach
dem Niedergange des Parlamentarismus gerade jetzt erörtert wird, wo eine
neue liberale Welle durch die Lande geht; sie kommen aber nicht darum hin,
sich an diesen Erörterungen zu beteiligen und nötigenfalls ihre Stellung zu den
alten Idealen des Liberalismus zu revidieren, sie fallen zu lassen und neue
aufzustellen.

Das Eine steht jedenfalls fest, daß sich im modernen Parlamentarismus,
der sich auf dem allgemeinen gleichen Wahlrecht aufbaut, eine Menge schwerer
Unzulänglichkeiten gezeigt haben. Die schlimmsten Unzuträglichkeiten sind die,


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[0414] [Abbildung] Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht Erich Lrichs- von le Klagen darüber, daß der Parlamentarismus sich im Nieder¬ gange befinde, haben sich in letzter Zeit angesichts der Vorgänge im preußischen Abgeordnetenhause und im ungarischen Parlamente wieder vermehrt. Konservative Blätter suchen diese Vorgänge im Sinne ihrer Partei auszunutzen und gegen das allgemeine und gleiche Wahlrecht auszuspielen; die liberale Presse vermeidet es im allgemeinen, näher auf dieses Thema einzugehen. Der moderne Parlamentarismus ist eine Schöpfung des politischen Liberalismus. Der liberale Gedanke von der sou¬ veränes des Volkes gipfelt in der Selbstregierung des Volkes, die wiederum praktisch nur durch Vertreterkonvente möglich ist. Die liberalen Ideen von der politischen Freiheit und der politischen Gleichheit haben in Volksvertretungen, die wie der deutsche Reichstag auf Grund allgemeinen und gleichen Wahlrechts gewählt werden, Erfüllung gefunden. An alte Ideale rührt man nicht gern. Man glaubt nicht mehr so ganz an sie, aber man mag sich das nicht so recht eingestehen. Man verteidigt sie wie Dogmen und steht nicht, wie aus den Idealen Idole werden. Ideale sind nur lebenskräftig, solange sie nicht in die Wirklichkeit umgesetzt sind. Sie sind nur solange vollkommen, wie sie Ziele des Willens anzeigen; sind sie zur Wirk¬ lichkeit, sind sie Einrichtungen geworden, so unterliegen sie allen Unvollkommen- heiten wie andere menschliche Einrichtungen auch. Man verschließt davor ver¬ gebens die Augen, die Gegner werden schon darauf aufmerksam machen. Es mag den liberalen Parteien bequem oder unbequem sein, daß die Frage nach dem Niedergange des Parlamentarismus gerade jetzt erörtert wird, wo eine neue liberale Welle durch die Lande geht; sie kommen aber nicht darum hin, sich an diesen Erörterungen zu beteiligen und nötigenfalls ihre Stellung zu den alten Idealen des Liberalismus zu revidieren, sie fallen zu lassen und neue aufzustellen. Das Eine steht jedenfalls fest, daß sich im modernen Parlamentarismus, der sich auf dem allgemeinen gleichen Wahlrecht aufbaut, eine Menge schwerer Unzulänglichkeiten gezeigt haben. Die schlimmsten Unzuträglichkeiten sind die,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/414>, abgerufen am 29.06.2024.