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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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barem Grade" die Sucht nach sonderbaren,
Pikanten, Verblüffendem, Verletzendem aus¬
drücken dürfe, so hat gerade seine Praktische
Anwendung dazu geführt, daß manche unserer
größten Künstler jahrelang verkannt und ver¬
dammt worden sind. Wir werden zum min¬
desten, ehe wir ein Kunstwerk aus obigen
Gründen ablehnen, erst sehr sorgfältig prüfen
müssen, ob der verletzende Eindruck, den wir
dauernd empfinden, nicht in unserer Unfähig¬
keit begründet ist, fremden Anregungen zu
folgen oder ungewohnte Stimmungen nach¬
zuempfinden.

In den Abschnitten über die künstlerische
Erziehung, über den Wert und auch die Ge¬
fahr der heutigen Kunst für die Volkserziehung
weist Volkelt darauf hin, daß all die Leute,
die heutzutage das Schlagwort der "künst¬
lerischen Erziehung" im Munde führen, sich
über seine Bedeutung gar nicht einig sind.
Die größte Gefahr, die unserem Kulturleben
droht, sieht Volkelt in dein Überhandnehmen
der Erotik.

Volkelt ist durchaus nicht zu der Zahl
jener Prüden Sittenrichter zuzuzählen, die,
ohne wahres Verständnis für den künstlerischen
Gehalt eines Werkes, die Kunst nur als
Verschönert" des Lebens gelten lassen wollen
und vor der Nacktheit jeglicher Art nach dem
Schutzmann rufen. So spricht er z. B. voller
Bewunderung von den künstlerischen Stim¬
mungen und bestrickend schönen "Verbindungen
der Liebe mit großen Weltgefühlen", deren
Künstler mit krankhaft zerfressener Seele, wie
d'Anmmzio oderOskarWilde.dennoch fähig sind.

Er kommt zu dem Ergebnis, daß die
gefährlichste Seite an der gegenwärtigen
erotischen Bewegung darin bestehe, daß sie
das Schamgefühl als etwas Rückständiges
bekämpft. An Stelle der Sittlichkeit wollen
heutzutage Künstler und Dichter die "schranken¬
lose Hingabe an das Leben" gesetzt sehen.
Dem gegenüber weist Volkelt den Selbstwert
des Sittlichen, gegründet auf "AchtungS- und
Pflichtgefühl", nach und sieht in der allge¬
meinen Anerkennung dieses Grundsatzes ein
wirksames Mittel, unserer entarteten Über¬
kultur entgegenzuarbeiten. Mng man auch
den Ausführungen Volkelts nicht in allen
Einzelheiten beistimmen können -- vielleicht
mißt er auch manchem modernen Auswuchs

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eine zu große Bedeutung bei --, in der Haupt¬
sache ist sein Buch von unschätzbarem Wert:
es klärt unsere Begriffe über grundlegende
ästhetische Fragen und öffnet uns die Augen
über die eminente Gefahr, die dein Volkswohl
von feiten einer auf Abwege geratenen Kunst¬
F.Moritz ausübung droht.

Schöne Literatur

Das Herz. Novellen von Heinrich Mann.
Leipzig, Inselverlag.

