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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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"Faust" in Frankreich
Aarl Lügen Schmidt von

le göttliche Sarah soll im kommenden Winter einen "Faust" auf¬
führen. Gewissermaßen ist sie das dem französischen Publikum
schuldig, nachdem sie schon vor zehn Jahren den "Hamlet" gegeben
hat. Allerdings gedenkt sie dem Helden Goethes nicht so direkt
auf den Leib zu rücken wie damals der tiefsten Figur Shakespeares.
Den "Hamlet" ließ sie sich von irgendeinem dramatischen Dienstmann übersetzen
und für ihren Gebrauch zurechtstutzen, und dann zog sie selbst die schwarzen
Trikothosen des Dänenprinzen an, nahm den Schädel des armen Avrial in die
Hand und philosophierte über Sein und Nichtsein. Wie diese Ausführung war,
wollen mir lieber nicht erörtern, denn wir wollen keinen Stein auf eine Frau
werfen, die mit vierundsechzig Jahren immer noch rastlos und unermüdlich in
die Bresche tritt, und deren Fleiß, Energie und Arbeitskraft unsere Bewunderung
verdienen, selbst wenn wir sie ihrer Kunst versagen müssen. Auch ist zu bemerken,
daß sie ja den "Hamlet" und den "Faust" nicht für uns Deutsche oder Engländer
gibt, sondern für die Franzosen, und das ist gleich etwas ganz anderes. Dem
Deutschen, der im "Faust" und auch in dem in Deutschland mindestens ebenso
oft wie in England gegebenen "Hamlet" so etwas wie der Nation geheiligte
Charaktere sieht, kommt es wie eine Art von Tempelschändung vor, wenn die
bewährteste Vertreterin überkünstelter französischer Virtuosenkunst sich an diese
erhabenen Figuren wagt. Aber der Franzose spürt davon nicht das mindeste.
"Faust" und "Hamlet" sind keine Heiligen für ihn, sonder,: sie sind ihm so
gleichgültig wie uns der "Eid" Corneilles und die "Iphigenie" Nacines. Beide
sind Fremdlinge sür ihn wie jene beiden für uns, und wie uns bei einer
Aufführung jenes "Eid" und mehr noch dieser "Iphigenie" hie und da das
Unterdrücken eines verwunderten Lächelns schwer fällt, so würde auch der best¬
erzogene Franzose nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken können, wenn man
ihm eine ungekürzte Übersetzung des Goethescher "Faust" -- und dabei meine
ich uur den ersten Teil -- oder des Shakespeareschen "Hamlet" auf die Bühne
bringen wollte.

Wir müssen uns also durchaus des deutschen Vorurteils entkleiden, wenn
wir der göttlichen Sarah und den französischen Bearbeitern des "Faust" gerecht




„Faust" in Frankreich
Aarl Lügen Schmidt von

le göttliche Sarah soll im kommenden Winter einen „Faust" auf¬
führen. Gewissermaßen ist sie das dem französischen Publikum
schuldig, nachdem sie schon vor zehn Jahren den „Hamlet" gegeben
hat. Allerdings gedenkt sie dem Helden Goethes nicht so direkt
auf den Leib zu rücken wie damals der tiefsten Figur Shakespeares.
Den „Hamlet" ließ sie sich von irgendeinem dramatischen Dienstmann übersetzen
und für ihren Gebrauch zurechtstutzen, und dann zog sie selbst die schwarzen
Trikothosen des Dänenprinzen an, nahm den Schädel des armen Avrial in die
Hand und philosophierte über Sein und Nichtsein. Wie diese Ausführung war,
wollen mir lieber nicht erörtern, denn wir wollen keinen Stein auf eine Frau
werfen, die mit vierundsechzig Jahren immer noch rastlos und unermüdlich in
die Bresche tritt, und deren Fleiß, Energie und Arbeitskraft unsere Bewunderung
verdienen, selbst wenn wir sie ihrer Kunst versagen müssen. Auch ist zu bemerken,
daß sie ja den „Hamlet" und den „Faust" nicht für uns Deutsche oder Engländer
gibt, sondern für die Franzosen, und das ist gleich etwas ganz anderes. Dem
Deutschen, der im „Faust" und auch in dem in Deutschland mindestens ebenso
oft wie in England gegebenen „Hamlet" so etwas wie der Nation geheiligte
Charaktere sieht, kommt es wie eine Art von Tempelschändung vor, wenn die
bewährteste Vertreterin überkünstelter französischer Virtuosenkunst sich an diese
erhabenen Figuren wagt. Aber der Franzose spürt davon nicht das mindeste.
„Faust" und „Hamlet" sind keine Heiligen für ihn, sonder,: sie sind ihm so
gleichgültig wie uns der „Eid" Corneilles und die „Iphigenie" Nacines. Beide
sind Fremdlinge sür ihn wie jene beiden für uns, und wie uns bei einer
Aufführung jenes „Eid" und mehr noch dieser „Iphigenie" hie und da das
Unterdrücken eines verwunderten Lächelns schwer fällt, so würde auch der best¬
erzogene Franzose nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken können, wenn man
ihm eine ungekürzte Übersetzung des Goethescher „Faust" — und dabei meine
ich uur den ersten Teil — oder des Shakespeareschen „Hamlet" auf die Bühne
bringen wollte.

