Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Gerichte und öffentliche Meinung von D>'. RoUind Behrend n einem unter dem Titel "Gerichte und öffentliche Meinung" Kulemann argumentiert folgendermaßen: Das gerichtliche Verfahren hat den Einzelfall durch Anwendung der Hier könnte mau nun wohl mit guten Gründen entgegengesetzter Ansicht Gerichte und öffentliche Meinung von D>'. RoUind Behrend n einem unter dem Titel „Gerichte und öffentliche Meinung" Kulemann argumentiert folgendermaßen: Das gerichtliche Verfahren hat den Einzelfall durch Anwendung der Hier könnte mau nun wohl mit guten Gründen entgegengesetzter Ansicht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0220" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319169"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341893_318948/figures/grenzboten_341893_318948_319169_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Gerichte und öffentliche Meinung<lb/><note type="byline"> von D>'. RoUind Behrend</note></head><lb/> <p xml:id="ID_1350"> n einem unter dem Titel „Gerichte und öffentliche Meinung"<lb/> in der Deutschen Juristenzeitung (1911 Ur. 12) .veröffentlichten<lb/> Aufsatz wendet sich Landgerichtsrat Kulemann in Bremen gegen<lb/> den Satz, daß es uicht zulässig sei, in ein schwebendes gerichtliches<lb/> Verfahren einzugreifen. Er unternimmt, „das bisher Verpönte . . .<lb/> ganz allgemein für gut und nützlich zu erklären, ja es als Pflicht zu fordern".<lb/> Da die Ergebnisse solcher Ausführungen in die Tagespresse leicht ohne weitere<lb/> Prüfung übernommen werden — in diesem Fall um so eher, als es gewissen<lb/> Organen derselben sehr willkommen sein wird, über Sensationsprozesse unter<lb/> Berufung auf richterliche Billigung mit gutem Gewissen berichten zu können,<lb/> ja zu müssen —, scheint es mir Pflicht, ihnen entgegenzutreten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1351"> Kulemann argumentiert folgendermaßen:</p><lb/> <p xml:id="ID_1352"> Das gerichtliche Verfahren hat den Einzelfall durch Anwendung der<lb/> allgemeinen Rechtsvorschriften zu entscheiden. Diese Aufgabe, an sich nicht leicht,<lb/> ist heutzutage besonders schwierig, weil unsere Gesetzgebung oft nur allgemeine<lb/> Sätze aufstellt, nach denen der Richter den Einzelfall frei zu beurteilen hat.<lb/> Die kollegiale Besetzung der Gerichte ist das wertvollste Mittel, den so ent¬<lb/> stehenden Schwierigkeiten zu begegnen. Bei fünf oder sieben Richtern ist besser<lb/> als bei einer geringeren Zahl oder gar bei einem Einzelrichter dafür gesorgt,<lb/> daß die Sache von allen Seiten beleuchtet und jede erwägenswerte Ansicht ver¬<lb/> treten wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_1353" next="#ID_1354"> Hier könnte mau nun wohl mit guten Gründen entgegengesetzter Ansicht<lb/> sein. Man könnte die Auffassung, daß sieben Männer klüger sind als einer,<lb/> als den Grundirrtum unserer Gerichtsverfassung bezeichnen. Hervorragende<lb/> Juristen sind ebenso selten wie hervorragende Vertreter anderer Tätigkeiten.<lb/> Eine geeignete Justizverfassung und -Verwaltung werden es ermöglichen, viele<lb/> wichtige Richterstellen mit Männern zu besetzen, die den Durchschnitt überragen:<lb/> einen einzigen Reichsgerichtsscnat mit sieben hervorragenden Juristen zu<lb/> besetzen ist eine Aufgabe, die auch der fähigste Justizminister vermutlich nicht<lb/> lösen könnte. Mit naturgesetzlicher Notwendigkeit setzt sich im Kollegium die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0220]
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Gerichte und öffentliche Meinung
von D>'. RoUind Behrend
n einem unter dem Titel „Gerichte und öffentliche Meinung"
in der Deutschen Juristenzeitung (1911 Ur. 12) .veröffentlichten
Aufsatz wendet sich Landgerichtsrat Kulemann in Bremen gegen
den Satz, daß es uicht zulässig sei, in ein schwebendes gerichtliches
Verfahren einzugreifen. Er unternimmt, „das bisher Verpönte . . .
ganz allgemein für gut und nützlich zu erklären, ja es als Pflicht zu fordern".
Da die Ergebnisse solcher Ausführungen in die Tagespresse leicht ohne weitere
Prüfung übernommen werden — in diesem Fall um so eher, als es gewissen
Organen derselben sehr willkommen sein wird, über Sensationsprozesse unter
Berufung auf richterliche Billigung mit gutem Gewissen berichten zu können,
ja zu müssen —, scheint es mir Pflicht, ihnen entgegenzutreten.
Kulemann argumentiert folgendermaßen:
Das gerichtliche Verfahren hat den Einzelfall durch Anwendung der
allgemeinen Rechtsvorschriften zu entscheiden. Diese Aufgabe, an sich nicht leicht,
ist heutzutage besonders schwierig, weil unsere Gesetzgebung oft nur allgemeine
Sätze aufstellt, nach denen der Richter den Einzelfall frei zu beurteilen hat.
Die kollegiale Besetzung der Gerichte ist das wertvollste Mittel, den so ent¬
stehenden Schwierigkeiten zu begegnen. Bei fünf oder sieben Richtern ist besser
als bei einer geringeren Zahl oder gar bei einem Einzelrichter dafür gesorgt,
daß die Sache von allen Seiten beleuchtet und jede erwägenswerte Ansicht ver¬
treten wird.
Hier könnte mau nun wohl mit guten Gründen entgegengesetzter Ansicht
sein. Man könnte die Auffassung, daß sieben Männer klüger sind als einer,
als den Grundirrtum unserer Gerichtsverfassung bezeichnen. Hervorragende
Juristen sind ebenso selten wie hervorragende Vertreter anderer Tätigkeiten.
Eine geeignete Justizverfassung und -Verwaltung werden es ermöglichen, viele
wichtige Richterstellen mit Männern zu besetzen, die den Durchschnitt überragen:
einen einzigen Reichsgerichtsscnat mit sieben hervorragenden Juristen zu
besetzen ist eine Aufgabe, die auch der fähigste Justizminister vermutlich nicht
lösen könnte. Mit naturgesetzlicher Notwendigkeit setzt sich im Kollegium die
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