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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
cLhauvinismus

Vaterlandsliebe galt im Altertum als die erste und vornehmste aller
Tugenden. Kein Opfer durfte zu groß erscheinen, sobald das Wohl des Vater¬
landes es wünschte. Dieser Pflicht gegenüber mußten die heiligsten Pflichten
gegen Haus und Familie zurücktreten. Auch die Neuzeit rechnet nun zwar die
Vaterlandsliebe zu den unentbehrlichsten Tugenden eines guten Staatsbürgers.
Aber in ihrer Auffassung ist eine ganz wesentliche Veränderung eingetreten.
Der moderne Mensch ist selten und nur zuzeiten, wo ganz besondere Ereignisse
gesteigerte Ansprüche an seine Opferfreudigkeit stellen, und wo das Feuer einer
allgemeinen Begeisterung die Rücksichten auf das inniggeliebte Ich einigermaßen
in den Hintergrund drängt, bereit, den: Vaterlande Opfer zu bringen. Im
Altertum bildeten Handlungen erhabener Vaterlandsliebe die Regel, bei uns
sind sie bemerkenswerte Ausnahmefälle.

Wir Deutsche namentlich haben allen Grund, uns diese etwas bittere
Wahrheit ins Gedächtnis zurückzurufen. Die Zeit liegt nicht etwa in grauer
Ferne zurück, wo uns der berechtigte Vorwurf eines Mangels an National¬
bewußtsein und Nationalstolz gemacht werden konnte. Auch heute, nachdem die
Begeisterung, welche im Anfange der siebziger Jahre die Herzen entflammt hatte,
wieder einer mehr als kühlen Auffassung Platz gemacht hat, darf man diesen
Zustand noch nicht zu den wirklich überwundenen rechnen, obwohl manche
Erscheinungen, die freilich alle mehr oder weniger auf metallischem Hintergrunde
ruhen, das Gegenteil zu beweisen scheinen. Es ist und bleibt eine Tatsache,
daß bei uns Deutschen die patriotische Pädagogik noch ein weites Feld der
Tätigkeit vor sich hat, und daß opferfreudige, auf innerster Überzeugung
beruhende Vaterlandsliebe noch nicht als vornehmste Tugend anerkannt wird.

Zweifellos darf man dies als ein nationales Übel bezeichnen. Allein wie
jedes Ding zwei Seiten hat, so hat dieses Übel bis zu einem gewissen Grade
doch auch gute Ergebnisse gezeitigt. Wir sind in Deutschland bisher so ziemlich
verschont geblieben von den beklagenswerten Auswüchsen der Vaterlandsliebe:




Reichsspiegel
cLhauvinismus

Vaterlandsliebe galt im Altertum als die erste und vornehmste aller
Tugenden. Kein Opfer durfte zu groß erscheinen, sobald das Wohl des Vater¬
landes es wünschte. Dieser Pflicht gegenüber mußten die heiligsten Pflichten
gegen Haus und Familie zurücktreten. Auch die Neuzeit rechnet nun zwar die
Vaterlandsliebe zu den unentbehrlichsten Tugenden eines guten Staatsbürgers.
Aber in ihrer Auffassung ist eine ganz wesentliche Veränderung eingetreten.
Der moderne Mensch ist selten und nur zuzeiten, wo ganz besondere Ereignisse
gesteigerte Ansprüche an seine Opferfreudigkeit stellen, und wo das Feuer einer
allgemeinen Begeisterung die Rücksichten auf das inniggeliebte Ich einigermaßen
in den Hintergrund drängt, bereit, den: Vaterlande Opfer zu bringen. Im
Altertum bildeten Handlungen erhabener Vaterlandsliebe die Regel, bei uns
sind sie bemerkenswerte Ausnahmefälle.

