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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Richard Wagners Kunst im modernen Frankreich

Richard Wagners Aunst im modernen Frankreich
Dr. with. Aleefeld von

eben der natürlichen sprachlichen und geistigen Schranke, die dem
urdeutschen Tondrama Wagners in Frankreich von jeher entgegen¬
stand, turnte sich nach 1870 noch der Wall der inneren Feind¬
seligkeit und Gereiztheit auf. Wagners Satire "Eine Kapitulation",
^ die Politik und Kunst zusammenschweißt, griff man als Vorwand
für eine entschiedene Stellung gegen den deutschen Meister mit hastiger Gier auf.
Selbst die Musiker, die sich bis dahin um das Verständnis der neuen Kunst¬
richtung bemüht hatten, gingen jetzt ins gegnerische Lager über.

Welch ein Umschwung der Ereignisse! Hatten sich doch die führenden
Musiker Frankreichs einst mit Begeisterung an Wagner angeschlossen. Ein Saint-
Saens, ein Victorin de Joncieres, ein Vincent d'Jrby waren Glieder der
Bavreuth-Gemeinde gewesen. Das ist kein Zufall. Gerade in Frankreich schloß
man sich vor dem Kriege unbefangen an Wagner an, weil man viele französische
Ideen in seiner Kunst verwirklicht sah. Man erinnerte sich, daß der Stil Lüllys,
des französierten Jtalieners, und Rameaus schon verwandte Richtung zeigte und
zitierte alle Musiker als Krouzeugeu, die in ihren Absichten ähnliche Ziele an¬
deuteten. Ja, einzelne verstiegen sich zu der Behauptung, der ganze Wagnerstrl
sei schon von den Franzosen vorausgeahnt! Hatte nicht der Franzose Berardu
erklärt: Das Prinzip der Oper ist ganz einfach dieses, daß man im Singen
spricht und im Sprechen singt! Und hatte nicht Choron, Alexandre Etienne
Choron, nach Felis der am gründlichsten gebildete Theoriker, schon im zweiten Jahr¬
zehnt des neunzehnten Jahrhunderts ausgeführt: "Der deklamierte Gesang ist
von Anfang an der einzige Leitstern für alle die gewesen, die für die lyrische
Bühne geschrieben und von dieseni Prinzip einen so strengen Gebrauch gemacht
haben, daß die alte dramatische Musik im Grunde nur ein einziges Rezitativ,
sozusagen ein in der Tonhöhe fixiertes Deklamieren darstellte". Zu Chorons
Zeit, als die Italiener die Herrschaft errangen, trat der neue Stil und mit ihm
die Vokalmusik gewissermaßen in eine neue Ära ein. Die Bühne eignete sich
alle Kunstgriffe an, nahm von den neuen Errungenschaften Besitz, und bald
waren die Dinge so weit gediehen, daß auf sämtlichen Opernbühnen alles dem
einen Zweck geopfert wurde, die Kunst des Sängers in möglichst farbenprächtigen
bengalischen Licht erstrahlen zu sehen. Diese Verehrung fing bei den Italienern
an, ging dann auf die Deutschen über und nach einigem Zögern auch auf die
Franzosen. Es wäre müßig, auszurechnen, wie weit wir heute von dein Ziel
abgekommen sind, das man sich einst gesetzt hat.

Derselbe Choron hatte auch -- nach französischer Auffassung -- schon die
Neuheit des verdeckten Wagner-Orchesters angedeutet, indem er schrieb: "Der
Anblick eines Orchesters, das sich vor den Augen des Publikums betätigt, ist


Richard Wagners Kunst im modernen Frankreich

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eben der natürlichen sprachlichen und geistigen Schranke, die dem
urdeutschen Tondrama Wagners in Frankreich von jeher entgegen¬
stand, turnte sich nach 1870 noch der Wall der inneren Feind¬
seligkeit und Gereiztheit auf. Wagners Satire „Eine Kapitulation",
^ die Politik und Kunst zusammenschweißt, griff man als Vorwand
für eine entschiedene Stellung gegen den deutschen Meister mit hastiger Gier auf.
Selbst die Musiker, die sich bis dahin um das Verständnis der neuen Kunst¬
richtung bemüht hatten, gingen jetzt ins gegnerische Lager über.

