Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unser Ich

an eine Bedingung gebunden ist: dasselbe Subjekt muß es sein, das einst etwas
erlebt hat und das jetzt das einst Erlebte wieder in sich lebendig macht; nur
das ist der Sinn von Gedächtnis und Erinnerung. Darum setzen diese grund¬
legenden seelischen Verhaltungsweisen die Identität eines seelischen Subjektes im
Wechsel der Erlebnisse voraus. Niemals kann demnach umgekehrt das Subjekts-
Erlebnis aus dem Gedächtnis erklärt werden; immer bliebe ja bei einem solchen
Versuch die Frage ungelöst: wer erinnert denn das Vergangene?

Die Psychologie, die mit seelischen Erlebnissen ohne Subjekt auszukommen
versucht, übersieht, daß die elementarsten psychologischen Tatsachen nicht Wahr¬
nehmungen, Gefühle, Gedanken schlechthin sind, sondern stets die Tatsache, daß
ich denke, ich wahrnehme usw. Vermögen wir den Begriff eines Fühlens oder
Denkens ohne ein Subjekt, das fühlt oder denkt, überhaupt zu fassen? Und
können wir die Gesamtheit unseres geistigen Lebens tatsächlich als eine Reihe
von Vorgängen ohne ein Subjekt, an das sie alle gebunden wären, erklären?
Wir verglichen die Fülle der Bewußtseinstatsachen, die wir beständig in uns
erleben, einem Strom. Aber könnten wir uns dieser wechselnden Mannig¬
faltigkeit überhaupt bewußt werden, wenn die Voraussetzung nicht erfüllt wäre,
daß dasselbe Subjekt es ist, das zuerst eins und dann alle die anderen Glieder
der Reihe erlebt und sich darum des Wechsels in seinem Erleben bewußt ist?
Nicht der Wechsel, aber das Bewußtsein des Wechsels setzt, wie jedes Erfassen
einer Mannigfaltigkeit, ein im Wechsel beharrendes Subjekt voraus. Es ist eben
die Signatur alles Psychischen, daß alle seiue Regungen ein Ich voraussetzen,
als dessen Funktionen oder Inhalte sie allein gedacht werden können. Die
Tatsache aber, daß wir aufeinanderfolgende Erlebnisse im Gedächtnis behalten
und in einheitlichem Bewußtsein hegen, bekundet, daß unser seelisches Subjekt,
unser Ich innerhalb des Wechsels weitgehend identisch bleibt.

Die pathologischen Tatsachen widersprechen, wie wir sehen, dieser Subjekts¬
einheit nicht, sie setzen im Gegenteil eine solche voraus. Gewiß bleibt das
Wesen dieses identischen geistigen Subjekts, das wir fordern müssen, sür unseren
Verstand ein Rätsel. Aber gelingt es uns auf irgend einem Gebiete, alle
Rätsel zu lösen, und das Letzte noch zu erklären? Vermag jemand anzugeben,
was ein Atom oder ein Elektron seinem Wesen nach sei, und wie sie es
anstellen, die Wirkungen hervorzubringen, die wir erfahren?--jedenfalls führt
der Versuch, unser Seelenleben lediglich aus wechselnden Vorgangsreihen, ohne
ein allen zugrunde liegendes Erlebendes, zu erklären, zu noch größeren Schwierig¬
keiten. Denn er mutet uns, wie wir sahen, zu. Denkunmögliches zu denken:
ein Vorstellen, Fühlen oder Wollen, das niemandes Vorstellen, Fühlen oder
Wollen ist.

Im Gegensatz zu dieser Auffassung sehen wir das Wesen des Seelischen
durchweg in Ich-Erlebnissen bestehen. Dieser -- von allem Physischen unter¬
schiedene Charakter des Seelischen -- kommt uns zum Bewußtsein vor allem
im Fühlen, das stets das Bewußtsein unseres Zustandes, und im Wollen, das


Unser Ich

an eine Bedingung gebunden ist: dasselbe Subjekt muß es sein, das einst etwas
erlebt hat und das jetzt das einst Erlebte wieder in sich lebendig macht; nur
das ist der Sinn von Gedächtnis und Erinnerung. Darum setzen diese grund¬
legenden seelischen Verhaltungsweisen die Identität eines seelischen Subjektes im
Wechsel der Erlebnisse voraus. Niemals kann demnach umgekehrt das Subjekts-
Erlebnis aus dem Gedächtnis erklärt werden; immer bliebe ja bei einem solchen
Versuch die Frage ungelöst: wer erinnert denn das Vergangene?

