Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Plato für die Gegenwart

plato für die Gegenwart
von Kurt Hildebrandt

GW/MzWö //
"M^^>n unseren Tagen einer vielfachen Zersplitterung der Kräfte und
Künste, der Übermacht des Wissens und technischen Könnens nimmt
eine geistige Forderung immer lebendigere Gestalt an; die nach
der Persönlichkeit, nach dein Willen, der nicht nur Werke schafft,
sondern das Leben selbst richtet und gestaltet. Dieser so starke,
aber oft unbewußte Trieb offenbart sich auch in vielen Fehlern und auf Abwegen.
Es ließe sich viel darüber sagen und klagen, wie die nach Bildung Suchenden
in kleinen biographischen Beziehungen, in Briefsammlungen und moralistischen
Erwägungen sich verirren und des vollendeten Kunstwerks in seiner eigenen
Bestimmtheit, feiner abgegrenzten Lebensfähigkeit nicht gewahr werden.

Diese Fehler können aber nicht darüber täuschen, daß auf den: Verlangen
nach einer großen, vorbildlichen Persönlichkeit heute die Hoffnung unserer geistigen
Bestrebungen allein beruht. Glücklicherweise brauchen wir uns nicht mit der
Beredung von etwa noch ganz gestaltlosen Trieben zu begnügen, sondern dürfen
auf ein höchst umfangreiches Werk verweisen, dessen greifbare Gestalt jenem
Verlangen entsprossen ist. Ich spreche von dem Studium, das der Person
Goethes gewidmet ist. Kein Zweifel, eine Menge von rein wissenschaftlicher
Fronarbeit, selbst von kleinlichen Untersuchungen und falsch gerichteten Bemühungen
ist in dieses Studium aufgegangen; aber auch die sehnsüchtigste Gewalt, die
die einzige Gestalt wieder ins Leben ziehen wollte, erstarb nicht. Nur auf die
Sammlung .Goethe im Gespräch' sei verwiesen, um daran zu erinnern, daß es
heute Philologen gibt, die mit kluger Auswahl des herbeigeschleppten Stoffes
den geistigen Kern, den Dämon, vor uns hinzustellen wissen. Man muß dies
aus vielen verborgenen Trieben und Kräften gesprossene Werk aus der Ferne
überblicken, um zu erkennen, daß hier der ungeheure geistige Reichtum, der in eine
einzige menschliche Form zusammengefaßt wurde, sich uns in einer Weise enthüllte,
wie es in der Geschichte unerhört war. Ein titanisches Vorbild stieg vor dem
reinen Auge des Beschauenden auf, eine wundervolle Gestaltwerdung der Idee
des Menschen. Der nachgeborenen Menschheit aber bleibt, wenn sie nicht ewig
den Namen der Epigonen tragen will, keine andere Aufgabe, als sich von den
Büchern zum Leben zu kehren, mit anderen Worten ein Ingenium zu suchen,
das die geistige Herrschaft Goethes beerben darf, um dann dem Lebenden zu
dienen.

Es würde vergeblich sein, unter den Vergangenen eine Persönlichkeit zu
suchen, die den Strebenden und Forschenden eine solche Fülle bieten könnte wie
Goethe. Aber der Wunsch ist nicht unberechtigt, auch in einer viel ferneren
Zeit, z. B. der hellenischen, nach einer vorbildlichen Persönlichkeit zu suchen, die
nicht wie Goethe durch tausend persönliche Fäden mit uns verknüpft ist, sondern
uns in reinlicher Begrenzung erscheint. Ein zweiter Grund wirkt mit: Die


Grenzboten II 1910 S7
Plato für die Gegenwart

plato für die Gegenwart
von Kurt Hildebrandt

GW/MzWö //
»M^^>n unseren Tagen einer vielfachen Zersplitterung der Kräfte und
Künste, der Übermacht des Wissens und technischen Könnens nimmt
eine geistige Forderung immer lebendigere Gestalt an; die nach
der Persönlichkeit, nach dein Willen, der nicht nur Werke schafft,
sondern das Leben selbst richtet und gestaltet. Dieser so starke,
aber oft unbewußte Trieb offenbart sich auch in vielen Fehlern und auf Abwegen.
Es ließe sich viel darüber sagen und klagen, wie die nach Bildung Suchenden
in kleinen biographischen Beziehungen, in Briefsammlungen und moralistischen
Erwägungen sich verirren und des vollendeten Kunstwerks in seiner eigenen
Bestimmtheit, feiner abgegrenzten Lebensfähigkeit nicht gewahr werden.