Welch ein Umschwung der Ereignisse! Hatten sich doch die führenden
Musiker Frankreichs einst mit Begeisterung an Wagner angeschlossen. Ein Saint-
Saens, ein Victorin de Joncieres, ein Vincent d'Jrby waren Glieder der
Bavreuth-Gemeinde gewesen. Das ist kein Zufall. Gerade in Frankreich schloß
man sich vor dem Kriege unbefangen an Wagner an, weil man viele französische
Ideen in seiner Kunst verwirklicht sah. Man erinnerte sich, daß der Stil Lüllys,
des französierten Jtalieners, und Rameaus schon verwandte Richtung zeigte und
zitierte alle Musiker als Krouzeugeu, die in ihren Absichten ähnliche Ziele an¬
deuteten. Ja, einzelne verstiegen sich zu der Behauptung, der ganze Wagnerstrl
sei schon von den Franzosen vorausgeahnt! Hatte nicht der Franzose Berardu
erklärt: Das Prinzip der Oper ist ganz einfach dieses, daß man im Singen
spricht und im Sprechen singt! Und hatte nicht Choron, Alexandre Etienne
Choron, nach Felis der am gründlichsten gebildete Theoriker, schon im zweiten Jahr¬
zehnt des neunzehnten Jahrhunderts ausgeführt: „Der deklamierte Gesang ist
von Anfang an der einzige Leitstern für alle die gewesen, die für die lyrische
Bühne geschrieben und von dieseni Prinzip einen so strengen Gebrauch gemacht
haben, daß die alte dramatische Musik im Grunde nur ein einziges Rezitativ,
sozusagen ein in der Tonhöhe fixiertes Deklamieren darstellte". Zu Chorons
Zeit, als die Italiener die Herrschaft errangen, trat der neue Stil und mit ihm
die Vokalmusik gewissermaßen in eine neue Ära ein. Die Bühne eignete sich
alle Kunstgriffe an, nahm von den neuen Errungenschaften Besitz, und bald
waren die Dinge so weit gediehen, daß auf sämtlichen Opernbühnen alles dem
einen Zweck geopfert wurde, die Kunst des Sängers in möglichst farbenprächtigen
bengalischen Licht erstrahlen zu sehen. Diese Verehrung fing bei den Italienern
an, ging dann auf die Deutschen über und nach einigem Zögern auch auf die
Franzosen. Es wäre müßig, auszurechnen, wie weit wir heute von dein Ziel
abgekommen sind, das man sich einst gesetzt hat.

Derselbe Choron hatte auch — nach französischer Auffassung — schon die
Neuheit des verdeckten Wagner-Orchesters angedeutet, indem er schrieb: „Der
Anblick eines Orchesters, das sich vor den Augen des Publikums betätigt, ist


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[0282] Richard Wagners Kunst im modernen Frankreich Richard Wagners Aunst im modernen Frankreich Dr. with. Aleefeld von eben der natürlichen sprachlichen und geistigen Schranke, die dem urdeutschen Tondrama Wagners in Frankreich von jeher entgegen¬ stand, turnte sich nach 1870 noch der Wall der inneren Feind¬ seligkeit und Gereiztheit auf. Wagners Satire „Eine Kapitulation", ^ die Politik und Kunst zusammenschweißt, griff man als Vorwand für eine entschiedene Stellung gegen den deutschen Meister mit hastiger Gier auf. Selbst die Musiker, die sich bis dahin um das Verständnis der neuen Kunst¬ richtung bemüht hatten, gingen jetzt ins gegnerische Lager über. Welch ein Umschwung der Ereignisse! Hatten sich doch die führenden Musiker Frankreichs einst mit Begeisterung an Wagner angeschlossen. Ein Saint- Saens, ein Victorin de Joncieres, ein Vincent d'Jrby waren Glieder der Bavreuth-Gemeinde gewesen. Das ist kein Zufall. Gerade in Frankreich schloß man sich vor dem Kriege unbefangen an Wagner an, weil man viele französische Ideen in seiner Kunst verwirklicht sah. Man erinnerte sich, daß der Stil Lüllys, des französierten Jtalieners, und Rameaus schon verwandte Richtung zeigte und zitierte alle Musiker als Krouzeugeu, die in ihren Absichten ähnliche Ziele an¬ deuteten. Ja, einzelne verstiegen sich zu der Behauptung, der ganze Wagnerstrl sei schon von den Franzosen vorausgeahnt! Hatte nicht der Franzose Berardu erklärt: Das Prinzip der Oper ist ganz einfach dieses, daß man im Singen spricht und im Sprechen singt! Und hatte nicht Choron, Alexandre Etienne Choron, nach Felis der am gründlichsten gebildete Theoriker, schon im zweiten Jahr¬ zehnt des neunzehnten Jahrhunderts ausgeführt: „Der deklamierte Gesang ist von Anfang an der einzige Leitstern für alle die gewesen, die für die lyrische Bühne geschrieben und von dieseni Prinzip einen so strengen Gebrauch gemacht haben, daß die alte dramatische Musik im Grunde nur ein einziges Rezitativ, sozusagen ein in der Tonhöhe fixiertes Deklamieren darstellte". Zu Chorons Zeit, als die Italiener die Herrschaft errangen, trat der neue Stil und mit ihm die Vokalmusik gewissermaßen in eine neue Ära ein. Die Bühne eignete sich alle Kunstgriffe an, nahm von den neuen Errungenschaften Besitz, und bald waren die Dinge so weit gediehen, daß auf sämtlichen Opernbühnen alles dem einen Zweck geopfert wurde, die Kunst des Sängers in möglichst farbenprächtigen bengalischen Licht erstrahlen zu sehen. Diese Verehrung fing bei den Italienern an, ging dann auf die Deutschen über und nach einigem Zögern auch auf die Franzosen. Es wäre müßig, auszurechnen, wie weit wir heute von dein Ziel abgekommen sind, das man sich einst gesetzt hat. Derselbe Choron hatte auch — nach französischer Auffassung — schon die Neuheit des verdeckten Wagner-Orchesters angedeutet, indem er schrieb: „Der Anblick eines Orchesters, das sich vor den Augen des Publikums betätigt, ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/282>, abgerufen am 24.07.2024.