Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

oder Nichtdürfen, noch um ein Wollen oder
Nichtwollen, sondern allemal um ein Sollen
handelt, also um selbständige Willensent¬
scheidungaus der Gesinnung durch die Vernunft.

Wie auch immer die Sittlichkeit inhaltlich
bestimmt werden mag, es werden nachstehende
Sätze für sie gelten:

Es gibt keine natürliche Sittlichkeit im
Sinne einer dein Menschen als Raturwesen
innewohnenden Willensbestimmtheit.

Es gibt keine vollendete und als solche
objektiv ergreifbare Sittlichkeit; sie besteht
allemal als Ergebnis eines geistigen Ent-
faltuugsProzesseS, welches je nach dem Stande
der Erkenntnis und nach dem Umfange seiner
Geltung sehr verschieden sein kann.

Auf jeder Erkenntnisstufe aber bedeutet
die Sittlichkeit eine absolute Forderung, die
den Wettbewerb mit der Zweckbestimmtheit
des natürlichen Willens ausschließt! denn die
Vernunft als die den sittlichen Willen be¬
stimmende Geistesbetätigung richtet den Willen
auf die unbedingte Wirklichkeit, in der alle
natürliche Willensbestimmtheit, wie alle Natur,
restlos aufgehen muß. Deshalb kann der
sittlich bestimmte Wille sein Ziel auch nicht
in der menschlichen Persönlichkeit suchen, denn
diese gehört dem in Raum und Zeit be¬
grenzten, also bedingten, natürlichen Sein an;
er muß auf die menschliche Gemeinschaft ge¬
richtet sein, und zwar auf deren geistige, nicht
auf ihre Förderung als Naturwesen.

Indem jedoch die Willenshandlung sich
nur im natürlichen Sein und Wirken voll¬
ziehen kann, darf sich das sittliche Urteil nicht
auf die Handlung, die mit den Sinnen wahr¬
nehmbare und mit dem Verstände ergreifbare
Tat gründen, sondern auf die Gesinnung, aus
der sie hervorgeht.

Weil endlich demi sittlichen Willen als
Wille seine Kraft aus der Natur, aus dein
gegebenen individuellen inneren Wirkungsver¬
mögen erwächst, kann er nicht gegen diese
Natur selbst gerichtet sein.

Wir erkennen die enge Verbindung der
Entfaltung der Sittlichkeit mit der Entwicklung
deS vernünftigen ans dem natürlichen Willen.
Dem Triebe gegenüber noch völlig versagend,
tritt das sittliche Urteil auf den höheren Stufen
der Entfaltung des natürlichen Willens schon
deutlich hervor, sich neben dem hier zunächst

[Spaltenumbruch]

allein herrschenden Urteil der Zweckmäßigkeit
zunehmend Geltung erringend, um dieses
im vernünftigen Willen schließlich ganz zu¬
gunsten des Urteils: "gut oder böse", "recht
oder unrecht" zu verdrängen. Hand in Hand
mit diesem Prozeß geht die Überwindung der
Nötigung durch die innere und äußere Natur
zugunsten der Freiheit der Willensbestimmung
aus der Vernunft.

Wie aber der Wille, auch als vernünftiger
Wille, sich nicht loslösen läßt vom Triebe, der
natürlichen Quelle seiner Kraft und der
ursprünglichen Form der Beteiligung des indi¬
viduellen Wirkungsvermögens überhaupt, so
darf die Natur nicht völlig losgelöst von der
Sittlichkeit, diese nicht als eine von jener un¬
abhängige Wirklichkeit verstanden werden. Die
Natur ist vielmehr der Grund und Boden,
aus dem mit der Willensbestimmung aus der
Vernunft auch die Sittlichkeit erwächst. Wie
der vernünftige Wille als die Veredelung des
Triebes, so erscheint die Sittlichkeit als die
Veredelung der menschlichen Natur durch die
G. Leo Vernunft.

Bildungsfragen

Friedrich Paniscus Pädagogik (Stuttgart
und Berlin, I. G. Cottasche Buchhandlung
Nachfolger).