Außer fünf wenig bedeutsamen, aber sorg¬
fältig ausgeführten Charakterstudien enthält
der vorliegende Band zwei schon früher ver¬
öffentlichte größere Stücke: "Schauspielerin"
und "Gretchen". Ersteres ist eine Variation
des Ule-Thema aus deS Dichters "Jagd
nach Liebe". Die vorzugsweise ehrgeizige
Ule ist hier zur ursprünglichen echten Komö¬
diantin geworden, gleichzeitig aber ist Leonie
mehr Weib und liebt einen bis zur letzten
Konsequenz gesteigerten Claude, während der
frühere in dem den Modernen anscheinend
schon rein technisch unentbehrlichen Dritten
wiederholt wird. Und wie nun ein letzter
Nest tief eingewurzelter gut bürgerlicher Er¬
ziehung die Heldin hindert, sich wie Ales
Rivalin besinnungslos ihrer Leidenschaftlich¬
keit hinzugeben, und wie eben dadurch ihr
elementares Komödicmtentum bewahrt wird,
das ist mit großer Feinheit dargestellt und
durchgeführt, nur hätte der Schluß bei etwas
breiterer Ausführung für Unkundige viel¬
leicht an Überzeugungskraft gewonnen. In
"Gretchen" ist jener letzte Rest von Bürger¬
lichkeit zum Element geworden, wohingegen
das Romantische zu dem üblichen Backfisch-
schwarm fürs Theater, insbesondere für den
Bonvivant, zusammengeschrumpft ist. Und
auch dieser letzte Rest von Romantik wird
von den infolge eines höchst Peinlich-komischen
Erlebnisses siegreich anstürmenden Instinkten
ehrenfester Philiströsität auf immer bezwungen;
es triumphiert das Milieu der sächsischen
Bürgerfamilie, über das sich Man", durch
die Art, wie er es sieht, gerechtfertigt, weid¬
lich lustig macht. Wer Sinn hat für die
eigentümliche vom "Professor Unrat" her be¬
kannte "Rosserie" des Verfassers, wird dies
Kabinettstückchen mit großem Behagen ge¬
--a-- nießen.

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barem Grade" die Sucht nach sonderbaren,
Pikanten, Verblüffendem, Verletzendem aus¬
drücken dürfe, so hat gerade seine Praktische
Anwendung dazu geführt, daß manche unserer
größten Künstler jahrelang verkannt und ver¬
dammt worden sind. Wir werden zum min¬
desten, ehe wir ein Kunstwerk aus obigen
Gründen ablehnen, erst sehr sorgfältig prüfen
müssen, ob der verletzende Eindruck, den wir
dauernd empfinden, nicht in unserer Unfähig¬
keit begründet ist, fremden Anregungen zu
folgen oder ungewohnte Stimmungen nach¬
zuempfinden.

In den Abschnitten über die künstlerische
Erziehung, über den Wert und auch die Ge¬
fahr der heutigen Kunst für die Volkserziehung
weist Volkelt darauf hin, daß all die Leute,
die heutzutage das Schlagwort der „künst¬
lerischen Erziehung" im Munde führen, sich
über seine Bedeutung gar nicht einig sind.
Die größte Gefahr, die unserem Kulturleben
droht, sieht Volkelt in dein Überhandnehmen
der Erotik.

Volkelt ist durchaus nicht zu der Zahl
jener Prüden Sittenrichter zuzuzählen, die,
ohne wahres Verständnis für den künstlerischen
Gehalt eines Werkes, die Kunst nur als
Verschönert» des Lebens gelten lassen wollen
und vor der Nacktheit jeglicher Art nach dem
Schutzmann rufen. So spricht er z. B. voller
Bewunderung von den künstlerischen Stim¬
mungen und bestrickend schönen „Verbindungen
der Liebe mit großen Weltgefühlen", deren
Künstler mit krankhaft zerfressener Seele, wie
d'Anmmzio oderOskarWilde.dennoch fähig sind.

Er kommt zu dem Ergebnis, daß die
gefährlichste Seite an der gegenwärtigen
erotischen Bewegung darin bestehe, daß sie
das Schamgefühl als etwas Rückständiges
bekämpft. An Stelle der Sittlichkeit wollen
heutzutage Künstler und Dichter die „schranken¬
lose Hingabe an das Leben" gesetzt sehen.
Dem gegenüber weist Volkelt den Selbstwert
des Sittlichen, gegründet auf „AchtungS- und
Pflichtgefühl", nach und sieht in der allge¬
meinen Anerkennung dieses Grundsatzes ein
wirksames Mittel, unserer entarteten Über¬
kultur entgegenzuarbeiten. Mng man auch
den Ausführungen Volkelts nicht in allen
Einzelheiten beistimmen können — vielleicht
mißt er auch manchem modernen Auswuchs

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eine zu große Bedeutung bei —, in der Haupt¬
sache ist sein Buch von unschätzbarem Wert:
es klärt unsere Begriffe über grundlegende
ästhetische Fragen und öffnet uns die Augen
über die eminente Gefahr, die dein Volkswohl
von feiten einer auf Abwege geratenen Kunst¬
F.Moritz ausübung droht.