Wir Deutsche namentlich haben allen Grund, uns diese etwas bittere
Wahrheit ins Gedächtnis zurückzurufen. Die Zeit liegt nicht etwa in grauer
Ferne zurück, wo uns der berechtigte Vorwurf eines Mangels an National¬
bewußtsein und Nationalstolz gemacht werden konnte. Auch heute, nachdem die
Begeisterung, welche im Anfange der siebziger Jahre die Herzen entflammt hatte,
wieder einer mehr als kühlen Auffassung Platz gemacht hat, darf man diesen
Zustand noch nicht zu den wirklich überwundenen rechnen, obwohl manche
Erscheinungen, die freilich alle mehr oder weniger auf metallischem Hintergrunde
ruhen, das Gegenteil zu beweisen scheinen. Es ist und bleibt eine Tatsache,
daß bei uns Deutschen die patriotische Pädagogik noch ein weites Feld der
Tätigkeit vor sich hat, und daß opferfreudige, auf innerster Überzeugung
beruhende Vaterlandsliebe noch nicht als vornehmste Tugend anerkannt wird.

Zweifellos darf man dies als ein nationales Übel bezeichnen. Allein wie
jedes Ding zwei Seiten hat, so hat dieses Übel bis zu einem gewissen Grade
doch auch gute Ergebnisse gezeitigt. Wir sind in Deutschland bisher so ziemlich
verschont geblieben von den beklagenswerten Auswüchsen der Vaterlandsliebe:


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[0249] [Abbildung] Reichsspiegel cLhauvinismus Vaterlandsliebe galt im Altertum als die erste und vornehmste aller Tugenden. Kein Opfer durfte zu groß erscheinen, sobald das Wohl des Vater¬ landes es wünschte. Dieser Pflicht gegenüber mußten die heiligsten Pflichten gegen Haus und Familie zurücktreten. Auch die Neuzeit rechnet nun zwar die Vaterlandsliebe zu den unentbehrlichsten Tugenden eines guten Staatsbürgers. Aber in ihrer Auffassung ist eine ganz wesentliche Veränderung eingetreten. Der moderne Mensch ist selten und nur zuzeiten, wo ganz besondere Ereignisse gesteigerte Ansprüche an seine Opferfreudigkeit stellen, und wo das Feuer einer allgemeinen Begeisterung die Rücksichten auf das inniggeliebte Ich einigermaßen in den Hintergrund drängt, bereit, den: Vaterlande Opfer zu bringen. Im Altertum bildeten Handlungen erhabener Vaterlandsliebe die Regel, bei uns sind sie bemerkenswerte Ausnahmefälle. Wir Deutsche namentlich haben allen Grund, uns diese etwas bittere Wahrheit ins Gedächtnis zurückzurufen. Die Zeit liegt nicht etwa in grauer Ferne zurück, wo uns der berechtigte Vorwurf eines Mangels an National¬ bewußtsein und Nationalstolz gemacht werden konnte. Auch heute, nachdem die Begeisterung, welche im Anfange der siebziger Jahre die Herzen entflammt hatte, wieder einer mehr als kühlen Auffassung Platz gemacht hat, darf man diesen Zustand noch nicht zu den wirklich überwundenen rechnen, obwohl manche Erscheinungen, die freilich alle mehr oder weniger auf metallischem Hintergrunde ruhen, das Gegenteil zu beweisen scheinen. Es ist und bleibt eine Tatsache, daß bei uns Deutschen die patriotische Pädagogik noch ein weites Feld der Tätigkeit vor sich hat, und daß opferfreudige, auf innerster Überzeugung beruhende Vaterlandsliebe noch nicht als vornehmste Tugend anerkannt wird. Zweifellos darf man dies als ein nationales Übel bezeichnen. Allein wie jedes Ding zwei Seiten hat, so hat dieses Übel bis zu einem gewissen Grade doch auch gute Ergebnisse gezeitigt. Wir sind in Deutschland bisher so ziemlich verschont geblieben von den beklagenswerten Auswüchsen der Vaterlandsliebe:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/249>, abgerufen am 29.06.2024.