Die Psychologie, die mit seelischen Erlebnissen ohne Subjekt auszukommen
versucht, übersieht, daß die elementarsten psychologischen Tatsachen nicht Wahr¬
nehmungen, Gefühle, Gedanken schlechthin sind, sondern stets die Tatsache, daß
ich denke, ich wahrnehme usw. Vermögen wir den Begriff eines Fühlens oder
Denkens ohne ein Subjekt, das fühlt oder denkt, überhaupt zu fassen? Und
können wir die Gesamtheit unseres geistigen Lebens tatsächlich als eine Reihe
von Vorgängen ohne ein Subjekt, an das sie alle gebunden wären, erklären?
Wir verglichen die Fülle der Bewußtseinstatsachen, die wir beständig in uns
erleben, einem Strom. Aber könnten wir uns dieser wechselnden Mannig¬
faltigkeit überhaupt bewußt werden, wenn die Voraussetzung nicht erfüllt wäre,
daß dasselbe Subjekt es ist, das zuerst eins und dann alle die anderen Glieder
der Reihe erlebt und sich darum des Wechsels in seinem Erleben bewußt ist?
Nicht der Wechsel, aber das Bewußtsein des Wechsels setzt, wie jedes Erfassen
einer Mannigfaltigkeit, ein im Wechsel beharrendes Subjekt voraus. Es ist eben
die Signatur alles Psychischen, daß alle seiue Regungen ein Ich voraussetzen,
als dessen Funktionen oder Inhalte sie allein gedacht werden können. Die
Tatsache aber, daß wir aufeinanderfolgende Erlebnisse im Gedächtnis behalten
und in einheitlichem Bewußtsein hegen, bekundet, daß unser seelisches Subjekt,
unser Ich innerhalb des Wechsels weitgehend identisch bleibt.

Die pathologischen Tatsachen widersprechen, wie wir sehen, dieser Subjekts¬
einheit nicht, sie setzen im Gegenteil eine solche voraus. Gewiß bleibt das
Wesen dieses identischen geistigen Subjekts, das wir fordern müssen, sür unseren
Verstand ein Rätsel. Aber gelingt es uns auf irgend einem Gebiete, alle
Rätsel zu lösen, und das Letzte noch zu erklären? Vermag jemand anzugeben,
was ein Atom oder ein Elektron seinem Wesen nach sei, und wie sie es
anstellen, die Wirkungen hervorzubringen, die wir erfahren?—jedenfalls führt
der Versuch, unser Seelenleben lediglich aus wechselnden Vorgangsreihen, ohne
ein allen zugrunde liegendes Erlebendes, zu erklären, zu noch größeren Schwierig¬
keiten. Denn er mutet uns, wie wir sahen, zu. Denkunmögliches zu denken:
ein Vorstellen, Fühlen oder Wollen, das niemandes Vorstellen, Fühlen oder
Wollen ist.

