Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus Briefen der Ulcrthcrzcit

genossen den Redner mißverstanden und er in dem allgemeinen Tumult minuten¬
lang nicht zu Worte kam. Tatsächlich hatte er in diesem Augenblick durch die
Bekundung eines nationalen Sinnes von antiker Einfalt und Stärke alle Freunde
und Gegner mit einem Sprunge überholt. Aus solchem Holz mußte der Staats¬
mann geschnitzt sein, der dem Elend unserer staatlichen Zerrissenheit ein Ende
machen sollte.

Betrachten wir rückblickend den weiten Umweg, auf dem Bismarcks Genius
seinen Lebensberuf erreichte, so glauben wir Faustens Ausruf zu hören: "Ach
unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden, sie hemmen unsres Lebens Gang."
Jahrelang fühlt er sich vom Staatsdienst wie von der Landwirtschaft abwechselnd
angezogen und abgestoßen, und sichtlich hängt der jeweilige Überdruß mit der
schmerzenden Einsicht zusammen, daß sein ungestümes Temperament jede Schranke
des Berufs durchbricht. Das ist in der Tat der stärkste Eindruck, den das Buch
von Marcks in uns hinterläßt: eine unersättliche Kraft, deren Übermaß ihr
Ausreifen verzögert und die in jähem Wechsel von Anstieg und Absprung ein
aus Bewunderung und Teilnahme gemischtes Gefühl in uns erregt. Fast will
es scheinen, als gehörte dieser faustische Sturm und Drang zum Entwickelungs¬
gange der großen Männer unseres Volkes. Stürme der Leidenschaft müssen erst
ihr Inneres in seinen Tiefen aufwühlen, ehe ihre Vernunft die Oberhand
gewinnt und ihre Kräfte den unpersönlichen Aufgaben der Allgemeinheit dienstbar
macht. Wenn dem aber so ist, wenn die weiträumige und tiefgründige Anlage
des Deutschen ein langsameres Wachstum bedingt, dann erkennen wir auch in
dem "tollen Bismarck" dieser Jugendjahre nicht ohne innere Ergriffenheit den
echten Sohn seines Volkes.




Aus Briefen der Wertherzeit
Hermann Bräuning - Vktavio von (Nachdruck verboten.)
IV.

Darmstadt, den 12. Januar 1778.

. . . Von Lavater sagt man, wie folgt (ob die Nachricht kanonisch oder
apokryptisch ist, weiß ich nicht gewiß; ich theile sie Ihnen genau mit) hören
Sie dann: Lavater, der gehört, daß seine Gläubigen in Deutschland u.a. -
^ s^ZTr^ -- durch Nicolais 1777 in Berlin und Leipzig erschienene
Schriften im Glauben zu wanken anfingen, ja den Abfall drohten: will sich,
von Häfeli und Stolz begleitet, im kommenden Frühling aufmachen, und
gen Deutschland ziehen, tun theils die Schwachen in: Glauben zu stärken und
weiter zu gründen, theils, wo möglich seine Gemeinen noch zu vergrößern, --
zuvörderst denn, um seine Wunderkraft zu legitimieren, und allen Zweiflern


Aus Briefen der Ulcrthcrzcit

genossen den Redner mißverstanden und er in dem allgemeinen Tumult minuten¬
lang nicht zu Worte kam. Tatsächlich hatte er in diesem Augenblick durch die
Bekundung eines nationalen Sinnes von antiker Einfalt und Stärke alle Freunde
und Gegner mit einem Sprunge überholt. Aus solchem Holz mußte der Staats¬
mann geschnitzt sein, der dem Elend unserer staatlichen Zerrissenheit ein Ende
machen sollte.