Schöne Literatur

Das Herz. Novellen von Heinrich Mann.
Leipzig, Inselverlag.

Außer fünf wenig bedeutsamen, aber sorg¬
fältig ausgeführten Charakterstudien enthält
der vorliegende Band zwei schon früher ver¬
öffentlichte größere Stücke: „Schauspielerin"
und „Gretchen". Ersteres ist eine Variation
des Ule-Thema aus deS Dichters „Jagd
nach Liebe". Die vorzugsweise ehrgeizige
Ule ist hier zur ursprünglichen echten Komö¬
diantin geworden, gleichzeitig aber ist Leonie
mehr Weib und liebt einen bis zur letzten
Konsequenz gesteigerten Claude, während der
frühere in dem den Modernen anscheinend
schon rein technisch unentbehrlichen Dritten
wiederholt wird. Und wie nun ein letzter
Nest tief eingewurzelter gut bürgerlicher Er¬
ziehung die Heldin hindert, sich wie Ales
Rivalin besinnungslos ihrer Leidenschaftlich¬
keit hinzugeben, und wie eben dadurch ihr
elementares Komödicmtentum bewahrt wird,
das ist mit großer Feinheit dargestellt und
durchgeführt, nur hätte der Schluß bei etwas
breiterer Ausführung für Unkundige viel¬
leicht an Überzeugungskraft gewonnen. In
„Gretchen" ist jener letzte Rest von Bürger¬
lichkeit zum Element geworden, wohingegen
das Romantische zu dem üblichen Backfisch-
schwarm fürs Theater, insbesondere für den
Bonvivant, zusammengeschrumpft ist. Und
auch dieser letzte Rest von Romantik wird
von den infolge eines höchst Peinlich-komischen
Erlebnisses siegreich anstürmenden Instinkten
ehrenfester Philiströsität auf immer bezwungen;
es triumphiert das Milieu der sächsischen
Bürgerfamilie, über das sich Man», durch
die Art, wie er es sieht, gerechtfertigt, weid¬
lich lustig macht. Wer Sinn hat für die
eigentümliche vom „Professor Unrat" her be¬
kannte „Rosserie" des Verfassers, wird dies
Kabinettstückchen mit großem Behagen ge¬
—a— nießen.