Wir müssen uns also durchaus des deutschen Vorurteils entkleiden, wenn
wir der göttlichen Sarah und den französischen Bearbeitern des „Faust" gerecht


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[0082] [Abbildung] „Faust" in Frankreich Aarl Lügen Schmidt von le göttliche Sarah soll im kommenden Winter einen „Faust" auf¬ führen. Gewissermaßen ist sie das dem französischen Publikum schuldig, nachdem sie schon vor zehn Jahren den „Hamlet" gegeben hat. Allerdings gedenkt sie dem Helden Goethes nicht so direkt auf den Leib zu rücken wie damals der tiefsten Figur Shakespeares. Den „Hamlet" ließ sie sich von irgendeinem dramatischen Dienstmann übersetzen und für ihren Gebrauch zurechtstutzen, und dann zog sie selbst die schwarzen Trikothosen des Dänenprinzen an, nahm den Schädel des armen Avrial in die Hand und philosophierte über Sein und Nichtsein. Wie diese Ausführung war, wollen mir lieber nicht erörtern, denn wir wollen keinen Stein auf eine Frau werfen, die mit vierundsechzig Jahren immer noch rastlos und unermüdlich in die Bresche tritt, und deren Fleiß, Energie und Arbeitskraft unsere Bewunderung verdienen, selbst wenn wir sie ihrer Kunst versagen müssen. Auch ist zu bemerken, daß sie ja den „Hamlet" und den „Faust" nicht für uns Deutsche oder Engländer gibt, sondern für die Franzosen, und das ist gleich etwas ganz anderes. Dem Deutschen, der im „Faust" und auch in dem in Deutschland mindestens ebenso oft wie in England gegebenen „Hamlet" so etwas wie der Nation geheiligte Charaktere sieht, kommt es wie eine Art von Tempelschändung vor, wenn die bewährteste Vertreterin überkünstelter französischer Virtuosenkunst sich an diese erhabenen Figuren wagt. Aber der Franzose spürt davon nicht das mindeste. „Faust" und „Hamlet" sind keine Heiligen für ihn, sonder,: sie sind ihm so gleichgültig wie uns der „Eid" Corneilles und die „Iphigenie" Nacines. Beide sind Fremdlinge sür ihn wie jene beiden für uns, und wie uns bei einer Aufführung jenes „Eid" und mehr noch dieser „Iphigenie" hie und da das Unterdrücken eines verwunderten Lächelns schwer fällt, so würde auch der best¬ erzogene Franzose nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken können, wenn man ihm eine ungekürzte Übersetzung des Goethescher „Faust" — und dabei meine ich uur den ersten Teil — oder des Shakespeareschen „Hamlet" auf die Bühne bringen wollte. Wir müssen uns also durchaus des deutschen Vorurteils entkleiden, wenn wir der göttlichen Sarah und den französischen Bearbeitern des „Faust" gerecht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/82>, abgerufen am 22.07.2024.