Es konnte von Anfang an kein Zweifel
sein, daß des verewigten Paulsen Pädagogik
als Buch von einem weiten Leserkreise in
ganz Deutschland und noch in manchen
anderen Kulturländern freudig begrüßt werden
würde, und die Hinterbliebenen haben sehr
recht daran getan, diese Veröffentlichung
herbeizuführen. In der Tat steht wenige
Wochen noch der Ausgabe der ersten Exem¬
plare bereits "2. und 3. Auflage" auf dem
Titelblatt. Die vierstündige Wintervorlesung,
welche Paulsen jahrzehntelang an der Berliner
Universität gehalten hat, war bei den Stu¬
dierenden in besonderem Maße beliebt, und
die Gesamtzahl derer, die sie gehört haben,
beträgt sicher mehrere Tausend. Nun haben
auch Draußenstehende die Möglichkeit, sich mit
seinen Gedankengängen bokanntzumachen. Daß
diese von ihm im Lauf der Jahre immer wieder
revidiert wurden, wird man nicht bezweifeln;
zu neuen Erscheinungen im Erziehungswesen
wurde selbstverständlich Beziehung genommen.

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

oder Nichtdürfen, noch um ein Wollen oder
Nichtwollen, sondern allemal um ein Sollen
handelt, also um selbständige Willensent¬
scheidungaus der Gesinnung durch die Vernunft.

Wie auch immer die Sittlichkeit inhaltlich
bestimmt werden mag, es werden nachstehende
Sätze für sie gelten:

Es gibt keine natürliche Sittlichkeit im
Sinne einer dein Menschen als Raturwesen
innewohnenden Willensbestimmtheit.

Es gibt keine vollendete und als solche
objektiv ergreifbare Sittlichkeit; sie besteht
allemal als Ergebnis eines geistigen Ent-
faltuugsProzesseS, welches je nach dem Stande
der Erkenntnis und nach dem Umfange seiner
Geltung sehr verschieden sein kann.

Auf jeder Erkenntnisstufe aber bedeutet
die Sittlichkeit eine absolute Forderung, die
den Wettbewerb mit der Zweckbestimmtheit
des natürlichen Willens ausschließt! denn die
Vernunft als die den sittlichen Willen be¬
stimmende Geistesbetätigung richtet den Willen
auf die unbedingte Wirklichkeit, in der alle
natürliche Willensbestimmtheit, wie alle Natur,
restlos aufgehen muß. Deshalb kann der
sittlich bestimmte Wille sein Ziel auch nicht
in der menschlichen Persönlichkeit suchen, denn
diese gehört dem in Raum und Zeit be¬
grenzten, also bedingten, natürlichen Sein an;
er muß auf die menschliche Gemeinschaft ge¬
richtet sein, und zwar auf deren geistige, nicht
auf ihre Förderung als Naturwesen.

Indem jedoch die Willenshandlung sich
nur im natürlichen Sein und Wirken voll¬
ziehen kann, darf sich das sittliche Urteil nicht
auf die Handlung, die mit den Sinnen wahr¬
nehmbare und mit dem Verstände ergreifbare
Tat gründen, sondern auf die Gesinnung, aus
der sie hervorgeht.

Weil endlich demi sittlichen Willen als
Wille seine Kraft aus der Natur, aus dein
gegebenen individuellen inneren Wirkungsver¬
mögen erwächst, kann er nicht gegen diese
Natur selbst gerichtet sein.

Wir erkennen die enge Verbindung der
Entfaltung der Sittlichkeit mit der Entwicklung
deS vernünftigen ans dem natürlichen Willen.
Dem Triebe gegenüber noch völlig versagend,
tritt das sittliche Urteil auf den höheren Stufen
der Entfaltung des natürlichen Willens schon
deutlich hervor, sich neben dem hier zunächst

[Spaltenumbruch]

allein herrschenden Urteil der Zweckmäßigkeit
zunehmend Geltung erringend, um dieses
im vernünftigen Willen schließlich ganz zu¬
gunsten des Urteils: „gut oder böse", „recht
oder unrecht" zu verdrängen. Hand in Hand
mit diesem Prozeß geht die Überwindung der
Nötigung durch die innere und äußere Natur
zugunsten der Freiheit der Willensbestimmung
aus der Vernunft.

Wie aber der Wille, auch als vernünftiger
Wille, sich nicht loslösen läßt vom Triebe, der
natürlichen Quelle seiner Kraft und der
ursprünglichen Form der Beteiligung des indi¬
viduellen Wirkungsvermögens überhaupt, so
darf die Natur nicht völlig losgelöst von der
Sittlichkeit, diese nicht als eine von jener un¬
abhängige Wirklichkeit verstanden werden. Die
Natur ist vielmehr der Grund und Boden,
aus dem mit der Willensbestimmung aus der
Vernunft auch die Sittlichkeit erwächst. Wie
der vernünftige Wille als die Veredelung des
Triebes, so erscheint die Sittlichkeit als die
Veredelung der menschlichen Natur durch die
G. Leo Vernunft.