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[0577] Maßgebliches und Unmaßgebliches barem Grade" die Sucht nach sonderbaren, Pikanten, Verblüffendem, Verletzendem aus¬ drücken dürfe, so hat gerade seine Praktische Anwendung dazu geführt, daß manche unserer größten Künstler jahrelang verkannt und ver¬ dammt worden sind. Wir werden zum min¬ desten, ehe wir ein Kunstwerk aus obigen Gründen ablehnen, erst sehr sorgfältig prüfen müssen, ob der verletzende Eindruck, den wir dauernd empfinden, nicht in unserer Unfähig¬ keit begründet ist, fremden Anregungen zu folgen oder ungewohnte Stimmungen nach¬ zuempfinden. In den Abschnitten über die künstlerische Erziehung, über den Wert und auch die Ge¬ fahr der heutigen Kunst für die Volkserziehung weist Volkelt darauf hin, daß all die Leute, die heutzutage das Schlagwort der „künst¬ lerischen Erziehung" im Munde führen, sich über seine Bedeutung gar nicht einig sind. Die größte Gefahr, die unserem Kulturleben droht, sieht Volkelt in dein Überhandnehmen der Erotik. Volkelt ist durchaus nicht zu der Zahl jener Prüden Sittenrichter zuzuzählen, die, ohne wahres Verständnis für den künstlerischen Gehalt eines Werkes, die Kunst nur als Verschönert» des Lebens gelten lassen wollen und vor der Nacktheit jeglicher Art nach dem Schutzmann rufen. So spricht er z. B. voller Bewunderung von den künstlerischen Stim¬ mungen und bestrickend schönen „Verbindungen der Liebe mit großen Weltgefühlen", deren Künstler mit krankhaft zerfressener Seele, wie d'Anmmzio oderOskarWilde.dennoch fähig sind. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die gefährlichste Seite an der gegenwärtigen erotischen Bewegung darin bestehe, daß sie das Schamgefühl als etwas Rückständiges bekämpft. An Stelle der Sittlichkeit wollen heutzutage Künstler und Dichter die „schranken¬ lose Hingabe an das Leben" gesetzt sehen. Dem gegenüber weist Volkelt den Selbstwert des Sittlichen, gegründet auf „AchtungS- und Pflichtgefühl", nach und sieht in der allge¬ meinen Anerkennung dieses Grundsatzes ein wirksames Mittel, unserer entarteten Über¬ kultur entgegenzuarbeiten. Mng man auch den Ausführungen Volkelts nicht in allen Einzelheiten beistimmen können — vielleicht mißt er auch manchem modernen Auswuchs eine zu große Bedeutung bei —, in der Haupt¬ sache ist sein Buch von unschätzbarem Wert: es klärt unsere Begriffe über grundlegende ästhetische Fragen und öffnet uns die Augen über die eminente Gefahr, die dein Volkswohl von feiten einer auf Abwege geratenen Kunst¬ F.Moritz ausübung droht. Schöne Literatur Das Herz. Novellen von Heinrich Mann. Leipzig, Inselverlag. Außer fünf wenig bedeutsamen, aber sorg¬ fältig ausgeführten Charakterstudien enthält der vorliegende Band zwei schon früher ver¬ öffentlichte größere Stücke: „Schauspielerin" und „Gretchen". Ersteres ist eine Variation des Ule-Thema aus deS Dichters „Jagd nach Liebe". Die vorzugsweise ehrgeizige Ule ist hier zur ursprünglichen echten Komö¬ diantin geworden, gleichzeitig aber ist Leonie mehr Weib und liebt einen bis zur letzten Konsequenz gesteigerten Claude, während der frühere in dem den Modernen anscheinend schon rein technisch unentbehrlichen Dritten wiederholt wird. Und wie nun ein letzter Nest tief eingewurzelter gut bürgerlicher Er¬ ziehung die Heldin hindert, sich wie Ales Rivalin besinnungslos ihrer Leidenschaftlich¬ keit hinzugeben, und wie eben dadurch ihr elementares Komödicmtentum bewahrt wird, das ist mit großer Feinheit dargestellt und durchgeführt, nur hätte der Schluß bei etwas breiterer Ausführung für Unkundige viel¬ leicht an Überzeugungskraft gewonnen. In „Gretchen" ist jener letzte Rest von Bürger¬ lichkeit zum Element geworden, wohingegen das Romantische zu dem üblichen Backfisch- schwarm fürs Theater, insbesondere für den Bonvivant, zusammengeschrumpft ist. Und auch dieser letzte Rest von Romantik wird von den infolge eines höchst Peinlich-komischen Erlebnisses siegreich anstürmenden Instinkten ehrenfester Philiströsität auf immer bezwungen; es triumphiert das Milieu der sächsischen Bürgerfamilie, über das sich Man», durch die Art, wie er es sieht, gerechtfertigt, weid¬ lich lustig macht. Wer Sinn hat für die eigentümliche vom „Professor Unrat" her be¬ kannte „Rosserie" des Verfassers, wird dies Kabinettstückchen mit großem Behagen ge¬ —a— nießen. Grenzboten III 101172

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/577>, abgerufen am 29.12.2024.