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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Kann die Socialdemokratie den sittlichen Einfluß der Religion ersetzen?

soll man daran nicht hindern. Man muß es ihm aber auch selbst überlassen,
dafür die Kosten auszubringen."

Von einem anderen Abgeordneten wurde darauf entgegnet: "Welche Auf¬
gabe hat im gegemvärtigen Staatsleben unsere Kirche? Doch wohl in Er¬
mangelung einer anderen Institution -- ich will die Sache rein intellektuell
behandeln -- die Aufgabe, die ethische Bildung und Entwicklung unseres Volkes
zu gewährleisten, soweit nicht unter gewissen Umständen die Schulen das tun.
Das ist eine ganz bedeutende, hohe Aufgabe, die die Kirche dem Staate gegen¬
über erfüllt. Und erst, wenn die Sozialdemokratie die Fähigkeit bewiesen hat,
daß sie an Stelle dieser Institution, die die ethische Entwicklung unseres Volkes
fördern soll, eine andere zu setzen imstande ist, wäre die Stellungnahme der
sozialdemokratischen Fraktion diskutabel."

Demgegenüber führte der sozialdemokratische Redner weiter aus: "Die
Sozialdemokratie setzt wohl an Stelle der Religion etwas, was sie nach unserer
Überzeugung völlig ersetzt. ... Ich möchte den Herrn Abgeordneten Dr. B. ersuchen,
sich einmal die Kriminalstatistik des Reiches anzusehen, da wird er finden, daß
gerade in den Bezirken des Reiches, wo die Sozialdemokratie dominiert und die
sozialdemokratischen Anschauungen am weitesten Verbreitung gefunden haben, die
groben Delikte weit seltener sind als in den Bezirken, wo die Religion noch
heute dominiert. Ich brauche nur zu verweisen auf den Gegensatz zwischen
Berlin und Bayern, zwischen Hamburg und Posen, zwischen Sachsen und Ober¬
schlesien. Wenn Sie das vergleichen wollen, dann werden Sie den wohltätigen
Einfluß der sozialdemokratischen Tätigkeit empfinden." Daß diese Anschauung,
die der Sozialdemokratie selber ist, bewies das "Sehr richtig!", das links
erschallte, im Gegensatz zu dem "Lachen rechts".

Es liegt auf der Hand, daß nicht nur für Sachsen die Frage von hoher
grundsätzlicher wie praktisch-politischerBedeutung ist, ob tatsächlich durch dieStatistik
die sozialdemokratische Behauptung, die für weite Volkskreise als Dogma gilt und
ihre Stellung zur Kirche beeinflußt, ' sich beweisen läßt. Ist doch damit die
ganze ethische Wirksamkeit der Religion bzw. der Kirche und ihre Existenz¬
berechtigung dem Staate gegenüber in Frage gestellt. Dadurch, daß als
Beispiele von schwerer kriminalstatistischer Belastung römisch-katholische Landes¬
teile genannt werden, wird wenig daran geändert, denn das geringschätzige
Urteil trifft beide Kirchen, so verschieden sie auch sind. Und so gerechtfertigt
ein Lachen sein mag, so ist es doch kein Beweis. Daß in der sächsischen Kärrner
der Gegenbeweis nur andeutungsweise, nicht zahlenmäßig geführt werden konnte,
versteht sich von selbst. So erscheint denn eine statistische Untersuchung der Frage
nicht nur am Platze, sondern dringend geboten.

Freilich läßt sich eine Behauptung leichter aufstellen, als beweisen oder
widerlegen, zumal da die Reichsstatistik nicht alle wünschenswerten Aufschlüsse
ohne weiteres an die Hand gibt, und da die ganze Frage viel verwickelter ist,
als sie zunächst scheinen mag.


Kann die Socialdemokratie den sittlichen Einfluß der Religion ersetzen?

soll man daran nicht hindern. Man muß es ihm aber auch selbst überlassen,
dafür die Kosten auszubringen."

Von einem anderen Abgeordneten wurde darauf entgegnet: „Welche Auf¬
gabe hat im gegemvärtigen Staatsleben unsere Kirche? Doch wohl in Er¬
mangelung einer anderen Institution — ich will die Sache rein intellektuell
behandeln — die Aufgabe, die ethische Bildung und Entwicklung unseres Volkes
zu gewährleisten, soweit nicht unter gewissen Umständen die Schulen das tun.
Das ist eine ganz bedeutende, hohe Aufgabe, die die Kirche dem Staate gegen¬
über erfüllt. Und erst, wenn die Sozialdemokratie die Fähigkeit bewiesen hat,
daß sie an Stelle dieser Institution, die die ethische Entwicklung unseres Volkes
fördern soll, eine andere zu setzen imstande ist, wäre die Stellungnahme der
sozialdemokratischen Fraktion diskutabel."

Demgegenüber führte der sozialdemokratische Redner weiter aus: „Die
Sozialdemokratie setzt wohl an Stelle der Religion etwas, was sie nach unserer
Überzeugung völlig ersetzt. ... Ich möchte den Herrn Abgeordneten Dr. B. ersuchen,
sich einmal die Kriminalstatistik des Reiches anzusehen, da wird er finden, daß
gerade in den Bezirken des Reiches, wo die Sozialdemokratie dominiert und die
sozialdemokratischen Anschauungen am weitesten Verbreitung gefunden haben, die
groben Delikte weit seltener sind als in den Bezirken, wo die Religion noch
heute dominiert. Ich brauche nur zu verweisen auf den Gegensatz zwischen
Berlin und Bayern, zwischen Hamburg und Posen, zwischen Sachsen und Ober¬
schlesien. Wenn Sie das vergleichen wollen, dann werden Sie den wohltätigen
Einfluß der sozialdemokratischen Tätigkeit empfinden." Daß diese Anschauung,
die der Sozialdemokratie selber ist, bewies das „Sehr richtig!", das links
erschallte, im Gegensatz zu dem „Lachen rechts".

Es liegt auf der Hand, daß nicht nur für Sachsen die Frage von hoher
grundsätzlicher wie praktisch-politischerBedeutung ist, ob tatsächlich durch dieStatistik
die sozialdemokratische Behauptung, die für weite Volkskreise als Dogma gilt und
ihre Stellung zur Kirche beeinflußt, ' sich beweisen läßt. Ist doch damit die
ganze ethische Wirksamkeit der Religion bzw. der Kirche und ihre Existenz¬
berechtigung dem Staate gegenüber in Frage gestellt. Dadurch, daß als
Beispiele von schwerer kriminalstatistischer Belastung römisch-katholische Landes¬
teile genannt werden, wird wenig daran geändert, denn das geringschätzige
Urteil trifft beide Kirchen, so verschieden sie auch sind. Und so gerechtfertigt
ein Lachen sein mag, so ist es doch kein Beweis. Daß in der sächsischen Kärrner
der Gegenbeweis nur andeutungsweise, nicht zahlenmäßig geführt werden konnte,
versteht sich von selbst. So erscheint denn eine statistische Untersuchung der Frage
nicht nur am Platze, sondern dringend geboten.

Freilich läßt sich eine Behauptung leichter aufstellen, als beweisen oder
widerlegen, zumal da die Reichsstatistik nicht alle wünschenswerten Aufschlüsse
ohne weiteres an die Hand gibt, und da die ganze Frage viel verwickelter ist,
als sie zunächst scheinen mag.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/317>, abgerufen am 01.07.2024.