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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

der öden Schlösser ehemaliger Günstlinge, an denen du vorbeigekommen bist, in
ihren verwachsenen Gärten dem Verfall preisgegeben.

Du siehst Ufer, die dir entgegenzukommen und sogleich wieder zu fliehen und
sich in Buchten zurückzuziehen scheinen. Alles trügt dir den Begriff von Vergäng¬
lichkeit entgegen, von Schönheit, die doppelt erstrebenswert erscheint in ihrer
Unbeständigkeit. Rätselhaste und lockende Orte von wundersamen Zauber.

Die Wasserflut des Bosporus spendet dir Liebestränke und das Wunder des
Vergessens. Sie ist wie eine schöne unverläßliche Geliebte. Du siehst in den
Buchten fröhlich schaukelnde Kalks auf den Wellen, die soeben ein beherztes Boot
heimlich in die Tiefe gezogen haben. Du siehst Menschen, die hellgekleidet am Ufer
wandeln, an Begräbnisstätten und Kerkertürmen und Ruinen vorbei. Und wie¬
wohl du weißt, daß es an diesen zauberhaften Ufern nicht eine Stelle gibt, die
nicht durch Meuchelmord oder offenen Kampf von Blut befleckt worden, so bist du
doch in ihrem unwiderstehlichen Bann. Denn sie geleiten dich, sie weisen dich zu
dem wunderbaren, unendlichen, mannigfaltigen und einzigen Konstantinopel!




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

(Das Ende der Wahlrechtsvorlage -- Kaiser Wilhelm und Herr Pichon.)

Das Spiel ist zu Ende; die Wahlrechtsvorlage hat ausgelitten. Die Umstände,
unter denen es geschah, wird jeder unsrer Leser aus der Zeitung erfahren haben',
wir können sie also als bekannt voraussetzen. Es würde auch vollkommen über¬
flüssig sein, sich in einer nachträglichen Betrachtung noch einmal in das Gewirr der
einzelnen Anträge zu vertiefen, ihre taktische Bedeutung oder ihre voraussichtlichen
Wirkungen zu untersuchen und sich alle Einzelheiten zu vergegenwärtigen, um ein
treues Bild der Stunden festzuhalten, in denen der verunglückten Vorlage das
Zügenglöcklein geläutet wurde. Denn, offen gesagt, so war uns die selig Ver¬
blichene nicht ans Herz gewachsen. Größer als unsre Teilnahme an ihrer Rettung
war die heimliche Sorge, es möchte vielleicht aus mangelnder Festigkeit der
Regierung einem blöden Krüppel das Leben erhalten bleiben. Solange freilich die
Hoffnung bestand, daß noch irgend etwas Brauchbares, wenn es auch nur einen
kleinen Fortschritt bedeutete, zustande kommen könnte, haben wir es für unsre
Pflicht gehalten, diese Möglichkeit nicht zu stören, vielmehr der Regierung zu
Keifen, daß sie ein Königswort einlösen konnte. Aber es hat sich nun klar heraus¬
gestellt, daß der Augenblick, dieses Problem zu lösen, noch nicht gekommen ist.
Der Wille, es zu lösen, besteht fort, also ist keine Ursache zur Beunruhigung vor¬
handen, wenn die gesetzgebenden Faktoren, die sich, den Ordnungen der Verfassung
gemäß, damit beschäftigt haben, noch nicht das letzte Ziel erreichen konnten.

Die Mängel, die der Vorlage von Anfang an anhafteten, sind oft genug
hervorgehoben worden. Auch haben wir kein Hehl daraus gemacht, daß wir
die Methode nicht billigten, die bei der Einbringung befolgt wurde. Die Vorlage


Maßgebliches und Unmaßgebliches

der öden Schlösser ehemaliger Günstlinge, an denen du vorbeigekommen bist, in
ihren verwachsenen Gärten dem Verfall preisgegeben.

Du siehst Ufer, die dir entgegenzukommen und sogleich wieder zu fliehen und
sich in Buchten zurückzuziehen scheinen. Alles trügt dir den Begriff von Vergäng¬
lichkeit entgegen, von Schönheit, die doppelt erstrebenswert erscheint in ihrer
Unbeständigkeit. Rätselhaste und lockende Orte von wundersamen Zauber.

Die Wasserflut des Bosporus spendet dir Liebestränke und das Wunder des
Vergessens. Sie ist wie eine schöne unverläßliche Geliebte. Du siehst in den
Buchten fröhlich schaukelnde Kalks auf den Wellen, die soeben ein beherztes Boot
heimlich in die Tiefe gezogen haben. Du siehst Menschen, die hellgekleidet am Ufer
wandeln, an Begräbnisstätten und Kerkertürmen und Ruinen vorbei. Und wie¬
wohl du weißt, daß es an diesen zauberhaften Ufern nicht eine Stelle gibt, die
nicht durch Meuchelmord oder offenen Kampf von Blut befleckt worden, so bist du
doch in ihrem unwiderstehlichen Bann. Denn sie geleiten dich, sie weisen dich zu
dem wunderbaren, unendlichen, mannigfaltigen und einzigen Konstantinopel!




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

(Das Ende der Wahlrechtsvorlage — Kaiser Wilhelm und Herr Pichon.)

