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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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erst verwirrt, als das unbegreifliche Schicksal demokratisch wurde, einen Gott zum
Menschen machte und Sterbliche zu Halbgöttern erhob.

Krankenheilungen, Erweckung von Toten, Verwandlungen von Gegenständen
in Speisen waren noch zu ertragen gewesen; das Wunder des Praeclarus aber
bedeutete eine solche Überhebung der menschlichen Natur, daß Satan eine Warnungs¬
tafel aufzurichten beschloß, deutlich sichtbar sür Götter und Menschen.

Der große Wundertäter sollte auf eine ganz gewöhnliche Weise zu Fall
kommen'. Menschen und Götter sollten erkennen, daß mit geistiger Vollendung
durchaus nicht alles getan sei; die Sinne blieben doch schwach und kreaturenhaft.
Wunder aber, von Menschen erwirkt, deren Sinne den Gesetzen ebenso unterworfen
blieben, wie der Geist sich darüber erhob, waren nicht nur bedeutungslos, sondern
sogar eine Warnung, derartige Leistungen nicht zu überschätzen.

Als der Gelehrte am Abend des folgenden Tages, von einer Neligions-
disputation zurückkehrend, sein Haus betrat, begrüßten ihn statt der mürrischen
alten Negerin, die sein Haus besorgte, aufs freundlichste zwei in zarte Schleier
gehüllte Mädchen und luden ihn ein, in seinen Harem einzutreten. Der fromme
Mann hatte bisher zwar noch nicht gewußt, daß er einen solchen besaß, aber er
trat ein und befand sich statt in seiner Bibliothek in einem weitgewölbten Raum,
der durch drei Reihen seingeschnitzter Säulen geteilt war. Silbernes Licht rieselte
aus einer ovalen Öffnung des Gewölbes, verlor sich aber bald in den Schatten
der Wände, die von dunkelfarbigen Teppichen glühten. In der Mitte des ein¬
ladenden Saales erhob unter feinem Tönen ein Springbrunnen den Strahl, dessen
schmale Rundung, da sie gegen die Lichtöffnung aufsprang, aufleuchtete. Zwanzig
Frauen saßen und lagen auf dicken, figurendurchwirkten Teppichen, niedrigen
Sesseln und schwellenden Polstern. Sie waren von der blühendsten Schönheit,
schimmerten in allen Hautfarben, und eine jede erwartete, zusammengekauert oder
lang ausgestreckt, in Sehnsucht den Geliebten. Manche hielt einen Spiegel in der
Hand, der einen biegsamen Hals, ein Muttermal auf weißer Hüfte, ein glänzendes
Auge zurückwarf.

Der Gelehrte setzte sich. Er war so überrascht, daß ihm die Seele schwankte
und weiße Falter vor den Augen zu schwirren anfingen. Er verscheuchte sie nicht
ohne Anstrengung und schaute im Kreise herum. Dann zog er aus den Falten
seiner Toga eine Pergamentrolle und begann sich in die Streitfrage über die
Wesensgleichheit oder Wesenseinheit der drei göttlichen Personen zu vertiefen. Als
er auf der hundertsten Seite angelangt war, drehte sich der Saal rundum wie
eine Kugel, bis dem Gelehrten schwarz vor den Augen wurde; hierauf schwand
der Spuk und Praeclarus befand sich in seiner Bibliothek.

Satan mußte zu stärkeren Dingen greifen. Er zeigte dem Kirchenmann
Liebesgarten, in denen unter süßduftenden Bäumen Jünglinge und Mädchen sich
aufreizenden Spielen Hingaben. Praeclarus setzte sich, entfernt von ihnen, mit
gekreuzten Beinen nieder, zog Schreibtafel und Wachsgriffel hervor und schrieb
den Traktat: "l^ihn nienen cle persecutione malorum in bcmos virc)3 et sanctos"
zu Ende, wobei er von Zeit zu Zeit auf das Schauspiel der Liebenden blickte,
gleich als wolle er von dort seine tiefen und reichen Ideen holen. Dieser Traktat
erregte das höchste Aufsehen unter Priestern und Laien und fand auf dem um
diese Zeit abgehaltenen Kirchenkonzil von Nola solche Zustimmung, daß nicht


Grenzboten l 1911 43
IZMS srciens

erst verwirrt, als das unbegreifliche Schicksal demokratisch wurde, einen Gott zum
Menschen machte und Sterbliche zu Halbgöttern erhob.

