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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Blumen des Florentin Uley

psychische Kraft zum Zusammenschluß dieser mannigfaltigen dissoziativen Ein¬
drücke im Bewußtsein fehlt, so zersplittert sich ihr gesamtes Seelenleben an
diesen Eindrücken, es kommt zuletzt sogar zu jenen oben berührten Spaltungen
des Jchbewußtseins. So erscheinen die zuletzt erwähnten Werke der Futuristen
geradezu als Produkte einer solchen psychotischen Veranlagung und als Muster¬
beispiele für sie. Dennoch wird man die Möglichkeit nicht ausschließen dürfen,
daß auch unter den Futuristen einmal eine starke Persönlichkeit auftaucht, die
Kraft genug besitzt, um die Fülle feiner Einzeleindrücke, die sich bei ihnen
finden, zu einem Ganzen zusammenzuschließen, der mit Hilfe ihrer Schulung
in der Beobachtung von Bewegungen neue Wege zur Bewegungsgestaltung
erschließt. Daß auch bei einigen der jetzigen Futuristen Ansätze vorliegen, die
zu einer Gestaltung der abstrakten oder der absoluten Bewegung führen könnten,
haben wir oben anerkannt.




Die Blumen des Florentin Uley
Margarete lvindthorst Novelle vonV.

WiKchen war dann wieder hoch mit demselben nächsten Tage, hustete nur
noch und hatte kleine weiße Hautfetzen auf den Lippen vom Fiebern. Der
Florentin sah sie so am Morgen, als er auf die Tagesarbeit wollte. Er sei
in der Nolterschlucht ums Heckenschneiden, sagte er, lachte und zwinkerte ihr
heimlich mit einem Auge zu. Sie ging mit einem Tuch um den Hals
geknotet, aber sie wurde rot, als hätte er ihr auf die bloße Haut im Nacken
gesehen. Er mahnte sie noch um die Gesundheit, sie solle sich den Tag noch
schenken lassen von Jedem.

Da antwortete sie unsicher: "Ein Tag geht mit dein andern hin, und
wenn sie vorbei sind, weiß man erst, was man versäumt hat." Sie gab ihm
einen starken Druck in die Hand und erinnerte ihn: "Komm auf den Abend
wieder, Florin."

Sie war voll Unruhe an diesem Tage, dachte daran, gesäumt und vielleicht
versäumt zu haben. Sie wußte ihn drüben bei der Regime und zitterte neu
um ihn. Sie saß wieder nähend und hörte das einförmige, taktmäßige Klappen
seiner Heckenscheere, die mit ihren Riesenbeinen das Dreifache durchschnitt wie
Jettes und Wieschens Schneiderschere.

Am Nachmittage wurde sie von Jelde geschickt, der Regime das weiße Kleid
hinzutragen. Regime war draußen um den Kiep, nahm das Kleid und warf


Die Blumen des Florentin Uley

psychische Kraft zum Zusammenschluß dieser mannigfaltigen dissoziativen Ein¬
drücke im Bewußtsein fehlt, so zersplittert sich ihr gesamtes Seelenleben an
diesen Eindrücken, es kommt zuletzt sogar zu jenen oben berührten Spaltungen
des Jchbewußtseins. So erscheinen die zuletzt erwähnten Werke der Futuristen
geradezu als Produkte einer solchen psychotischen Veranlagung und als Muster¬
beispiele für sie. Dennoch wird man die Möglichkeit nicht ausschließen dürfen,
daß auch unter den Futuristen einmal eine starke Persönlichkeit auftaucht, die
Kraft genug besitzt, um die Fülle feiner Einzeleindrücke, die sich bei ihnen
finden, zu einem Ganzen zusammenzuschließen, der mit Hilfe ihrer Schulung
in der Beobachtung von Bewegungen neue Wege zur Bewegungsgestaltung
erschließt. Daß auch bei einigen der jetzigen Futuristen Ansätze vorliegen, die
zu einer Gestaltung der abstrakten oder der absoluten Bewegung führen könnten,
haben wir oben anerkannt.




Die Blumen des Florentin Uley
Margarete lvindthorst Novelle vonV.