Im Gegensatz zu dieser Auffassung sehen wir das Wesen des Seelischen
durchweg in Ich-Erlebnissen bestehen. Dieser — von allem Physischen unter¬
schiedene Charakter des Seelischen — kommt uns zum Bewußtsein vor allem
im Fühlen, das stets das Bewußtsein unseres Zustandes, und im Wollen, das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0586" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321671"/>
          <fw type="header" place="top"> Unser Ich</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2437" prev="#ID_2436"> an eine Bedingung gebunden ist: dasselbe Subjekt muß es sein, das einst etwas<lb/>
erlebt hat und das jetzt das einst Erlebte wieder in sich lebendig macht; nur<lb/>
das ist der Sinn von Gedächtnis und Erinnerung. Darum setzen diese grund¬<lb/>
legenden seelischen Verhaltungsweisen die Identität eines seelischen Subjektes im<lb/>
Wechsel der Erlebnisse voraus. Niemals kann demnach umgekehrt das Subjekts-<lb/>
Erlebnis aus dem Gedächtnis erklärt werden; immer bliebe ja bei einem solchen<lb/>
Versuch die Frage ungelöst: wer erinnert denn das Vergangene?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2438"> Die Psychologie, die mit seelischen Erlebnissen ohne Subjekt auszukommen<lb/>
versucht, übersieht, daß die elementarsten psychologischen Tatsachen nicht Wahr¬<lb/>
nehmungen, Gefühle, Gedanken schlechthin sind, sondern stets die Tatsache, daß<lb/>
ich denke, ich wahrnehme usw. Vermögen wir den Begriff eines Fühlens oder<lb/>
Denkens ohne ein Subjekt, das fühlt oder denkt, überhaupt zu fassen? Und<lb/>
können wir die Gesamtheit unseres geistigen Lebens tatsächlich als eine Reihe<lb/>
von Vorgängen ohne ein Subjekt, an das sie alle gebunden wären, erklären?<lb/>
Wir verglichen die Fülle der Bewußtseinstatsachen, die wir beständig in uns<lb/>
erleben, einem Strom. Aber könnten wir uns dieser wechselnden Mannig¬<lb/>
faltigkeit überhaupt bewußt werden, wenn die Voraussetzung nicht erfüllt wäre,<lb/>
daß dasselbe Subjekt es ist, das zuerst eins und dann alle die anderen Glieder<lb/>
der Reihe erlebt und sich darum des Wechsels in seinem Erleben bewußt ist?<lb/>
Nicht der Wechsel, aber das Bewußtsein des Wechsels setzt, wie jedes Erfassen<lb/>
einer Mannigfaltigkeit, ein im Wechsel beharrendes Subjekt voraus. Es ist eben<lb/>
die Signatur alles Psychischen, daß alle seiue Regungen ein Ich voraussetzen,<lb/>
als dessen Funktionen oder Inhalte sie allein gedacht werden können. Die<lb/>
Tatsache aber, daß wir aufeinanderfolgende Erlebnisse im Gedächtnis behalten<lb/>
und in einheitlichem Bewußtsein hegen, bekundet, daß unser seelisches Subjekt,<lb/>
unser Ich innerhalb des Wechsels weitgehend identisch bleibt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2439"> Die pathologischen Tatsachen widersprechen, wie wir sehen, dieser Subjekts¬<lb/>
einheit nicht, sie setzen im Gegenteil eine solche voraus. Gewiß bleibt das<lb/>
Wesen dieses identischen geistigen Subjekts, das wir fordern müssen, sür unseren<lb/>
Verstand ein Rätsel. Aber gelingt es uns auf irgend einem Gebiete, alle<lb/>
Rätsel zu lösen, und das Letzte noch zu erklären? Vermag jemand anzugeben,<lb/>
was ein Atom oder ein Elektron seinem Wesen nach sei, und wie sie es<lb/>
anstellen, die Wirkungen hervorzubringen, die wir erfahren?&#x2014;jedenfalls führt<lb/>
der Versuch, unser Seelenleben lediglich aus wechselnden Vorgangsreihen, ohne<lb/>
ein allen zugrunde liegendes Erlebendes, zu erklären, zu noch größeren Schwierig¬<lb/>
keiten. Denn er mutet uns, wie wir sahen, zu. Denkunmögliches zu denken:<lb/>
ein Vorstellen, Fühlen oder Wollen, das niemandes Vorstellen, Fühlen oder<lb/>
