Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Unan die Sozialdemokratie den sittlichen Einfluß
der Religion ersetzen?
<Line kriminalstatistische Untersuchung

in Gegensatz zu der Anschauung, daß die Religion ein Kulturgut
von höchstem Werte für das ganze Volk sei, daß der Staat also
Grund und Pflicht habe, sie zu schützen und zu pflegen, lautet der
Grundsatz der Sozialdemokratie: Religion ist Privatsache. Das
soll nicht nur im Sinne der Gewissensfreiheit bedeuten, daß der
Staat es der persönlichen Überzeugung jedes einzelnen zu überlassen habe, ob
und zu welcher Religion er sich bekennen wolle, und daß der Staat keiner
Religionsübung hemmend in den Weg treten solle, sofern sie nicht gegen die
Staatsgesetze verstößt; vielmehr soll der Grundsatz auch besagen, daß der Staat
den Religionsgesellschaften keinerlei Förderung angedeihen lassen dürfe, ihnen vor
allem keinerlei besondere Rechte einräumen und keinerlei Aufwendungen aus öffent¬
lichen Mitteln für sie machen solle, wie er dies für Schule, Kunst, Wissenschaft usw.
doch tut. In der Praxis bedeutet der Grundsatz tatsächlich sehr oft Feindschaft
gegen alle Religion, Kampf gegen alle bestehenden Religionsgemeinschaften.
Religions- oder mindestens Konfessionslosigkeit ist Parteisache. Die marxistische
Sozialdemokratie erblickt in der Religion nur eine Illusion, eine transzendentale
Widerspiegelung der jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die mit
diesen selbst verschwinden werde. Sie steht die Religion für überflüssig an und
behauptet, einen vollkommenen Ersatz für sie zu bieten; denn einerseits werde das,
was sie auf der Erde verwirklichen werde, die Sehnsucht nach einer anderen
Welt aufheben, anderseits sei sie selbst in der Lage, auch die sittlichen Wirkungen,
um deretwillen der Staat die Religion sür notwendig halte, viel besser hervor¬
zurufen als die Religion dies vermag.

Diese letztere Behauptung sucht man auch mit statistischen Beweisen zu erhärten,
wie es in der Sitzung der Zweiten Kammer des sächsischen Landtages am
16. November 1911 ein sozialdemokratischer Abgeordneter unternahm. Er äußerte
dort: "Den Gesetzentwurf, die Hinterbliebenen von Geistlichen betreffend, lehnen
wir aus prinzipiellen Gründen ab. Sie wissen, nach unseren Grundsätzen ist
Religion Privatsache. Wer das Bedürfnis nach religiösen Übungen hat, den




Unan die Sozialdemokratie den sittlichen Einfluß
der Religion ersetzen?
<Line kriminalstatistische Untersuchung

in Gegensatz zu der Anschauung, daß die Religion ein Kulturgut
von höchstem Werte für das ganze Volk sei, daß der Staat also
Grund und Pflicht habe, sie zu schützen und zu pflegen, lautet der
Grundsatz der Sozialdemokratie: Religion ist Privatsache. Das
soll nicht nur im Sinne der Gewissensfreiheit bedeuten, daß der
Staat es der persönlichen Überzeugung jedes einzelnen zu überlassen habe, ob
und zu welcher Religion er sich bekennen wolle, und daß der Staat keiner
Religionsübung hemmend in den Weg treten solle, sofern sie nicht gegen die
Staatsgesetze verstößt; vielmehr soll der Grundsatz auch besagen, daß der Staat
den Religionsgesellschaften keinerlei Förderung angedeihen lassen dürfe, ihnen vor
allem keinerlei besondere Rechte einräumen und keinerlei Aufwendungen aus öffent¬
lichen Mitteln für sie machen solle, wie er dies für Schule, Kunst, Wissenschaft usw.
doch tut. In der Praxis bedeutet der Grundsatz tatsächlich sehr oft Feindschaft
gegen alle Religion, Kampf gegen alle bestehenden Religionsgemeinschaften.
Religions- oder mindestens Konfessionslosigkeit ist Parteisache. Die marxistische
Sozialdemokratie erblickt in der Religion nur eine Illusion, eine transzendentale
Widerspiegelung der jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die mit
diesen selbst verschwinden werde. Sie steht die Religion für überflüssig an und
behauptet, einen vollkommenen Ersatz für sie zu bieten; denn einerseits werde das,
was sie auf der Erde verwirklichen werde, die Sehnsucht nach einer anderen
Welt aufheben, anderseits sei sie selbst in der Lage, auch die sittlichen Wirkungen,
um deretwillen der Staat die Religion sür notwendig halte, viel besser hervor¬
zurufen als die Religion dies vermag.

