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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

Sammlungsversuche -- Gründe für sozialdemokratische Siege -- Mehr Für¬
sorge der schulentlassenen Jugend -- Der Wert des Hansabundes.

Nach den Kaiserreden zu Königsberg und in der Marienburg kehrt das
politische Lebeir allmählich wieder in seine alten Bahnen zurück. Von den Ver¬
drehungen der Königsberger Rede lebt nur noch die Demokratie, über den Marien-
burger Aufruf zur Sammlung beginnt zwischen Konservativen und Nationalliberalen
eine ernsthafte Unterhaltung. Die "Kölnische Zeitung" ergreift gern die Gelegenheit,
um die Vorteile der früher bewährten Freundschaft zwischen den Rechtsparteien zu
unterstreichen. Der "Hannöversche Courier" warnt vor einem Frieden, dem nicht
ein Sieg vorangegangen wäre; die "Tägliche Rundschau" kann begreiflicherweise
nicht vergessen, wer die Hauptschuldigen an der heutigen politischen Lage sind, und
die "Kreuzzeitung" zaubert den Liberalen paradiesische Zustände vor die Augen,
wenn sie sich nur vertrauensvoll in die Fesseln des Bundes der Landwirte
begeben. Dabei kann man sich aber des Gefühls nicht erwehren, als habe Frau
Sorge dicht neben dein konservativen Wochenschauer gestanden. Ja, was soll aus
der konservativen Partei werden, wenn sie ohne nationalliberale Unterstützung in
die nächsten Wahlkämpfe gehen muß? Im übrigen steht die politische Stimmung
im Lande unter dem frischen Eindruck einer Meldung (vielleicht eines Versuchs¬
ballons?) der "Frankfurter Zeitung". Das Blatt behauptete kürzlich, der Herr
Reichskanzler habe endlich eine Wahlparole gefunden und sie im vertrauten Kreise
bekanntgegeben. Nach dem Bericht des demokratischen Blattes lautet sie:
Zusammenfassung aller positiv schaffenden Stände zum Schutz der
nationalen Arbeit. Die "Tägliche Rundschau" scheint uns die Meldung durch¬
aus richtig aufzufassen, wenn sie in ihr keine Überraschung sieht, gleichgültig ob
es sich nur um eine Kombination oder um eine Tatsache handelt. Mit andern
Worten hat der Kaiser dieselbe Parole aus der Marienburg ausgegeben, als er
sagte: "Der Landwirt schlage in die Hand des Kaufmanns ein, dieser in die Hand
des Industriellen Der Zugehörige einer Partei ergreife die Hand des Anders¬
gesinnten, wenn es darauf ankommt, Großes für unser Vaterland zu leisten. Und
eine Konfession trage die andere mit Liebe." Wir selbst haben von einer Seite,
die Gelegenheit gehabt haben konnte, die Absichten des Reichskanzlers keimen zu
lernen, eine ähnliche Parole gehört; nur war sie im Januar in die Worte
gekleidet: Kampf gegen die Sozialdemokratie und gegen die freihändlerischen
Tendenzen.

Wir meinen, eine unter so einseitig wirtschaftlichen Devisen eingeleitete Politik
dürfte nicht als SammlungsPolitik bezeichnet werden. Denn gerade über den
Begriff des Positiven in der Wirtschaft gehen die Ansichten der in der Wirtschaft




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

Sammlungsversuche — Gründe für sozialdemokratische Siege — Mehr Für¬
sorge der schulentlassenen Jugend — Der Wert des Hansabundes.

Nach den Kaiserreden zu Königsberg und in der Marienburg kehrt das
politische Lebeir allmählich wieder in seine alten Bahnen zurück. Von den Ver¬
drehungen der Königsberger Rede lebt nur noch die Demokratie, über den Marien-
burger Aufruf zur Sammlung beginnt zwischen Konservativen und Nationalliberalen
eine ernsthafte Unterhaltung. Die „Kölnische Zeitung" ergreift gern die Gelegenheit,
um die Vorteile der früher bewährten Freundschaft zwischen den Rechtsparteien zu
unterstreichen. Der „Hannöversche Courier" warnt vor einem Frieden, dem nicht
ein Sieg vorangegangen wäre; die „Tägliche Rundschau" kann begreiflicherweise
nicht vergessen, wer die Hauptschuldigen an der heutigen politischen Lage sind, und
die „Kreuzzeitung" zaubert den Liberalen paradiesische Zustände vor die Augen,
wenn sie sich nur vertrauensvoll in die Fesseln des Bundes der Landwirte
begeben. Dabei kann man sich aber des Gefühls nicht erwehren, als habe Frau
Sorge dicht neben dein konservativen Wochenschauer gestanden. Ja, was soll aus
der konservativen Partei werden, wenn sie ohne nationalliberale Unterstützung in
die nächsten Wahlkämpfe gehen muß? Im übrigen steht die politische Stimmung
im Lande unter dem frischen Eindruck einer Meldung (vielleicht eines Versuchs¬
ballons?) der „Frankfurter Zeitung". Das Blatt behauptete kürzlich, der Herr
Reichskanzler habe endlich eine Wahlparole gefunden und sie im vertrauten Kreise
bekanntgegeben. Nach dem Bericht des demokratischen Blattes lautet sie:
Zusammenfassung aller positiv schaffenden Stände zum Schutz der
nationalen Arbeit. Die „Tägliche Rundschau" scheint uns die Meldung durch¬
aus richtig aufzufassen, wenn sie in ihr keine Überraschung sieht, gleichgültig ob
es sich nur um eine Kombination oder um eine Tatsache handelt. Mit andern
Worten hat der Kaiser dieselbe Parole aus der Marienburg ausgegeben, als er
sagte: „Der Landwirt schlage in die Hand des Kaufmanns ein, dieser in die Hand
des Industriellen Der Zugehörige einer Partei ergreife die Hand des Anders¬
gesinnten, wenn es darauf ankommt, Großes für unser Vaterland zu leisten. Und
eine Konfession trage die andere mit Liebe." Wir selbst haben von einer Seite,
die Gelegenheit gehabt haben konnte, die Absichten des Reichskanzlers keimen zu
lernen, eine ähnliche Parole gehört; nur war sie im Januar in die Worte
gekleidet: Kampf gegen die Sozialdemokratie und gegen die freihändlerischen
Tendenzen.