Diese Fehler können aber nicht darüber täuschen, daß auf den: Verlangen
nach einer großen, vorbildlichen Persönlichkeit heute die Hoffnung unserer geistigen
Bestrebungen allein beruht. Glücklicherweise brauchen wir uns nicht mit der
Beredung von etwa noch ganz gestaltlosen Trieben zu begnügen, sondern dürfen
auf ein höchst umfangreiches Werk verweisen, dessen greifbare Gestalt jenem
Verlangen entsprossen ist. Ich spreche von dem Studium, das der Person
Goethes gewidmet ist. Kein Zweifel, eine Menge von rein wissenschaftlicher
Fronarbeit, selbst von kleinlichen Untersuchungen und falsch gerichteten Bemühungen
ist in dieses Studium aufgegangen; aber auch die sehnsüchtigste Gewalt, die
die einzige Gestalt wieder ins Leben ziehen wollte, erstarb nicht. Nur auf die
Sammlung .Goethe im Gespräch' sei verwiesen, um daran zu erinnern, daß es
heute Philologen gibt, die mit kluger Auswahl des herbeigeschleppten Stoffes
den geistigen Kern, den Dämon, vor uns hinzustellen wissen. Man muß dies
aus vielen verborgenen Trieben und Kräften gesprossene Werk aus der Ferne
überblicken, um zu erkennen, daß hier der ungeheure geistige Reichtum, der in eine
einzige menschliche Form zusammengefaßt wurde, sich uns in einer Weise enthüllte,
wie es in der Geschichte unerhört war. Ein titanisches Vorbild stieg vor dem
reinen Auge des Beschauenden auf, eine wundervolle Gestaltwerdung der Idee
des Menschen. Der nachgeborenen Menschheit aber bleibt, wenn sie nicht ewig
den Namen der Epigonen tragen will, keine andere Aufgabe, als sich von den
Büchern zum Leben zu kehren, mit anderen Worten ein Ingenium zu suchen,
das die geistige Herrschaft Goethes beerben darf, um dann dem Lebenden zu
dienen.

Es würde vergeblich sein, unter den Vergangenen eine Persönlichkeit zu
suchen, die den Strebenden und Forschenden eine solche Fülle bieten könnte wie
Goethe. Aber der Wunsch ist nicht unberechtigt, auch in einer viel ferneren
Zeit, z. B. der hellenischen, nach einer vorbildlichen Persönlichkeit zu suchen, die
nicht wie Goethe durch tausend persönliche Fäden mit uns verknüpft ist, sondern
uns in reinlicher Begrenzung erscheint. Ein zweiter Grund wirkt mit: Die