Betrachten wir rückblickend den weiten Umweg, auf dem Bismarcks Genius
seinen Lebensberuf erreichte, so glauben wir Faustens Ausruf zu hören: „Ach
unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden, sie hemmen unsres Lebens Gang."
Jahrelang fühlt er sich vom Staatsdienst wie von der Landwirtschaft abwechselnd
angezogen und abgestoßen, und sichtlich hängt der jeweilige Überdruß mit der
schmerzenden Einsicht zusammen, daß sein ungestümes Temperament jede Schranke
des Berufs durchbricht. Das ist in der Tat der stärkste Eindruck, den das Buch
von Marcks in uns hinterläßt: eine unersättliche Kraft, deren Übermaß ihr
Ausreifen verzögert und die in jähem Wechsel von Anstieg und Absprung ein
aus Bewunderung und Teilnahme gemischtes Gefühl in uns erregt. Fast will
es scheinen, als gehörte dieser faustische Sturm und Drang zum Entwickelungs¬
gange der großen Männer unseres Volkes. Stürme der Leidenschaft müssen erst
ihr Inneres in seinen Tiefen aufwühlen, ehe ihre Vernunft die Oberhand
gewinnt und ihre Kräfte den unpersönlichen Aufgaben der Allgemeinheit dienstbar
macht. Wenn dem aber so ist, wenn die weiträumige und tiefgründige Anlage
des Deutschen ein langsameres Wachstum bedingt, dann erkennen wir auch in
dem „tollen Bismarck" dieser Jugendjahre nicht ohne innere Ergriffenheit den
echten Sohn seines Volkes.




Aus Briefen der Wertherzeit
Hermann Bräuning - Vktavio von (Nachdruck verboten.)
IV.

Darmstadt, den 12. Januar 1778.

