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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Aarl Goldmann von

^Is der fromme Gelehrte Praeclarus die letzte Seite seines Werkes:
"Utrum sola rationalis aniwÄ sit sudieotum innÄösionis omnium
j Lonceptuum suorum (tamczuÄM rllcjiationum A sensationibuL
reesptarum) vel totum compositum ex orMno et Sulina problema"
I abgeschlossen hatte, wurde er zu einem Schwerkranken gerufen, der
vor seinem nahenden Ende den Trost und die Belehrung des leuchtenden Kirchen¬
mannes begehrte. Noch ganz erfüllt von dem Gedanken an das vollendete Riesen¬
werk und mit dem Zusammensuchen der zum Ausgehen nötigen Kleidungsstücke
beschäftigt, verspätete sich der Gelehrte, so daß, als er aus dem Hause trat, schon
das Glöcklein ertönte, das zu Alexandria die letzte Stunde eines Menschen
anzumelden pflegte.

In den Straßen lärmte das leichte Leben der Morgenstunden, Käufer drängten
sich um die Karren voll Gemüse und Früchten, Schlächter hieben mit blinkendem
Beil in rote Fleischstücke, Rinder, Esel und Schafe brüllten durcheinander. Der in
tiefe Gedanken Versunkene hastete durchs Gedränge, da drohte den eilenden Mann
ein unvorhergesehenes Geschehnis zu hemmen. Ein Schneidergeselle, der arbeitend
an dem höchsten Fenster eines der um den Markt liegenden Häuser gesessen hatte,
verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in den Abgrund. Das Volksgewimmel
schrie vielfach auf, jeder wollte retten, auch Praeclarus; aber da ihm jede Sekunde
eine Ewigkeit wert war, vermochte er es durch die Kraft seines heiligen Gedankens,
daß der Schneider in einem leichten Bogen in den Lüften schweben blieb -- so
lange, bis der Heilige, von dem Sterbenden zurückgekehrt, das Rettungswerk
vollenden konnte.

Dieses mächtige Wunder versetzte das Volk von Alexandria in einen großen
Freudentaumel. Man hielt glänzende Feste; tausend Heiden traten zu den Gläu¬
bigen über, deren Reihen allerdings durch eine das Fest beschließende Massen¬
metzelei um dieselbe Zahl verringert wurden.

Satan aber -- man war damals zwischen den Epochen und der Luzifer der
alten Welt war noch nicht gänzlich zum Teufel geworden -- Satan, der von dem
Wunder durch den Klerus erfahren hatte, geriet in die schlimmste Laune, die
Wundertätigkeiten der neueren Zeit beunruhigten ihn längst. Unter dem voraus¬
gegangenen Weltregiment wären sie unmöglich gewesen. Götter, Halbgötter und
Menschen fuhren von Anbeginn gleich sicheren Schiffen in vorgezeichneten Kreisen
dahin, und niemand hätte es gewagt, aus dem seinen heraustretend den des
anderen zu stören. Diese harmonische Begrenztheit der einzelnen Sphären wurde




aräen8
Aarl Goldmann von

^Is der fromme Gelehrte Praeclarus die letzte Seite seines Werkes:
„Utrum sola rationalis aniwÄ sit sudieotum innÄösionis omnium
j Lonceptuum suorum (tamczuÄM rllcjiationum A sensationibuL
reesptarum) vel totum compositum ex orMno et Sulina problema"
I abgeschlossen hatte, wurde er zu einem Schwerkranken gerufen, der
vor seinem nahenden Ende den Trost und die Belehrung des leuchtenden Kirchen¬
mannes begehrte. Noch ganz erfüllt von dem Gedanken an das vollendete Riesen¬
werk und mit dem Zusammensuchen der zum Ausgehen nötigen Kleidungsstücke
beschäftigt, verspätete sich der Gelehrte, so daß, als er aus dem Hause trat, schon
das Glöcklein ertönte, das zu Alexandria die letzte Stunde eines Menschen
anzumelden pflegte.

In den Straßen lärmte das leichte Leben der Morgenstunden, Käufer drängten
sich um die Karren voll Gemüse und Früchten, Schlächter hieben mit blinkendem
Beil in rote Fleischstücke, Rinder, Esel und Schafe brüllten durcheinander. Der in
tiefe Gedanken Versunkene hastete durchs Gedränge, da drohte den eilenden Mann
ein unvorhergesehenes Geschehnis zu hemmen. Ein Schneidergeselle, der arbeitend
an dem höchsten Fenster eines der um den Markt liegenden Häuser gesessen hatte,
verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in den Abgrund. Das Volksgewimmel
schrie vielfach auf, jeder wollte retten, auch Praeclarus; aber da ihm jede Sekunde
eine Ewigkeit wert war, vermochte er es durch die Kraft seines heiligen Gedankens,
daß der Schneider in einem leichten Bogen in den Lüften schweben blieb — so
lange, bis der Heilige, von dem Sterbenden zurückgekehrt, das Rettungswerk
vollenden konnte.

Dieses mächtige Wunder versetzte das Volk von Alexandria in einen großen
Freudentaumel. Man hielt glänzende Feste; tausend Heiden traten zu den Gläu¬
bigen über, deren Reihen allerdings durch eine das Fest beschließende Massen¬
metzelei um dieselbe Zahl verringert wurden.

Satan aber — man war damals zwischen den Epochen und der Luzifer der
alten Welt war noch nicht gänzlich zum Teufel geworden — Satan, der von dem
Wunder durch den Klerus erfahren hatte, geriet in die schlimmste Laune, die
Wundertätigkeiten der neueren Zeit beunruhigten ihn längst. Unter dem voraus¬
gegangenen Weltregiment wären sie unmöglich gewesen. Götter, Halbgötter und
Menschen fuhren von Anbeginn gleich sicheren Schiffen in vorgezeichneten Kreisen
dahin, und niemand hätte es gewagt, aus dem seinen heraustretend den des
anderen zu stören. Diese harmonische Begrenztheit der einzelnen Sphären wurde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/350>, abgerufen am 27.12.2024.