Das Spiel ist zu Ende; die Wahlrechtsvorlage hat ausgelitten. Die Umstände,
unter denen es geschah, wird jeder unsrer Leser aus der Zeitung erfahren haben',
wir können sie also als bekannt voraussetzen. Es würde auch vollkommen über¬
flüssig sein, sich in einer nachträglichen Betrachtung noch einmal in das Gewirr der
einzelnen Anträge zu vertiefen, ihre taktische Bedeutung oder ihre voraussichtlichen
Wirkungen zu untersuchen und sich alle Einzelheiten zu vergegenwärtigen, um ein
treues Bild der Stunden festzuhalten, in denen der verunglückten Vorlage das
Zügenglöcklein geläutet wurde. Denn, offen gesagt, so war uns die selig Ver¬
blichene nicht ans Herz gewachsen. Größer als unsre Teilnahme an ihrer Rettung
war die heimliche Sorge, es möchte vielleicht aus mangelnder Festigkeit der
Regierung einem blöden Krüppel das Leben erhalten bleiben. Solange freilich die
Hoffnung bestand, daß noch irgend etwas Brauchbares, wenn es auch nur einen
kleinen Fortschritt bedeutete, zustande kommen könnte, haben wir es für unsre
Pflicht gehalten, diese Möglichkeit nicht zu stören, vielmehr der Regierung zu
Keifen, daß sie ein Königswort einlösen konnte. Aber es hat sich nun klar heraus¬
gestellt, daß der Augenblick, dieses Problem zu lösen, noch nicht gekommen ist.
Der Wille, es zu lösen, besteht fort, also ist keine Ursache zur Beunruhigung vor¬
handen, wenn die gesetzgebenden Faktoren, die sich, den Ordnungen der Verfassung
gemäß, damit beschäftigt haben, noch nicht das letzte Ziel erreichen konnten.

Die Mängel, die der Vorlage von Anfang an anhafteten, sind oft genug
hervorgehoben worden. Auch haben wir kein Hehl daraus gemacht, daß wir
die Methode nicht billigten, die bei der Einbringung befolgt wurde. Die Vorlage


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[0441] Maßgebliches und Unmaßgebliches der öden Schlösser ehemaliger Günstlinge, an denen du vorbeigekommen bist, in ihren verwachsenen Gärten dem Verfall preisgegeben. Du siehst Ufer, die dir entgegenzukommen und sogleich wieder zu fliehen und sich in Buchten zurückzuziehen scheinen. Alles trügt dir den Begriff von Vergäng¬ lichkeit entgegen, von Schönheit, die doppelt erstrebenswert erscheint in ihrer Unbeständigkeit. Rätselhaste und lockende Orte von wundersamen Zauber. Die Wasserflut des Bosporus spendet dir Liebestränke und das Wunder des Vergessens. Sie ist wie eine schöne unverläßliche Geliebte. Du siehst in den Buchten fröhlich schaukelnde Kalks auf den Wellen, die soeben ein beherztes Boot heimlich in die Tiefe gezogen haben. Du siehst Menschen, die hellgekleidet am Ufer wandeln, an Begräbnisstätten und Kerkertürmen und Ruinen vorbei. Und wie¬ wohl du weißt, daß es an diesen zauberhaften Ufern nicht eine Stelle gibt, die nicht durch Meuchelmord oder offenen Kampf von Blut befleckt worden, so bist du doch in ihrem unwiderstehlichen Bann. Denn sie geleiten dich, sie weisen dich zu dem wunderbaren, unendlichen, mannigfaltigen und einzigen Konstantinopel! Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel (Das Ende der Wahlrechtsvorlage — Kaiser Wilhelm und Herr Pichon.) Das Spiel ist zu Ende; die Wahlrechtsvorlage hat ausgelitten. Die Umstände, unter denen es geschah, wird jeder unsrer Leser aus der Zeitung erfahren haben', wir können sie also als bekannt voraussetzen. Es würde auch vollkommen über¬ flüssig sein, sich in einer nachträglichen Betrachtung noch einmal in das Gewirr der einzelnen Anträge zu vertiefen, ihre taktische Bedeutung oder ihre voraussichtlichen Wirkungen zu untersuchen und sich alle Einzelheiten zu vergegenwärtigen, um ein treues Bild der Stunden festzuhalten, in denen der verunglückten Vorlage das Zügenglöcklein geläutet wurde. Denn, offen gesagt, so war uns die selig Ver¬ blichene nicht ans Herz gewachsen. Größer als unsre Teilnahme an ihrer Rettung war die heimliche Sorge, es möchte vielleicht aus mangelnder Festigkeit der Regierung einem blöden Krüppel das Leben erhalten bleiben. Solange freilich die Hoffnung bestand, daß noch irgend etwas Brauchbares, wenn es auch nur einen kleinen Fortschritt bedeutete, zustande kommen könnte, haben wir es für unsre Pflicht gehalten, diese Möglichkeit nicht zu stören, vielmehr der Regierung zu Keifen, daß sie ein Königswort einlösen konnte. Aber es hat sich nun klar heraus¬ gestellt, daß der Augenblick, dieses Problem zu lösen, noch nicht gekommen ist. Der Wille, es zu lösen, besteht fort, also ist keine Ursache zur Beunruhigung vor¬ handen, wenn die gesetzgebenden Faktoren, die sich, den Ordnungen der Verfassung gemäß, damit beschäftigt haben, noch nicht das letzte Ziel erreichen konnten. Die Mängel, die der Vorlage von Anfang an anhafteten, sind oft genug hervorgehoben worden. Auch haben wir kein Hehl daraus gemacht, daß wir die Methode nicht billigten, die bei der Einbringung befolgt wurde. Die Vorlage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/441>, abgerufen am 29.06.2024.