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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Recht und Nacht

user Recht beruht heute im wesentlichen auf den Gesetzen. Woher
stammt aber die rechtsverbindliche Kraft der Gesetze? Wie kommt
es, daß das als Recht gilt, was gewisse Personen und Personen¬
mehrheiten beschließen? Das bestimmt die Verfassung. Was ist
aber die Verfassung? Selbst ein Gesetz. Auch sie schafft also
Recht, zum größten Teil mittelbar, indem sie sagt, welche Willenserklärungen
welcher Personen Recht sein sollen. Warum ist das aber Recht, wovon so
die Verfassung mittelbar sagt, daß es Recht sein soll? Die Verfassung ist ja
selbst die Willenserklärung gewisser Personen und Pcrsonenmehrheiten gewesen.
Woher hat diese Erklärung ihre Rechtsverbindlichkeit entnommen? Aus einer
älteren Verfassung. Die Verfassung gibt nämlich dem Gesetzgeber das Recht,
sie -- die Verfassung -- selbst zu ändern. So entstehen auch ganz neue
Verfassungen.

Aber weiter. Woher haben jene älteren Verfassungen die Befugnis
genommen, Recht zu schaffen, darunter auch neue Verfassungen? Aus noch
älteren Verfassungen! So kann die biedre Gesetzmäßigkeit nicht ins Unendliche
weitergehn. Irgendwo kommen wir an eine Stelle, wo wir nicht mehr sagen
können: diese Verfassung ist aus der vorher geltenden Verfassung gemäß deren
Vorschriften entstanden; sie ist von solchen Personen in solcher Weise geschaffen,
wie es dein damaligen Recht entsprach. Vielmehr: sie war tatsächlich da,
wurde tatsächlich beobachtet und allgemein für geltendes Recht gehalten, aber
wie sie entstanden ist, das wissen wir nicht. Hiernach würde unser Recht in
letzter Reihe auf tatsächlicher Übung, einer Art Verfassungs-Gewohnheitsrecht
beruhen.

Nehmen wir ein Beispiel. Unsre deutsche Reichsverfassung ist mit ent¬
standen durch eine verfassungsmüßige Erklärung der preußischen Gesetzgeber,
wodurch Preußens Verfassung entsprechend geändert wurde: nicht allein durch
diese Erklärung, vielmehr wirkten zahlreiche andre Erklärungen zusammen, aber
doch unter andern. Die preußische Verfassung ihrerseits verdankt ihre Ent¬
stehung der damaligen gesetzgebenden Gewalt, dem König. Dieser hatte seine
Gesetzgebungsbefugnis, wenigstens für Brandenburg, ursprünglich der Verfassung
des römisch-deutschen Reiches entnommen, und diese hat sich in tatsächlicher




Recht und Nacht

user Recht beruht heute im wesentlichen auf den Gesetzen. Woher
stammt aber die rechtsverbindliche Kraft der Gesetze? Wie kommt
es, daß das als Recht gilt, was gewisse Personen und Personen¬
mehrheiten beschließen? Das bestimmt die Verfassung. Was ist
aber die Verfassung? Selbst ein Gesetz. Auch sie schafft also
Recht, zum größten Teil mittelbar, indem sie sagt, welche Willenserklärungen
welcher Personen Recht sein sollen. Warum ist das aber Recht, wovon so
die Verfassung mittelbar sagt, daß es Recht sein soll? Die Verfassung ist ja
selbst die Willenserklärung gewisser Personen und Pcrsonenmehrheiten gewesen.
Woher hat diese Erklärung ihre Rechtsverbindlichkeit entnommen? Aus einer
älteren Verfassung. Die Verfassung gibt nämlich dem Gesetzgeber das Recht,
sie — die Verfassung — selbst zu ändern. So entstehen auch ganz neue
Verfassungen.