WiKchen war dann wieder hoch mit demselben nächsten Tage, hustete nur
noch und hatte kleine weiße Hautfetzen auf den Lippen vom Fiebern. Der
Florentin sah sie so am Morgen, als er auf die Tagesarbeit wollte. Er sei
in der Nolterschlucht ums Heckenschneiden, sagte er, lachte und zwinkerte ihr
heimlich mit einem Auge zu. Sie ging mit einem Tuch um den Hals
geknotet, aber sie wurde rot, als hätte er ihr auf die bloße Haut im Nacken
gesehen. Er mahnte sie noch um die Gesundheit, sie solle sich den Tag noch
schenken lassen von Jedem.

Da antwortete sie unsicher: „Ein Tag geht mit dein andern hin, und
wenn sie vorbei sind, weiß man erst, was man versäumt hat." Sie gab ihm
einen starken Druck in die Hand und erinnerte ihn: „Komm auf den Abend
wieder, Florin."

Sie war voll Unruhe an diesem Tage, dachte daran, gesäumt und vielleicht
versäumt zu haben. Sie wußte ihn drüben bei der Regime und zitterte neu
um ihn. Sie saß wieder nähend und hörte das einförmige, taktmäßige Klappen
seiner Heckenscheere, die mit ihren Riesenbeinen das Dreifache durchschnitt wie
Jettes und Wieschens Schneiderschere.

Am Nachmittage wurde sie von Jelde geschickt, der Regime das weiße Kleid
hinzutragen. Regime war draußen um den Kiep, nahm das Kleid und warf


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[0230] Die Blumen des Florentin Uley psychische Kraft zum Zusammenschluß dieser mannigfaltigen dissoziativen Ein¬ drücke im Bewußtsein fehlt, so zersplittert sich ihr gesamtes Seelenleben an diesen Eindrücken, es kommt zuletzt sogar zu jenen oben berührten Spaltungen des Jchbewußtseins. So erscheinen die zuletzt erwähnten Werke der Futuristen geradezu als Produkte einer solchen psychotischen Veranlagung und als Muster¬ beispiele für sie. Dennoch wird man die Möglichkeit nicht ausschließen dürfen, daß auch unter den Futuristen einmal eine starke Persönlichkeit auftaucht, die Kraft genug besitzt, um die Fülle feiner Einzeleindrücke, die sich bei ihnen finden, zu einem Ganzen zusammenzuschließen, der mit Hilfe ihrer Schulung in der Beobachtung von Bewegungen neue Wege zur Bewegungsgestaltung erschließt. Daß auch bei einigen der jetzigen Futuristen Ansätze vorliegen, die zu einer Gestaltung der abstrakten oder der absoluten Bewegung führen könnten, haben wir oben anerkannt. Die Blumen des Florentin Uley Margarete lvindthorst Novelle vonV. WiKchen war dann wieder hoch mit demselben nächsten Tage, hustete nur noch und hatte kleine weiße Hautfetzen auf den Lippen vom Fiebern. Der Florentin sah sie so am Morgen, als er auf die Tagesarbeit wollte. Er sei in der Nolterschlucht ums Heckenschneiden, sagte er, lachte und zwinkerte ihr heimlich mit einem Auge zu. Sie ging mit einem Tuch um den Hals geknotet, aber sie wurde rot, als hätte er ihr auf die bloße Haut im Nacken gesehen. Er mahnte sie noch um die Gesundheit, sie solle sich den Tag noch schenken lassen von Jedem. Da antwortete sie unsicher: „Ein Tag geht mit dein andern hin, und wenn sie vorbei sind, weiß man erst, was man versäumt hat." Sie gab ihm einen starken Druck in die Hand und erinnerte ihn: „Komm auf den Abend wieder, Florin." Sie war voll Unruhe an diesem Tage, dachte daran, gesäumt und vielleicht versäumt zu haben. Sie wußte ihn drüben bei der Regime und zitterte neu um ihn. Sie saß wieder nähend und hörte das einförmige, taktmäßige Klappen seiner Heckenscheere, die mit ihren Riesenbeinen das Dreifache durchschnitt wie Jettes und Wieschens Schneiderschere. Am Nachmittage wurde sie von Jelde geschickt, der Regime das weiße Kleid hinzutragen. Regime war draußen um den Kiep, nahm das Kleid und warf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/230>, abgerufen am 29.06.2024.