Wollen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2440" next="#ID_2441"> Im Gegensatz zu dieser Auffassung sehen wir das Wesen des Seelischen<lb/>
durchweg in Ich-Erlebnissen bestehen. Dieser &#x2014; von allem Physischen unter¬<lb/>
schiedene Charakter des Seelischen &#x2014; kommt uns zum Bewußtsein vor allem<lb/>
im Fühlen, das stets das Bewußtsein unseres Zustandes, und im Wollen, das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0586] Unser Ich an eine Bedingung gebunden ist: dasselbe Subjekt muß es sein, das einst etwas erlebt hat und das jetzt das einst Erlebte wieder in sich lebendig macht; nur das ist der Sinn von Gedächtnis und Erinnerung. Darum setzen diese grund¬ legenden seelischen Verhaltungsweisen die Identität eines seelischen Subjektes im Wechsel der Erlebnisse voraus. Niemals kann demnach umgekehrt das Subjekts- Erlebnis aus dem Gedächtnis erklärt werden; immer bliebe ja bei einem solchen Versuch die Frage ungelöst: wer erinnert denn das Vergangene? Die Psychologie, die mit seelischen Erlebnissen ohne Subjekt auszukommen versucht, übersieht, daß die elementarsten psychologischen Tatsachen nicht Wahr¬ nehmungen, Gefühle, Gedanken schlechthin sind, sondern stets die Tatsache, daß ich denke, ich wahrnehme usw. Vermögen wir den Begriff eines Fühlens oder Denkens ohne ein Subjekt, das fühlt oder denkt, überhaupt zu fassen? Und können wir die Gesamtheit unseres geistigen Lebens tatsächlich als eine Reihe von Vorgängen ohne ein Subjekt, an das sie alle gebunden wären, erklären? Wir verglichen die Fülle der Bewußtseinstatsachen, die wir beständig in uns erleben, einem Strom. Aber könnten wir uns dieser wechselnden Mannig¬ faltigkeit überhaupt bewußt werden, wenn die Voraussetzung nicht erfüllt wäre, daß dasselbe Subjekt es ist, das zuerst eins und dann alle die anderen Glieder der Reihe erlebt und sich darum des Wechsels in seinem Erleben bewußt ist? Nicht der Wechsel, aber das Bewußtsein des Wechsels setzt, wie jedes Erfassen einer Mannigfaltigkeit, ein im Wechsel beharrendes Subjekt voraus. Es ist eben die Signatur alles Psychischen, daß alle seiue Regungen ein Ich voraussetzen, als dessen Funktionen oder Inhalte sie allein gedacht werden können. Die Tatsache aber, daß wir aufeinanderfolgende Erlebnisse im Gedächtnis behalten und in einheitlichem Bewußtsein hegen, bekundet, daß unser seelisches Subjekt, unser Ich innerhalb des Wechsels weitgehend identisch bleibt. Die pathologischen Tatsachen widersprechen, wie wir sehen, dieser Subjekts¬ einheit nicht, sie setzen im Gegenteil eine solche voraus. Gewiß bleibt das Wesen dieses identischen geistigen Subjekts, das wir fordern müssen, sür unseren Verstand ein Rätsel. Aber gelingt es uns auf irgend einem Gebiete, alle Rätsel zu lösen, und das Letzte noch zu erklären? Vermag jemand anzugeben, was ein Atom oder ein Elektron seinem Wesen nach sei, und wie sie es anstellen, die Wirkungen hervorzubringen, die wir erfahren?—jedenfalls führt der Versuch, unser Seelenleben lediglich aus wechselnden Vorgangsreihen, ohne ein allen zugrunde liegendes Erlebendes, zu erklären, zu noch größeren Schwierig¬ keiten. Denn er mutet uns, wie wir sahen, zu. Denkunmögliches zu denken: ein Vorstellen, Fühlen oder Wollen, das niemandes Vorstellen, Fühlen oder Wollen ist. Im Gegensatz zu dieser Auffassung sehen wir das Wesen des Seelischen durchweg in Ich-Erlebnissen bestehen. Dieser — von allem Physischen unter¬ schiedene Charakter des Seelischen — kommt uns zum Bewußtsein vor allem im Fühlen, das stets das Bewußtsein unseres Zustandes, und im Wollen, das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/586
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/586>, abgerufen am 23.07.2024.