Diese letztere Behauptung sucht man auch mit statistischen Beweisen zu erhärten,
wie es in der Sitzung der Zweiten Kammer des sächsischen Landtages am
16. November 1911 ein sozialdemokratischer Abgeordneter unternahm. Er äußerte
dort: „Den Gesetzentwurf, die Hinterbliebenen von Geistlichen betreffend, lehnen
wir aus prinzipiellen Gründen ab. Sie wissen, nach unseren Grundsätzen ist
Religion Privatsache. Wer das Bedürfnis nach religiösen Übungen hat, den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0316" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322063"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341895_321746/figures/grenzboten_341895_321746_322063_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Unan die Sozialdemokratie den sittlichen Einfluß<lb/>
der Religion ersetzen?<lb/>
&lt;Line kriminalstatistische Untersuchung </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1294"> in Gegensatz zu der Anschauung, daß die Religion ein Kulturgut<lb/>
von höchstem Werte für das ganze Volk sei, daß der Staat also<lb/>
Grund und Pflicht habe, sie zu schützen und zu pflegen, lautet der<lb/>
Grundsatz der Sozialdemokratie: Religion ist Privatsache. Das<lb/>
soll nicht nur im Sinne der Gewissensfreiheit bedeuten, daß der<lb/>
Staat es der persönlichen Überzeugung jedes einzelnen zu überlassen habe, ob<lb/>
und zu welcher Religion er sich bekennen wolle, und daß der Staat keiner<lb/>
Religionsübung hemmend in den Weg treten solle, sofern sie nicht gegen die<lb/>
Staatsgesetze verstößt; vielmehr soll der Grundsatz auch besagen, daß der Staat<lb/>
den Religionsgesellschaften keinerlei Förderung angedeihen lassen dürfe, ihnen vor<lb/>
allem keinerlei besondere Rechte einräumen und keinerlei Aufwendungen aus öffent¬<lb/>
lichen Mitteln für sie machen solle, wie er dies für Schule, Kunst, Wissenschaft usw.<lb/>
doch tut. In der Praxis bedeutet der Grundsatz tatsächlich sehr oft Feindschaft<lb/>
gegen alle Religion, Kampf gegen alle bestehenden Religionsgemeinschaften.<lb/>
Religions- oder mindestens Konfessionslosigkeit ist Parteisache. Die marxistische<lb/>
Sozialdemokratie erblickt in der Religion nur eine Illusion, eine transzendentale<lb/>
Widerspiegelung der jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die mit<lb/>
diesen selbst verschwinden werde. Sie steht die Religion für überflüssig an und<lb/>
behauptet, einen vollkommenen Ersatz für sie zu bieten; denn einerseits werde das,<lb/>
was sie auf der Erde verwirklichen werde, die Sehnsucht nach einer anderen<lb/>
Welt aufheben, anderseits sei sie selbst in der Lage, auch die sittlichen Wirkungen,<lb/>
um deretwillen der Staat die Religion sür notwendig halte, viel besser hervor¬<lb/>
zurufen als die Religion dies vermag.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1295" next="#ID_1296"> Diese letztere Behauptung sucht man auch mit statistischen Beweisen zu erhärten,<lb/>
wie es in der Sitzung der Zweiten Kammer des sächsischen Landtages am<lb/>
16. November 1911 ein sozialdemokratischer Abgeordneter unternahm. Er äußerte<lb/>
dort: &#x201E;Den Gesetzentwurf, die Hinterbliebenen von Geistlichen betreffend, lehnen<lb/>
wir aus prinzipiellen Gründen ab. Sie wissen, nach unseren Grundsätzen ist<lb/>
Religion Privatsache.  Wer das Bedürfnis nach religiösen Übungen hat, den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0316] [Abbildung] Unan die Sozialdemokratie den sittlichen Einfluß der Religion ersetzen? <Line kriminalstatistische Untersuchung in Gegensatz zu der Anschauung, daß die Religion ein Kulturgut von höchstem Werte für das ganze Volk sei, daß der Staat also Grund und Pflicht habe, sie zu schützen und zu pflegen, lautet der Grundsatz der Sozialdemokratie: Religion ist Privatsache. Das soll nicht nur im Sinne der Gewissensfreiheit bedeuten, daß der Staat es der persönlichen Überzeugung jedes einzelnen zu überlassen habe, ob und zu welcher Religion er sich bekennen wolle, und daß der Staat keiner Religionsübung hemmend in den Weg treten solle, sofern sie nicht gegen die Staatsgesetze verstößt; vielmehr soll der Grundsatz auch besagen, daß der Staat den Religionsgesellschaften keinerlei Förderung angedeihen lassen dürfe, ihnen vor allem keinerlei besondere Rechte einräumen und keinerlei Aufwendungen aus öffent¬ lichen Mitteln für sie machen solle, wie er dies für Schule, Kunst, Wissenschaft usw. doch tut. In der Praxis bedeutet der Grundsatz tatsächlich sehr oft Feindschaft gegen alle Religion, Kampf gegen alle bestehenden Religionsgemeinschaften. Religions- oder mindestens Konfessionslosigkeit ist Parteisache. Die marxistische Sozialdemokratie erblickt in der Religion nur eine Illusion, eine transzendentale Widerspiegelung der jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die mit diesen selbst verschwinden werde. Sie steht die Religion für überflüssig an und behauptet, einen vollkommenen Ersatz für sie zu bieten; denn einerseits werde das, was sie auf der Erde verwirklichen werde, die Sehnsucht nach einer anderen Welt aufheben, anderseits sei sie selbst in der Lage, auch die sittlichen Wirkungen, um deretwillen der Staat die Religion sür notwendig halte, viel besser hervor¬ zurufen als die Religion dies vermag. Diese letztere Behauptung sucht man auch mit statistischen Beweisen zu erhärten, wie es in der Sitzung der Zweiten Kammer des sächsischen Landtages am 16. November 1911 ein sozialdemokratischer Abgeordneter unternahm. Er äußerte dort: „Den Gesetzentwurf, die Hinterbliebenen von Geistlichen betreffend, lehnen wir aus prinzipiellen Gründen ab. Sie wissen, nach unseren Grundsätzen ist Religion Privatsache. Wer das Bedürfnis nach religiösen Übungen hat, den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/316
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/316>, abgerufen am 29.06.2024.