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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Scnatorcnrcvision in Turkestan

geprüften Schatz von Grundsätzen und Erfahrungen hatte wie Lichtenberg, konnte
sagen, man dürfe sich bei Erforschung der Wahrheit nicht darum kümmern, ob
der gefundene Satz "in eine Familie gehöre". Es war bei ihm keine Gefahr
vorhanden, daß in seinem Geiste ein Chaos von ungeordneten Beobachtungen
hätte entstehen können. Bei ihm nahm die fixierte Beobachtung gleich die Form
wissenschaftlicher Exaktheit an, etwa wie bei Goethe das Erleben sofort die
Kunstform aus sich gebar.

Lichtenberg ist einer der witzigsten Köpfe unserer Literatur. Dabei ist sein
Witz ohne jede Koketterie und unterscheidet sich darum z. B. sehr von dem Heines.
Mit gleicher Schärfe richtet er sich gegen den "transzendentalen Periodenklang"
der Klopstockjünger in den "Briefen von Mägden über Literatur", wie gegen
die Lavatersche Physiognomik in dem "Fragment von den Schwänzen", und
gegen Voßens schroffe Behauptungen über die Aussprache des in dem Auf¬
satz "Über die Pronnnziation der Schöpfe des alten Griechenland". Der Witz
war Lichtenbergs starke Waffe, mit der er gegen Schwulst und pedantischen
Eigendünkel in seiner Zeit gekämpft hat -- unserer Kultur zum größten Nutzen.




Senatorenrevision in Turkestan
von Ol-, F, von papen

as Wort "Senatorenrevision" hat sür die russischen Beamten einen
unangenehmen Klang. Wenn sich die Klagen gar zu sehr gehäuft
haben, dann schickt die Regierung eine Kommission, an deren
Spitze ein Senator steht, aus, um einmal nach dem Rechten zu
sehen und mit eisernem Besen zu kehren. Diese Revisionen wirken
vorübergehend sehr heilsam, denn die Senatoren, würdige Männer, die im
Rufe strengster Unbestechlichkeit stehen, sind mit unbegrenzten Befugnissen aus¬
gestattet. Ihnen öffnen sich die Kanzleien aller Behörden, selbst der höchsten
Beamten des Landes, nur die Pforten der großfürstlichen Palais bleiben ihnen
verschlossen.

An Arbeit fehlt es den Senatoren nicht, dank dem geradezu genialen
Betrugs- und Unterschlagungssystem, das wie ein einigendes Band das Gros
der russischen Beamten umschließt. Nur der vermag sich von diesem verbrecherischen
Treiben einen rechten Begriff zu machen, der selbst eine Zeitlang im Lande
gelebt hat. Die Russen selbst und die in Rußland ansässigen Ausländer haben
sich so an die bestehenden Verhältnisse gewöhnt, daß sie diese als die normalen
betrachten und sich nur verwundern, wenn einmal ein Beamter es selbst sür
russische Begriffe gar zu toll treibt.


Grenzboicn II 1910 7"
Scnatorcnrcvision in Turkestan

geprüften Schatz von Grundsätzen und Erfahrungen hatte wie Lichtenberg, konnte
sagen, man dürfe sich bei Erforschung der Wahrheit nicht darum kümmern, ob
der gefundene Satz „in eine Familie gehöre". Es war bei ihm keine Gefahr
vorhanden, daß in seinem Geiste ein Chaos von ungeordneten Beobachtungen
hätte entstehen können. Bei ihm nahm die fixierte Beobachtung gleich die Form
wissenschaftlicher Exaktheit an, etwa wie bei Goethe das Erleben sofort die
Kunstform aus sich gebar.

Lichtenberg ist einer der witzigsten Köpfe unserer Literatur. Dabei ist sein
Witz ohne jede Koketterie und unterscheidet sich darum z. B. sehr von dem Heines.
Mit gleicher Schärfe richtet er sich gegen den „transzendentalen Periodenklang"
der Klopstockjünger in den „Briefen von Mägden über Literatur", wie gegen
die Lavatersche Physiognomik in dem „Fragment von den Schwänzen", und
gegen Voßens schroffe Behauptungen über die Aussprache des in dem Auf¬
satz „Über die Pronnnziation der Schöpfe des alten Griechenland". Der Witz
war Lichtenbergs starke Waffe, mit der er gegen Schwulst und pedantischen
Eigendünkel in seiner Zeit gekämpft hat — unserer Kultur zum größten Nutzen.




