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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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der Ausdruck unserer Billigung ist. Müssen wir voraussetzen, daß das seelische
Subjekt im Wechsel seiner Erlebnisse im Grunde identisch bleibt, so ist eine
Entwicklung, eine Entfaltung damit natürlich nicht ausgeschlossen. Wir müssen
annehmen, daß Kontinuität und Gesetzmäßigkeit in dieser Entwicklung, die durch
die gegebene Anlage und die Summe der Einwirkungen und Erlebnisse bestimmt
ist, herrschen. Diese Annahme ist gerechtfertigt durch die Kontinuität der psychischen
Entwicklung, die wir tatsächlich sehen, und auf die z. B. alle pädagogische Arbeit
rechnet. Sie ist aber auch die unbedingte Voraussetzung für alle Zuverlässigkeit
menschlichen Wesens und Handelns überhaupt; sie gehört somit zu den Postulaten,
auf die alles wissenschaftliche und allgemein-menschliche Denken beständig baut.




Venezianische Nacht
Johannes Jegerlehner Erzählung von

Nach alter Tradition feiert der Venetianer am 11. Juli im Giudeccakanal
sein größtes Fest. Parallel mit den Fondamenta delle Zattere, den: Uferquai
des südlichen Stadtteils, erstreckt sich die von sieben Kanälen durchschnittene
Giudecca-Insel. In der Mitte, mit der Front gegen den Kanal erhebt sich die
Chiesa del Nedentor, die schönste der vier Giudeccakirchen. Im Pestjahre 1577
wurde sie einem Gelübde zufolge errichtet, und nun pilgerte der Doge alljährlich
am 11. Juli mit der Signoria zu dieser den Kapuzinern anvertrauten Stätte.
Dieser 11. Juli ist im venezianischen Staatskalender als der erste und feierlichste
Tag eingezeichnet.

Abends gegen vier Uhr, bevor die erfrischende Seebrise einsetzte, herrschte
auf dem Markusplatze reges Leben. An der Riva degli Schiavoni entstiegen
unaufhörlich Menschenmassen den kleinen Dampfern aus Trieft, Capo d'Jstria,
Fiume, Mestre, Torcello, Chioggia. Vor dem Dogenpalast schaukelte eine bunt
bewimpelte Dampferflotte, in der sogar die goldverzierte Jacht des Königs von
Griechenland nicht fehlte. Wären die starren Schlote mit Segeln verdeckt
gewesen, man hätte sich in die Zeiten eines Dogen Mocenigo, in die Periode
der venezianischen Großmachtstellung zurückversetzt geglaubt. Die schnellen
Schwalbendampfer des großen Kanals leuchten vom Bahnhof her schwerbeladen
mit Passagieren von Udine, Verona, Mailand und Florenz.

Graue Knie- und rote Pumphosen brachten in das alltägliche Bild der
Piazza angenehme Abwechselung. Montenegriner und Inselgriechen in ihren
rotseidenen Mützen kontrastierten mit dem gelben Strohhut des Florentiners und
dem federgeschmückter Filz des Österreichers. Venedig, das im Sommer nur


der Ausdruck unserer Billigung ist. Müssen wir voraussetzen, daß das seelische
Subjekt im Wechsel seiner Erlebnisse im Grunde identisch bleibt, so ist eine
Entwicklung, eine Entfaltung damit natürlich nicht ausgeschlossen. Wir müssen
annehmen, daß Kontinuität und Gesetzmäßigkeit in dieser Entwicklung, die durch
die gegebene Anlage und die Summe der Einwirkungen und Erlebnisse bestimmt
ist, herrschen. Diese Annahme ist gerechtfertigt durch die Kontinuität der psychischen
Entwicklung, die wir tatsächlich sehen, und auf die z. B. alle pädagogische Arbeit
rechnet. Sie ist aber auch die unbedingte Voraussetzung für alle Zuverlässigkeit
menschlichen Wesens und Handelns überhaupt; sie gehört somit zu den Postulaten,
auf die alles wissenschaftliche und allgemein-menschliche Denken beständig baut.




Venezianische Nacht
Johannes Jegerlehner Erzählung von

Nach alter Tradition feiert der Venetianer am 11. Juli im Giudeccakanal
sein größtes Fest. Parallel mit den Fondamenta delle Zattere, den: Uferquai
des südlichen Stadtteils, erstreckt sich die von sieben Kanälen durchschnittene
Giudecca-Insel. In der Mitte, mit der Front gegen den Kanal erhebt sich die
Chiesa del Nedentor, die schönste der vier Giudeccakirchen. Im Pestjahre 1577
wurde sie einem Gelübde zufolge errichtet, und nun pilgerte der Doge alljährlich
am 11. Juli mit der Signoria zu dieser den Kapuzinern anvertrauten Stätte.
Dieser 11. Juli ist im venezianischen Staatskalender als der erste und feierlichste
Tag eingezeichnet.

Abends gegen vier Uhr, bevor die erfrischende Seebrise einsetzte, herrschte
auf dem Markusplatze reges Leben. An der Riva degli Schiavoni entstiegen
unaufhörlich Menschenmassen den kleinen Dampfern aus Trieft, Capo d'Jstria,
Fiume, Mestre, Torcello, Chioggia. Vor dem Dogenpalast schaukelte eine bunt
bewimpelte Dampferflotte, in der sogar die goldverzierte Jacht des Königs von
Griechenland nicht fehlte. Wären die starren Schlote mit Segeln verdeckt
gewesen, man hätte sich in die Zeiten eines Dogen Mocenigo, in die Periode
der venezianischen Großmachtstellung zurückversetzt geglaubt. Die schnellen
Schwalbendampfer des großen Kanals leuchten vom Bahnhof her schwerbeladen
mit Passagieren von Udine, Verona, Mailand und Florenz.

Graue Knie- und rote Pumphosen brachten in das alltägliche Bild der
Piazza angenehme Abwechselung. Montenegriner und Inselgriechen in ihren
rotseidenen Mützen kontrastierten mit dem gelben Strohhut des Florentiners und
dem federgeschmückter Filz des Österreichers. Venedig, das im Sommer nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/587>, abgerufen am 03.07.2024.