Bildungsfragen

Friedrich Paniscus Pädagogik (Stuttgart
und Berlin, I. G. Cottasche Buchhandlung
Nachfolger).

Es konnte von Anfang an kein Zweifel
sein, daß des verewigten Paulsen Pädagogik
als Buch von einem weiten Leserkreise in
ganz Deutschland und noch in manchen
anderen Kulturländern freudig begrüßt werden
würde, und die Hinterbliebenen haben sehr
recht daran getan, diese Veröffentlichung
herbeizuführen. In der Tat steht wenige
Wochen noch der Ausgabe der ersten Exem¬
plare bereits „2. und 3. Auflage" auf dem
Titelblatt. Die vierstündige Wintervorlesung,
welche Paulsen jahrzehntelang an der Berliner
Universität gehalten hat, war bei den Stu¬
dierenden in besonderem Maße beliebt, und
die Gesamtzahl derer, die sie gehört haben,
beträgt sicher mehrere Tausend. Nun haben
auch Draußenstehende die Möglichkeit, sich mit
seinen Gedankengängen bokanntzumachen. Daß
diese von ihm im Lauf der Jahre immer wieder
revidiert wurden, wird man nicht bezweifeln;
zu neuen Erscheinungen im Erziehungswesen
wurde selbstverständlich Beziehung genommen.