Wir meinen, eine unter so einseitig wirtschaftlichen Devisen eingeleitete Politik
dürfte nicht als SammlungsPolitik bezeichnet werden. Denn gerade über den
Begriff des Positiven in der Wirtschaft gehen die Ansichten der in der Wirtschaft


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[0558] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel Sammlungsversuche — Gründe für sozialdemokratische Siege — Mehr Für¬ sorge der schulentlassenen Jugend — Der Wert des Hansabundes. Nach den Kaiserreden zu Königsberg und in der Marienburg kehrt das politische Lebeir allmählich wieder in seine alten Bahnen zurück. Von den Ver¬ drehungen der Königsberger Rede lebt nur noch die Demokratie, über den Marien- burger Aufruf zur Sammlung beginnt zwischen Konservativen und Nationalliberalen eine ernsthafte Unterhaltung. Die „Kölnische Zeitung" ergreift gern die Gelegenheit, um die Vorteile der früher bewährten Freundschaft zwischen den Rechtsparteien zu unterstreichen. Der „Hannöversche Courier" warnt vor einem Frieden, dem nicht ein Sieg vorangegangen wäre; die „Tägliche Rundschau" kann begreiflicherweise nicht vergessen, wer die Hauptschuldigen an der heutigen politischen Lage sind, und die „Kreuzzeitung" zaubert den Liberalen paradiesische Zustände vor die Augen, wenn sie sich nur vertrauensvoll in die Fesseln des Bundes der Landwirte begeben. Dabei kann man sich aber des Gefühls nicht erwehren, als habe Frau Sorge dicht neben dein konservativen Wochenschauer gestanden. Ja, was soll aus der konservativen Partei werden, wenn sie ohne nationalliberale Unterstützung in die nächsten Wahlkämpfe gehen muß? Im übrigen steht die politische Stimmung im Lande unter dem frischen Eindruck einer Meldung (vielleicht eines Versuchs¬ ballons?) der „Frankfurter Zeitung". Das Blatt behauptete kürzlich, der Herr Reichskanzler habe endlich eine Wahlparole gefunden und sie im vertrauten Kreise bekanntgegeben. Nach dem Bericht des demokratischen Blattes lautet sie: Zusammenfassung aller positiv schaffenden Stände zum Schutz der nationalen Arbeit. Die „Tägliche Rundschau" scheint uns die Meldung durch¬ aus richtig aufzufassen, wenn sie in ihr keine Überraschung sieht, gleichgültig ob es sich nur um eine Kombination oder um eine Tatsache handelt. Mit andern Worten hat der Kaiser dieselbe Parole aus der Marienburg ausgegeben, als er sagte: „Der Landwirt schlage in die Hand des Kaufmanns ein, dieser in die Hand des Industriellen Der Zugehörige einer Partei ergreife die Hand des Anders¬ gesinnten, wenn es darauf ankommt, Großes für unser Vaterland zu leisten. Und eine Konfession trage die andere mit Liebe." Wir selbst haben von einer Seite, die Gelegenheit gehabt haben konnte, die Absichten des Reichskanzlers keimen zu lernen, eine ähnliche Parole gehört; nur war sie im Januar in die Worte gekleidet: Kampf gegen die Sozialdemokratie und gegen die freihändlerischen Tendenzen. Wir meinen, eine unter so einseitig wirtschaftlichen Devisen eingeleitete Politik dürfte nicht als SammlungsPolitik bezeichnet werden. Denn gerade über den Begriff des Positiven in der Wirtschaft gehen die Ansichten der in der Wirtschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/558>, abgerufen am 22.07.2024.