Aber weiter. Woher haben jene älteren Verfassungen die Befugnis
genommen, Recht zu schaffen, darunter auch neue Verfassungen? Aus noch
älteren Verfassungen! So kann die biedre Gesetzmäßigkeit nicht ins Unendliche
weitergehn. Irgendwo kommen wir an eine Stelle, wo wir nicht mehr sagen
können: diese Verfassung ist aus der vorher geltenden Verfassung gemäß deren
Vorschriften entstanden; sie ist von solchen Personen in solcher Weise geschaffen,
wie es dein damaligen Recht entsprach. Vielmehr: sie war tatsächlich da,
wurde tatsächlich beobachtet und allgemein für geltendes Recht gehalten, aber
wie sie entstanden ist, das wissen wir nicht. Hiernach würde unser Recht in
letzter Reihe auf tatsächlicher Übung, einer Art Verfassungs-Gewohnheitsrecht
beruhen.

Nehmen wir ein Beispiel. Unsre deutsche Reichsverfassung ist mit ent¬
standen durch eine verfassungsmüßige Erklärung der preußischen Gesetzgeber,
wodurch Preußens Verfassung entsprechend geändert wurde: nicht allein durch
diese Erklärung, vielmehr wirkten zahlreiche andre Erklärungen zusammen, aber
doch unter andern. Die preußische Verfassung ihrerseits verdankt ihre Ent¬
stehung der damaligen gesetzgebenden Gewalt, dem König. Dieser hatte seine
Gesetzgebungsbefugnis, wenigstens für Brandenburg, ursprünglich der Verfassung
des römisch-deutschen Reiches entnommen, und diese hat sich in tatsächlicher


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[0233] [Abbildung] Recht und Nacht user Recht beruht heute im wesentlichen auf den Gesetzen. Woher stammt aber die rechtsverbindliche Kraft der Gesetze? Wie kommt es, daß das als Recht gilt, was gewisse Personen und Personen¬ mehrheiten beschließen? Das bestimmt die Verfassung. Was ist aber die Verfassung? Selbst ein Gesetz. Auch sie schafft also Recht, zum größten Teil mittelbar, indem sie sagt, welche Willenserklärungen welcher Personen Recht sein sollen. Warum ist das aber Recht, wovon so die Verfassung mittelbar sagt, daß es Recht sein soll? Die Verfassung ist ja selbst die Willenserklärung gewisser Personen und Pcrsonenmehrheiten gewesen. Woher hat diese Erklärung ihre Rechtsverbindlichkeit entnommen? Aus einer älteren Verfassung. Die Verfassung gibt nämlich dem Gesetzgeber das Recht, sie — die Verfassung — selbst zu ändern. So entstehen auch ganz neue Verfassungen. Aber weiter. Woher haben jene älteren Verfassungen die Befugnis genommen, Recht zu schaffen, darunter auch neue Verfassungen? Aus noch älteren Verfassungen! So kann die biedre Gesetzmäßigkeit nicht ins Unendliche weitergehn. Irgendwo kommen wir an eine Stelle, wo wir nicht mehr sagen können: diese Verfassung ist aus der vorher geltenden Verfassung gemäß deren Vorschriften entstanden; sie ist von solchen Personen in solcher Weise geschaffen, wie es dein damaligen Recht entsprach. Vielmehr: sie war tatsächlich da, wurde tatsächlich beobachtet und allgemein für geltendes Recht gehalten, aber wie sie entstanden ist, das wissen wir nicht. Hiernach würde unser Recht in letzter Reihe auf tatsächlicher Übung, einer Art Verfassungs-Gewohnheitsrecht beruhen. Nehmen wir ein Beispiel. Unsre deutsche Reichsverfassung ist mit ent¬ standen durch eine verfassungsmüßige Erklärung der preußischen Gesetzgeber, wodurch Preußens Verfassung entsprechend geändert wurde: nicht allein durch diese Erklärung, vielmehr wirkten zahlreiche andre Erklärungen zusammen, aber doch unter andern. Die preußische Verfassung ihrerseits verdankt ihre Ent¬ stehung der damaligen gesetzgebenden Gewalt, dem König. Dieser hatte seine Gesetzgebungsbefugnis, wenigstens für Brandenburg, ursprünglich der Verfassung des römisch-deutschen Reiches entnommen, und diese hat sich in tatsächlicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/233>, abgerufen am 29.06.2024.