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0290" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319237"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_1636" prev="#ID_1635"> oder Nichtdürfen, noch um ein Wollen oder<lb/>
Nichtwollen, sondern allemal um ein Sollen<lb/>
handelt, also um selbständige Willensent¬<lb/>
scheidungaus der Gesinnung durch die Vernunft.</p>
            <p xml:id="ID_1637"> Wie auch immer die Sittlichkeit inhaltlich<lb/>
bestimmt werden mag, es werden nachstehende<lb/>
Sätze für sie gelten:</p>
            <p xml:id="ID_1638"> Es gibt keine natürliche Sittlichkeit im<lb/>
Sinne einer dein Menschen als Raturwesen<lb/>
innewohnenden Willensbestimmtheit.</p>
            <p xml:id="ID_1639"> Es gibt keine vollendete und als solche<lb/>
objektiv ergreifbare Sittlichkeit; sie besteht<lb/>
allemal als Ergebnis eines geistigen Ent-<lb/>
faltuugsProzesseS, welches je nach dem Stande<lb/>
der Erkenntnis und nach dem Umfange seiner<lb/>
Geltung sehr verschieden sein kann.</p>
            <p xml:id="ID_1640"> Auf jeder Erkenntnisstufe aber bedeutet<lb/>
die Sittlichkeit eine absolute Forderung, die<lb/>
den Wettbewerb mit der Zweckbestimmtheit<lb/>
des natürlichen Willens ausschließt! denn die<lb/>
Vernunft als die den sittlichen Willen be¬<lb/>
stimmende Geistesbetätigung richtet den Willen<lb/>
auf die unbedingte Wirklichkeit, in der alle<lb/>
natürliche Willensbestimmtheit, wie alle Natur,<lb/>
restlos aufgehen muß. Deshalb kann der<lb/>
sittlich bestimmte Wille sein Ziel auch nicht<lb/>
in der menschlichen Persönlichkeit suchen, denn<lb/>
diese gehört dem in Raum und Zeit be¬<lb/>
grenzten, also bedingten, natürlichen Sein an;<lb/>
er muß auf die menschliche Gemeinschaft ge¬<lb/>
richtet sein, und zwar auf deren geistige, nicht<lb/>
auf ihre Förderung als Naturwesen.</p>
            <p xml:id="ID_1641"> Indem jedoch die Willenshandlung sich<lb/>
nur im natürlichen Sein und Wirken voll¬<lb/>
ziehen kann, darf sich das sittliche Urteil nicht<lb/>
auf die Handlung, die mit den Sinnen wahr¬<lb/>
nehmbare und mit dem Verstände ergreifbare<lb/>
Tat gründen, sondern auf die Gesinnung, aus<lb/>
der sie hervorgeht.</p>
            <p xml:id="ID_1642"> Weil endlich demi sittlichen Willen als<lb/>
Wille seine Kraft aus der Natur, aus dein<lb/>
gegebenen individuellen inneren Wirkungsver¬<lb/>
mögen erwächst, kann er nicht gegen diese<lb/>
Natur selbst gerichtet sein.</p>
            <p xml:id="ID_1643" next="#ID_1644"> Wir erkennen die enge Verbindung der<lb/>
Entfaltung der Sittlichkeit mit der Entwicklung<lb/>
deS vernünftigen ans dem natürlichen Willen.<lb/>
Dem Triebe gegenüber noch völlig versagend,<lb/>
tritt das sittliche Urteil auf den höheren Stufen<lb/>
der Entfaltung des natürlichen Willens schon<lb/>
deutlich hervor, sich neben dem hier zunächst</p>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_1644" prev="#ID_1643"> allein herrschenden Urteil der Zweckmäßigkeit<lb/>
zunehmend Geltung erringend, um dieses<lb/>
im vernünftigen Willen schließlich ganz zu¬<lb/>
gunsten des Urteils: &#x201E;gut oder böse", &#x201E;recht<lb/>
oder unrecht" zu verdrängen. Hand in Hand<lb/>
mit diesem Prozeß geht die Überwindung der<lb/>
Nötigung durch die innere und äußere Natur<lb/>
zugunsten der Freiheit der Willensbestimmung<lb/>
aus der Vernunft.</p>
            <p xml:id="ID_1645"> Wie aber der Wille, auch als vernünftiger<lb/>
Wille, sich nicht loslösen läßt vom Triebe, der<lb/>
natürlichen Quelle seiner Kraft und der<lb/>
ursprünglichen Form der Beteiligung des indi¬<lb/>
viduellen Wirkungsvermögens überhaupt, so<lb/>
darf die Natur nicht völlig losgelöst von der<lb/>
Sittlichkeit, diese nicht als eine von jener un¬<lb/>
abhängige Wirklichkeit verstanden werden. Die<lb/>
Natur ist vielmehr der Grund und Boden,<lb/>
aus dem mit der Willensbestimmung aus der<lb/>
Vernunft auch die Sittlichkeit erwächst. Wie<lb/>
der vernünftige Wille als die Veredelung des<lb/>
Triebes, so erscheint die Sittlichkeit als die<lb/>
Veredelung der menschlichen Natur durch die<lb/><note type="byline"> G. Leo</note> Vernunft. </p>
          </div>
          <div n="2">
            <head> Bildungsfragen</head>
            <p xml:id="ID_1646"> Friedrich Paniscus Pädagogik (Stuttgart<lb/>
und Berlin, I. G. Cottasche Buchhandlung<lb/>
Nachfolger).</p>
            <p xml:id="ID_1647" next="#ID_1648"> Es konnte von Anfang an kein Zweifel<lb/>
sein, daß des verewigten Paulsen Pädagogik<lb/>
als Buch von einem weiten Leserkreise in<lb/>
ganz Deutschland und noch in manchen<lb/>
anderen Kulturländern freudig begrüßt werden<lb/>
würde, und die Hinterbliebenen haben sehr<lb/>
recht daran getan, diese Veröffentlichung<lb/>
herbeizuführen. In der Tat steht wenige<lb/>
Wochen noch der Ausgabe der ersten Exem¬<lb/>
plare bereits &#x201E;2. und 3. Auflage" auf dem<lb/>
Titelblatt. Die vierstündige Wintervorlesung,<lb/>
welche Paulsen jahrzehntelang an der Berliner<lb/>