. . . Von Lavater sagt man, wie folgt (ob die Nachricht kanonisch oder
apokryptisch ist, weiß ich nicht gewiß; ich theile sie Ihnen genau mit) hören
Sie dann: Lavater, der gehört, daß seine Gläubigen in Deutschland u.a. -
^ s^ZTr^ — durch Nicolais 1777 in Berlin und Leipzig erschienene
Schriften im Glauben zu wanken anfingen, ja den Abfall drohten: will sich,
von Häfeli und Stolz begleitet, im kommenden Frühling aufmachen, und
gen Deutschland ziehen, tun theils die Schwachen in: Glauben zu stärken und
weiter zu gründen, theils, wo möglich seine Gemeinen noch zu vergrößern, —
zuvörderst denn, um seine Wunderkraft zu legitimieren, und allen Zweiflern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0625" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318238"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus Briefen der Ulcrthcrzcit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2796" prev="#ID_2795"> genossen den Redner mißverstanden und er in dem allgemeinen Tumult minuten¬<lb/>
lang nicht zu Worte kam. Tatsächlich hatte er in diesem Augenblick durch die<lb/>
Bekundung eines nationalen Sinnes von antiker Einfalt und Stärke alle Freunde<lb/>
und Gegner mit einem Sprunge überholt. Aus solchem Holz mußte der Staats¬<lb/>
mann geschnitzt sein, der dem Elend unserer staatlichen Zerrissenheit ein Ende<lb/>
machen sollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2797"> Betrachten wir rückblickend den weiten Umweg, auf dem Bismarcks Genius<lb/>
seinen Lebensberuf erreichte, so glauben wir Faustens Ausruf zu hören: &#x201E;Ach<lb/>
unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden, sie hemmen unsres Lebens Gang."<lb/>
Jahrelang fühlt er sich vom Staatsdienst wie von der Landwirtschaft abwechselnd<lb/>
angezogen und abgestoßen, und sichtlich hängt der jeweilige Überdruß mit der<lb/>
schmerzenden Einsicht zusammen, daß sein ungestümes Temperament jede Schranke<lb/>
des Berufs durchbricht. Das ist in der Tat der stärkste Eindruck, den das Buch<lb/>
von Marcks in uns hinterläßt: eine unersättliche Kraft, deren Übermaß ihr<lb/>
Ausreifen verzögert und die in jähem Wechsel von Anstieg und Absprung ein<lb/>
aus Bewunderung und Teilnahme gemischtes Gefühl in uns erregt. Fast will<lb/>
es scheinen, als gehörte dieser faustische Sturm und Drang zum Entwickelungs¬<lb/>
gange der großen Männer unseres Volkes. Stürme der Leidenschaft müssen erst<lb/>
ihr Inneres in seinen Tiefen aufwühlen, ehe ihre Vernunft die Oberhand<lb/>
gewinnt und ihre Kräfte den unpersönlichen Aufgaben der Allgemeinheit dienstbar<lb/>
macht. Wenn dem aber so ist, wenn die weiträumige und tiefgründige Anlage<lb/>
des Deutschen ein langsameres Wachstum bedingt, dann erkennen wir auch in<lb/>
dem &#x201E;tollen Bismarck" dieser Jugendjahre nicht ohne innere Ergriffenheit den<lb/>
echten Sohn seines Volkes.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Aus Briefen der Wertherzeit<lb/><note type="byline"> Hermann Bräuning - Vktavio</note> von (Nachdruck verboten.)<lb/>
IV.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_2798"> Darmstadt, den 12. Januar 1778.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2799" next="#ID_2800"> . . . Von Lavater sagt man, wie folgt (ob die Nachricht kanonisch oder<lb/>
apokryptisch ist, weiß ich nicht gewiß; ich theile sie Ihnen genau mit) hören<lb/>
Sie dann: Lavater, der gehört, daß seine Gläubigen in Deutschland u.a. -<lb/>
^ s^ZTr^ &#x2014; durch Nicolais 1777 in Berlin und Leipzig erschienene<lb/>
Schriften im Glauben zu wanken anfingen, ja den Abfall drohten: will sich,<lb/>
von Häfeli und Stolz begleitet, im kommenden Frühling aufmachen, und<lb/>
gen Deutschland ziehen, tun theils die Schwachen in: Glauben zu stärken und<lb/>
weiter zu gründen, theils, wo möglich seine Gemeinen noch zu vergrößern, &#x2014;<lb/>
zuvörderst denn, um seine Wunderkraft zu legitimieren, und allen Zweiflern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0625] Aus Briefen der Ulcrthcrzcit genossen den Redner mißverstanden und er in dem allgemeinen Tumult minuten¬ lang nicht zu Worte kam. Tatsächlich hatte er in diesem Augenblick durch die Bekundung eines nationalen Sinnes von antiker Einfalt und Stärke alle Freunde und Gegner mit einem Sprunge überholt. Aus solchem Holz mußte der Staats¬ mann geschnitzt sein, der dem Elend unserer staatlichen Zerrissenheit ein Ende machen sollte. Betrachten wir rückblickend den weiten Umweg, auf dem Bismarcks Genius seinen Lebensberuf erreichte, so glauben wir Faustens Ausruf zu hören: „Ach unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden, sie hemmen unsres Lebens Gang." Jahrelang fühlt er sich vom Staatsdienst wie von der Landwirtschaft abwechselnd angezogen und abgestoßen, und sichtlich hängt der jeweilige Überdruß mit der schmerzenden Einsicht zusammen, daß sein ungestümes Temperament jede Schranke des Berufs durchbricht. Das ist in der Tat der stärkste Eindruck, den das Buch von Marcks in uns hinterläßt: eine unersättliche Kraft, deren Übermaß ihr Ausreifen verzögert und die in jähem Wechsel von Anstieg und Absprung ein aus Bewunderung und Teilnahme gemischtes Gefühl in uns erregt. Fast will es scheinen, als gehörte dieser faustische Sturm und Drang zum Entwickelungs¬ gange der großen Männer unseres Volkes. Stürme der Leidenschaft müssen erst ihr Inneres in seinen Tiefen aufwühlen, ehe ihre Vernunft die Oberhand gewinnt und ihre Kräfte den unpersönlichen Aufgaben der Allgemeinheit dienstbar macht. Wenn dem aber so ist, wenn die weiträumige und tiefgründige Anlage des Deutschen ein langsameres Wachstum bedingt, dann erkennen wir auch in dem „tollen Bismarck" dieser Jugendjahre nicht ohne innere Ergriffenheit den echten Sohn seines Volkes. Aus Briefen der Wertherzeit Hermann Bräuning - Vktavio von (Nachdruck verboten.) IV. Darmstadt, den 12. Januar 1778. . . . Von Lavater sagt man, wie folgt (ob die Nachricht kanonisch oder apokryptisch ist, weiß ich nicht gewiß; ich theile sie Ihnen genau mit) hören Sie dann: Lavater, der gehört, daß seine Gläubigen in Deutschland u.a. - ^ s^ZTr^ — durch Nicolais 1777 in Berlin und Leipzig erschienene Schriften im Glauben zu wanken anfingen, ja den Abfall drohten: will sich, von Häfeli und Stolz begleitet, im kommenden Frühling aufmachen, und gen Deutschland ziehen, tun theils die Schwachen in: Glauben zu stärken und weiter zu gründen, theils, wo möglich seine Gemeinen noch zu vergrößern, — zuvörderst denn, um seine Wunderkraft zu legitimieren, und allen Zweiflern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/625
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/625>, abgerufen am 27.12.2024.