Grenzboten II 1910 S7
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0461" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316100"/>
          <fw type="header" place="top"> Plato für die Gegenwart</fw><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> plato für die Gegenwart<lb/><note type="byline"> von Kurt Hildebrandt</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_2408"> GW/MzWö //<lb/>
»M^^&gt;n unseren Tagen einer vielfachen Zersplitterung der Kräfte und<lb/>
Künste, der Übermacht des Wissens und technischen Könnens nimmt<lb/>
eine geistige Forderung immer lebendigere Gestalt an; die nach<lb/>
der Persönlichkeit, nach dein Willen, der nicht nur Werke schafft,<lb/>
sondern das Leben selbst richtet und gestaltet. Dieser so starke,<lb/>
aber oft unbewußte Trieb offenbart sich auch in vielen Fehlern und auf Abwegen.<lb/>
Es ließe sich viel darüber sagen und klagen, wie die nach Bildung Suchenden<lb/>
in kleinen biographischen Beziehungen, in Briefsammlungen und moralistischen<lb/>
Erwägungen sich verirren und des vollendeten Kunstwerks in seiner eigenen<lb/>
Bestimmtheit, feiner abgegrenzten Lebensfähigkeit nicht gewahr werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2409"> Diese Fehler können aber nicht darüber täuschen, daß auf den: Verlangen<lb/>
nach einer großen, vorbildlichen Persönlichkeit heute die Hoffnung unserer geistigen<lb/>
Bestrebungen allein beruht. Glücklicherweise brauchen wir uns nicht mit der<lb/>
Beredung von etwa noch ganz gestaltlosen Trieben zu begnügen, sondern dürfen<lb/>
auf ein höchst umfangreiches Werk verweisen, dessen greifbare Gestalt jenem<lb/>
Verlangen entsprossen ist. Ich spreche von dem Studium, das der Person<lb/>
Goethes gewidmet ist. Kein Zweifel, eine Menge von rein wissenschaftlicher<lb/>
Fronarbeit, selbst von kleinlichen Untersuchungen und falsch gerichteten Bemühungen<lb/>
ist in dieses Studium aufgegangen; aber auch die sehnsüchtigste Gewalt, die<lb/>
die einzige Gestalt wieder ins Leben ziehen wollte, erstarb nicht. Nur auf die<lb/>
Sammlung .Goethe im Gespräch' sei verwiesen, um daran zu erinnern, daß es<lb/>
heute Philologen gibt, die mit kluger Auswahl des herbeigeschleppten Stoffes<lb/>
den geistigen Kern, den Dämon, vor uns hinzustellen wissen. Man muß dies<lb/>
aus vielen verborgenen Trieben und Kräften gesprossene Werk aus der Ferne<lb/>
überblicken, um zu erkennen, daß hier der ungeheure geistige Reichtum, der in eine<lb/>
einzige menschliche Form zusammengefaßt wurde, sich uns in einer Weise enthüllte,<lb/>
wie es in der Geschichte unerhört war. Ein titanisches Vorbild stieg vor dem<lb/>
reinen Auge des Beschauenden auf, eine wundervolle Gestaltwerdung der Idee<lb/>
des Menschen. Der nachgeborenen Menschheit aber bleibt, wenn sie nicht ewig<lb/>
den Namen der Epigonen tragen will, keine andere Aufgabe, als sich von den<lb/>
Büchern zum Leben zu kehren, mit anderen Worten ein Ingenium zu suchen,<lb/>
das die geistige Herrschaft Goethes beerben darf, um dann dem Lebenden zu<lb/>
dienen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2410" next="#ID_2411"> Es würde vergeblich sein, unter den Vergangenen eine Persönlichkeit zu<lb/>
suchen, die den Strebenden und Forschenden eine solche Fülle bieten könnte wie<lb/>
Goethe. Aber der Wunsch ist nicht unberechtigt, auch in einer viel ferneren<lb/>
Zeit, z. B. der hellenischen, nach einer vorbildlichen Persönlichkeit zu suchen, die<lb/>
nicht wie Goethe durch tausend persönliche Fäden mit uns verknüpft ist, sondern<lb/>
uns in reinlicher Begrenzung erscheint. Ein zweiter Grund wirkt mit: Die</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1910 S7</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0461] Plato für die Gegenwart plato für die Gegenwart von Kurt Hildebrandt GW/MzWö // »M^^>n unseren Tagen einer vielfachen Zersplitterung der Kräfte und Künste, der Übermacht des Wissens und technischen Könnens nimmt eine geistige Forderung immer lebendigere Gestalt an; die nach der Persönlichkeit, nach dein Willen, der nicht nur Werke schafft, sondern das Leben selbst richtet und gestaltet. Dieser so starke, aber oft unbewußte Trieb offenbart sich auch in vielen Fehlern und auf Abwegen. Es ließe sich viel darüber sagen und klagen, wie die nach Bildung Suchenden in kleinen biographischen Beziehungen, in Briefsammlungen und moralistischen Erwägungen sich verirren und des vollendeten Kunstwerks in seiner eigenen Bestimmtheit, feiner abgegrenzten Lebensfähigkeit nicht gewahr werden. Diese Fehler können aber nicht darüber täuschen, daß auf den: Verlangen nach einer großen, vorbildlichen Persönlichkeit heute die Hoffnung unserer geistigen Bestrebungen allein beruht. Glücklicherweise brauchen wir uns nicht mit der Beredung von etwa noch ganz gestaltlosen Trieben zu begnügen, sondern dürfen auf ein höchst umfangreiches Werk verweisen, dessen greifbare Gestalt jenem Verlangen entsprossen ist. Ich spreche von dem Studium, das der Person Goethes gewidmet ist. Kein Zweifel, eine Menge von rein wissenschaftlicher Fronarbeit, selbst von kleinlichen Untersuchungen und falsch gerichteten Bemühungen ist in dieses Studium aufgegangen; aber auch die sehnsüchtigste Gewalt, die die einzige Gestalt wieder ins Leben ziehen wollte, erstarb nicht. Nur auf die Sammlung .Goethe im Gespräch' sei verwiesen, um daran zu erinnern, daß es heute Philologen gibt, die mit kluger Auswahl des herbeigeschleppten Stoffes den geistigen Kern, den Dämon, vor uns hinzustellen wissen. Man muß dies aus vielen verborgenen Trieben und Kräften gesprossene Werk aus der Ferne überblicken, um zu erkennen, daß hier der ungeheure geistige Reichtum, der in eine einzige menschliche Form zusammengefaßt wurde, sich uns in einer Weise enthüllte, wie es in der Geschichte unerhört war. Ein titanisches Vorbild stieg vor dem reinen Auge des Beschauenden auf, eine wundervolle Gestaltwerdung der Idee des Menschen. Der nachgeborenen Menschheit aber bleibt, wenn sie nicht ewig den Namen der Epigonen tragen will, keine andere Aufgabe, als sich von den Büchern zum Leben zu kehren, mit anderen Worten ein Ingenium zu suchen, das die geistige Herrschaft Goethes beerben darf, um dann dem Lebenden zu dienen. Es würde vergeblich sein, unter den Vergangenen eine Persönlichkeit zu suchen, die den Strebenden und Forschenden eine solche Fülle bieten könnte wie Goethe. Aber der Wunsch ist nicht unberechtigt, auch in einer viel ferneren Zeit, z. B. der hellenischen, nach einer vorbildlichen Persönlichkeit zu suchen, die nicht wie Goethe durch tausend persönliche Fäden mit uns verknüpft ist, sondern uns in reinlicher Begrenzung erscheint. Ein zweiter Grund wirkt mit: Die Grenzboten II 1910 S7

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/461
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/461>, abgerufen am 29.06.2024.