Universität gehalten hat, war bei den Stu¬<lb/>
dierenden in besonderem Maße beliebt, und<lb/>
die Gesamtzahl derer, die sie gehört haben,<lb/>
beträgt sicher mehrere Tausend. Nun haben<lb/>
auch Draußenstehende die Möglichkeit, sich mit<lb/>
seinen Gedankengängen bokanntzumachen. Daß<lb/>
diese von ihm im Lauf der Jahre immer wieder<lb/>
revidiert wurden, wird man nicht bezweifeln;<lb/>
zu neuen Erscheinungen im Erziehungswesen<lb/>
wurde selbstverständlich Beziehung genommen.</p>
            <cb type="end"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0290] Maßgebliches und Unmaßgebliches oder Nichtdürfen, noch um ein Wollen oder Nichtwollen, sondern allemal um ein Sollen handelt, also um selbständige Willensent¬ scheidungaus der Gesinnung durch die Vernunft. Wie auch immer die Sittlichkeit inhaltlich bestimmt werden mag, es werden nachstehende Sätze für sie gelten: Es gibt keine natürliche Sittlichkeit im Sinne einer dein Menschen als Raturwesen innewohnenden Willensbestimmtheit. Es gibt keine vollendete und als solche objektiv ergreifbare Sittlichkeit; sie besteht allemal als Ergebnis eines geistigen Ent- faltuugsProzesseS, welches je nach dem Stande der Erkenntnis und nach dem Umfange seiner Geltung sehr verschieden sein kann. Auf jeder Erkenntnisstufe aber bedeutet die Sittlichkeit eine absolute Forderung, die den Wettbewerb mit der Zweckbestimmtheit des natürlichen Willens ausschließt! denn die Vernunft als die den sittlichen Willen be¬ stimmende Geistesbetätigung richtet den Willen auf die unbedingte Wirklichkeit, in der alle natürliche Willensbestimmtheit, wie alle Natur, restlos aufgehen muß. Deshalb kann der sittlich bestimmte Wille sein Ziel auch nicht in der menschlichen Persönlichkeit suchen, denn diese gehört dem in Raum und Zeit be¬ grenzten, also bedingten, natürlichen Sein an; er muß auf die menschliche Gemeinschaft ge¬ richtet sein, und zwar auf deren geistige, nicht auf ihre Förderung als Naturwesen. Indem jedoch die Willenshandlung sich nur im natürlichen Sein und Wirken voll¬ ziehen kann, darf sich das sittliche Urteil nicht auf die Handlung, die mit den Sinnen wahr¬ nehmbare und mit dem Verstände ergreifbare Tat gründen, sondern auf die Gesinnung, aus der sie hervorgeht. Weil endlich demi sittlichen Willen als Wille seine Kraft aus der Natur, aus dein gegebenen individuellen inneren Wirkungsver¬ mögen erwächst, kann er nicht gegen diese Natur selbst gerichtet sein. Wir erkennen die enge Verbindung der Entfaltung der Sittlichkeit mit der Entwicklung deS vernünftigen ans dem natürlichen Willen. Dem Triebe gegenüber noch völlig versagend, tritt das sittliche Urteil auf den höheren Stufen der Entfaltung des natürlichen Willens schon deutlich hervor, sich neben dem hier zunächst allein herrschenden Urteil der Zweckmäßigkeit zunehmend Geltung erringend, um dieses im vernünftigen Willen schließlich ganz zu¬ gunsten des Urteils: „gut oder böse", „recht oder unrecht" zu verdrängen. Hand in Hand mit diesem Prozeß geht die Überwindung der Nötigung durch die innere und äußere Natur zugunsten der Freiheit der Willensbestimmung aus der Vernunft. Wie aber der Wille, auch als vernünftiger Wille, sich nicht loslösen läßt vom Triebe, der natürlichen Quelle seiner Kraft und der ursprünglichen Form der Beteiligung des indi¬ viduellen Wirkungsvermögens überhaupt, so darf die Natur nicht völlig losgelöst von der Sittlichkeit, diese nicht als eine von jener un¬ abhängige Wirklichkeit verstanden werden. Die Natur ist vielmehr der Grund und Boden, aus dem mit der Willensbestimmung aus der Vernunft auch die Sittlichkeit erwächst. Wie der vernünftige Wille als die Veredelung des Triebes, so erscheint die Sittlichkeit als die Veredelung der menschlichen Natur durch die G. Leo Vernunft. Bildungsfragen Friedrich Paniscus Pädagogik (Stuttgart und Berlin, I. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger). Es konnte von Anfang an kein Zweifel sein, daß des verewigten Paulsen Pädagogik als Buch von einem weiten Leserkreise in ganz Deutschland und noch in manchen anderen Kulturländern freudig begrüßt werden würde, und die Hinterbliebenen haben sehr recht daran getan, diese Veröffentlichung herbeizuführen. In der Tat steht wenige Wochen noch der Ausgabe der ersten Exem¬ plare bereits „2. und 3. Auflage" auf dem Titelblatt. Die vierstündige Wintervorlesung, welche Paulsen jahrzehntelang an der Berliner Universität gehalten hat, war bei den Stu¬ dierenden in besonderem Maße beliebt, und die Gesamtzahl derer, die sie gehört haben, beträgt sicher mehrere Tausend. Nun haben auch Draußenstehende die Möglichkeit, sich mit seinen Gedankengängen bokanntzumachen. Daß diese von ihm im Lauf der Jahre immer wieder revidiert wurden, wird man nicht bezweifeln; zu neuen Erscheinungen im Erziehungswesen wurde selbstverständlich Beziehung genommen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/290
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/290>, abgerufen am 29.12.2024.