Krankenheilungen, Erweckung von Toten, Verwandlungen von Gegenständen
in Speisen waren noch zu ertragen gewesen; das Wunder des Praeclarus aber
bedeutete eine solche Überhebung der menschlichen Natur, daß Satan eine Warnungs¬
tafel aufzurichten beschloß, deutlich sichtbar sür Götter und Menschen.

Der große Wundertäter sollte auf eine ganz gewöhnliche Weise zu Fall
kommen'. Menschen und Götter sollten erkennen, daß mit geistiger Vollendung
durchaus nicht alles getan sei; die Sinne blieben doch schwach und kreaturenhaft.
Wunder aber, von Menschen erwirkt, deren Sinne den Gesetzen ebenso unterworfen
blieben, wie der Geist sich darüber erhob, waren nicht nur bedeutungslos, sondern
sogar eine Warnung, derartige Leistungen nicht zu überschätzen.

Als der Gelehrte am Abend des folgenden Tages, von einer Neligions-
disputation zurückkehrend, sein Haus betrat, begrüßten ihn statt der mürrischen
alten Negerin, die sein Haus besorgte, aufs freundlichste zwei in zarte Schleier
gehüllte Mädchen und luden ihn ein, in seinen Harem einzutreten. Der fromme
Mann hatte bisher zwar noch nicht gewußt, daß er einen solchen besaß, aber er
trat ein und befand sich statt in seiner Bibliothek in einem weitgewölbten Raum,
der durch drei Reihen seingeschnitzter Säulen geteilt war. Silbernes Licht rieselte
aus einer ovalen Öffnung des Gewölbes, verlor sich aber bald in den Schatten
der Wände, die von dunkelfarbigen Teppichen glühten. In der Mitte des ein¬
ladenden Saales erhob unter feinem Tönen ein Springbrunnen den Strahl, dessen
schmale Rundung, da sie gegen die Lichtöffnung aufsprang, aufleuchtete. Zwanzig
Frauen saßen und lagen auf dicken, figurendurchwirkten Teppichen, niedrigen
Sesseln und schwellenden Polstern. Sie waren von der blühendsten Schönheit,
schimmerten in allen Hautfarben, und eine jede erwartete, zusammengekauert oder
lang ausgestreckt, in Sehnsucht den Geliebten. Manche hielt einen Spiegel in der
Hand, der einen biegsamen Hals, ein Muttermal auf weißer Hüfte, ein glänzendes
Auge zurückwarf.

Der Gelehrte setzte sich. Er war so überrascht, daß ihm die Seele schwankte
und weiße Falter vor den Augen zu schwirren anfingen. Er verscheuchte sie nicht
ohne Anstrengung und schaute im Kreise herum. Dann zog er aus den Falten
seiner Toga eine Pergamentrolle und begann sich in die Streitfrage über die
Wesensgleichheit oder Wesenseinheit der drei göttlichen Personen zu vertiefen. Als
er auf der hundertsten Seite angelangt war, drehte sich der Saal rundum wie
eine Kugel, bis dem Gelehrten schwarz vor den Augen wurde; hierauf schwand
der Spuk und Praeclarus befand sich in seiner Bibliothek.

Satan mußte zu stärkeren Dingen greifen. Er zeigte dem Kirchenmann
Liebesgarten, in denen unter süßduftenden Bäumen Jünglinge und Mädchen sich
aufreizenden Spielen Hingaben. Praeclarus setzte sich, entfernt von ihnen, mit
gekreuzten Beinen nieder, zog Schreibtafel und Wachsgriffel hervor und schrieb
den Traktat: „l^ihn nienen cle persecutione malorum in bcmos virc)3 et sanctos"
zu Ende, wobei er von Zeit zu Zeit auf das Schauspiel der Liebenden blickte,
gleich als wolle er von dort seine tiefen und reichen Ideen holen. Dieser Traktat
erregte das höchste Aufsehen unter Priestern und Laien und fand auf dem um
diese Zeit abgehaltenen Kirchenkonzil von Nola solche Zustimmung, daß nicht