Senatorenrevision in Turkestan
von Ol-, F, von papen

as Wort „Senatorenrevision" hat sür die russischen Beamten einen
unangenehmen Klang. Wenn sich die Klagen gar zu sehr gehäuft
haben, dann schickt die Regierung eine Kommission, an deren
Spitze ein Senator steht, aus, um einmal nach dem Rechten zu
sehen und mit eisernem Besen zu kehren. Diese Revisionen wirken
vorübergehend sehr heilsam, denn die Senatoren, würdige Männer, die im
Rufe strengster Unbestechlichkeit stehen, sind mit unbegrenzten Befugnissen aus¬
gestattet. Ihnen öffnen sich die Kanzleien aller Behörden, selbst der höchsten
Beamten des Landes, nur die Pforten der großfürstlichen Palais bleiben ihnen
verschlossen.

An Arbeit fehlt es den Senatoren nicht, dank dem geradezu genialen
Betrugs- und Unterschlagungssystem, das wie ein einigendes Band das Gros
der russischen Beamten umschließt. Nur der vermag sich von diesem verbrecherischen
Treiben einen rechten Begriff zu machen, der selbst eine Zeitlang im Lande
gelebt hat. Die Russen selbst und die in Rußland ansässigen Ausländer haben
sich so an die bestehenden Verhältnisse gewöhnt, daß sie diese als die normalen
betrachten und sich nur verwundern, wenn einmal ein Beamter es selbst sür
russische Begriffe gar zu toll treibt.


Grenzboicn II 1910 7"
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[0565] Scnatorcnrcvision in Turkestan geprüften Schatz von Grundsätzen und Erfahrungen hatte wie Lichtenberg, konnte sagen, man dürfe sich bei Erforschung der Wahrheit nicht darum kümmern, ob der gefundene Satz „in eine Familie gehöre". Es war bei ihm keine Gefahr vorhanden, daß in seinem Geiste ein Chaos von ungeordneten Beobachtungen hätte entstehen können. Bei ihm nahm die fixierte Beobachtung gleich die Form wissenschaftlicher Exaktheit an, etwa wie bei Goethe das Erleben sofort die Kunstform aus sich gebar. Lichtenberg ist einer der witzigsten Köpfe unserer Literatur. Dabei ist sein Witz ohne jede Koketterie und unterscheidet sich darum z. B. sehr von dem Heines. Mit gleicher Schärfe richtet er sich gegen den „transzendentalen Periodenklang" der Klopstockjünger in den „Briefen von Mägden über Literatur", wie gegen die Lavatersche Physiognomik in dem „Fragment von den Schwänzen", und gegen Voßens schroffe Behauptungen über die Aussprache des in dem Auf¬ satz „Über die Pronnnziation der Schöpfe des alten Griechenland". Der Witz war Lichtenbergs starke Waffe, mit der er gegen Schwulst und pedantischen Eigendünkel in seiner Zeit gekämpft hat — unserer Kultur zum größten Nutzen. Senatorenrevision in Turkestan von Ol-, F, von papen as Wort „Senatorenrevision" hat sür die russischen Beamten einen unangenehmen Klang. Wenn sich die Klagen gar zu sehr gehäuft haben, dann schickt die Regierung eine Kommission, an deren Spitze ein Senator steht, aus, um einmal nach dem Rechten zu sehen und mit eisernem Besen zu kehren. Diese Revisionen wirken vorübergehend sehr heilsam, denn die Senatoren, würdige Männer, die im Rufe strengster Unbestechlichkeit stehen, sind mit unbegrenzten Befugnissen aus¬ gestattet. Ihnen öffnen sich die Kanzleien aller Behörden, selbst der höchsten Beamten des Landes, nur die Pforten der großfürstlichen Palais bleiben ihnen verschlossen. An Arbeit fehlt es den Senatoren nicht, dank dem geradezu genialen Betrugs- und Unterschlagungssystem, das wie ein einigendes Band das Gros der russischen Beamten umschließt. Nur der vermag sich von diesem verbrecherischen Treiben einen rechten Begriff zu machen, der selbst eine Zeitlang im Lande gelebt hat. Die Russen selbst und die in Rußland ansässigen Ausländer haben sich so an die bestehenden Verhältnisse gewöhnt, daß sie diese als die normalen betrachten und sich nur verwundern, wenn einmal ein Beamter es selbst sür russische Begriffe gar zu toll treibt. Grenzboicn II 1910 7"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/565>, abgerufen am 29.06.2024.