Grenzboten l 1911 43
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[0351] IZMS srciens erst verwirrt, als das unbegreifliche Schicksal demokratisch wurde, einen Gott zum Menschen machte und Sterbliche zu Halbgöttern erhob. Krankenheilungen, Erweckung von Toten, Verwandlungen von Gegenständen in Speisen waren noch zu ertragen gewesen; das Wunder des Praeclarus aber bedeutete eine solche Überhebung der menschlichen Natur, daß Satan eine Warnungs¬ tafel aufzurichten beschloß, deutlich sichtbar sür Götter und Menschen. Der große Wundertäter sollte auf eine ganz gewöhnliche Weise zu Fall kommen'. Menschen und Götter sollten erkennen, daß mit geistiger Vollendung durchaus nicht alles getan sei; die Sinne blieben doch schwach und kreaturenhaft. Wunder aber, von Menschen erwirkt, deren Sinne den Gesetzen ebenso unterworfen blieben, wie der Geist sich darüber erhob, waren nicht nur bedeutungslos, sondern sogar eine Warnung, derartige Leistungen nicht zu überschätzen. Als der Gelehrte am Abend des folgenden Tages, von einer Neligions- disputation zurückkehrend, sein Haus betrat, begrüßten ihn statt der mürrischen alten Negerin, die sein Haus besorgte, aufs freundlichste zwei in zarte Schleier gehüllte Mädchen und luden ihn ein, in seinen Harem einzutreten. Der fromme Mann hatte bisher zwar noch nicht gewußt, daß er einen solchen besaß, aber er trat ein und befand sich statt in seiner Bibliothek in einem weitgewölbten Raum, der durch drei Reihen seingeschnitzter Säulen geteilt war. Silbernes Licht rieselte aus einer ovalen Öffnung des Gewölbes, verlor sich aber bald in den Schatten der Wände, die von dunkelfarbigen Teppichen glühten. In der Mitte des ein¬ ladenden Saales erhob unter feinem Tönen ein Springbrunnen den Strahl, dessen schmale Rundung, da sie gegen die Lichtöffnung aufsprang, aufleuchtete. Zwanzig Frauen saßen und lagen auf dicken, figurendurchwirkten Teppichen, niedrigen Sesseln und schwellenden Polstern. Sie waren von der blühendsten Schönheit, schimmerten in allen Hautfarben, und eine jede erwartete, zusammengekauert oder lang ausgestreckt, in Sehnsucht den Geliebten. Manche hielt einen Spiegel in der Hand, der einen biegsamen Hals, ein Muttermal auf weißer Hüfte, ein glänzendes Auge zurückwarf. Der Gelehrte setzte sich. Er war so überrascht, daß ihm die Seele schwankte und weiße Falter vor den Augen zu schwirren anfingen. Er verscheuchte sie nicht ohne Anstrengung und schaute im Kreise herum. Dann zog er aus den Falten seiner Toga eine Pergamentrolle und begann sich in die Streitfrage über die Wesensgleichheit oder Wesenseinheit der drei göttlichen Personen zu vertiefen. Als er auf der hundertsten Seite angelangt war, drehte sich der Saal rundum wie eine Kugel, bis dem Gelehrten schwarz vor den Augen wurde; hierauf schwand der Spuk und Praeclarus befand sich in seiner Bibliothek. Satan mußte zu stärkeren Dingen greifen. Er zeigte dem Kirchenmann Liebesgarten, in denen unter süßduftenden Bäumen Jünglinge und Mädchen sich aufreizenden Spielen Hingaben. Praeclarus setzte sich, entfernt von ihnen, mit gekreuzten Beinen nieder, zog Schreibtafel und Wachsgriffel hervor und schrieb den Traktat: „l^ihn nienen cle persecutione malorum in bcmos virc)3 et sanctos" zu Ende, wobei er von Zeit zu Zeit auf das Schauspiel der Liebenden blickte, gleich als wolle er von dort seine tiefen und reichen Ideen holen. Dieser Traktat erregte das höchste Aufsehen unter Priestern und Laien und fand auf dem um diese Zeit abgehaltenen Kirchenkonzil von Nola solche Zustimmung, daß nicht Grenzboten l 1911 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/351>, abgerufen am 28.12.2024.