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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Die 20. Ausstellung der Berliner Rezession
Von Hans Roscnhagen

le von Ibsen jeder normal geballten Wahrheit zugesprochene Lebens¬
frist von zwölf, fünfzehn, höchstens zwanzig Jahren bezeichnet
eigentlich auch die Altersgrenze jeder nützlichen Einrichtung. Deshalb
kann es kaum wundernehmen, daß die Berliner Sezession, nachdem
sie zwölf Jahre gewirkt, jetzt zum mindesten reformbedürftig
erscheint. Sie hat sehr viel Gutes im Berliner Kunstleben gestiftet. Wie berechtigt
war ihre Oppositionsstellung gegen den Akademiemismns, gegen die eingetrocknete
Ästhetik, gegen die veralteten Vorstellungen des Publikums vou Kunst! Doch
alles hat seine Zeit. Die Einseitigkeit ihrer Bestrebungen setzte die Grenzen der
Wirksamkeit der Sezession. Ihr Eintreten für die Freiheit der Kunst, für das
Talent an sich hat mählich zu unhaltbaren Zuständen geführt und die Kunst-
begriffe so verwirrt, daß aus den Kreisen der Sezession selbst der Ruf nach der
Akademie, nach dein soliden Handwerk in der Kunst laut wird. Keine Frage,
daß die Leitung der Sezession allein die Schuld an diesen Zuständen sich
zuzuschreiben hat. Zu bereitwillig hat sie allem, was nach Talent aussah, die
Pforten ihrer Ausstellungen geöffnet, zu einseitig war sie in der Bevorzugung
der Künstler, welche die französischen Impressionisten und ihre neuesten Pariser
Fortsetzer nachahmte", zu nachsichtig nahm sie Arbeiten auf, deren Urheber nicht
einen künstlerischen Zweck, sondern lediglich die grobe Sensation erstrebten. Auf
diese Weise verloren ihre Ausstellungen den ursprünglich beabsichtigten vorbild¬
lichen Charakter, wurden sie zu Stätten, wo neben der ernsten Kunst die Blague
lind die Unfähigkeit das große Wort führten. Es ist grade den vorzüglichsten
Künstlern der Sezession der Vorwurf uicht zu ersparen, daß sie zu wenig streng
über die Würde der Kunst gewacht und Künstler und Werke in ihren Kreis
gelassen habe", die dort nicht hingehören. Jetzt fühlen sie sich selbst durch die
Fülle der unfähigen Elemente bedrängt und müssen erleben, daß die Leute,
denen sie erst die Möglichkeit verschafften, vor der Öffentlichkeit zu erscheinen,
sie des Eigennutzes, der Härte und anderer schlimmer Eigenschaften beschuldigen.
Zum Glück und° mit Recht steht das Publikum und die einsichtige Kritik durchaus
auf der Seite der Angegriffenen, die als Persönlichkeiten und Schaffende durch
lange Jahre sich bewährt haben. Wird eine Reorganisation der Sezession


Grenzboten II 1910 28


Die 20. Ausstellung der Berliner Rezession
Von Hans Roscnhagen

le von Ibsen jeder normal geballten Wahrheit zugesprochene Lebens¬
frist von zwölf, fünfzehn, höchstens zwanzig Jahren bezeichnet
eigentlich auch die Altersgrenze jeder nützlichen Einrichtung. Deshalb
kann es kaum wundernehmen, daß die Berliner Sezession, nachdem
sie zwölf Jahre gewirkt, jetzt zum mindesten reformbedürftig
erscheint. Sie hat sehr viel Gutes im Berliner Kunstleben gestiftet. Wie berechtigt
war ihre Oppositionsstellung gegen den Akademiemismns, gegen die eingetrocknete
Ästhetik, gegen die veralteten Vorstellungen des Publikums vou Kunst! Doch
alles hat seine Zeit. Die Einseitigkeit ihrer Bestrebungen setzte die Grenzen der
Wirksamkeit der Sezession. Ihr Eintreten für die Freiheit der Kunst, für das
Talent an sich hat mählich zu unhaltbaren Zuständen geführt und die Kunst-
begriffe so verwirrt, daß aus den Kreisen der Sezession selbst der Ruf nach der
Akademie, nach dein soliden Handwerk in der Kunst laut wird. Keine Frage,
daß die Leitung der Sezession allein die Schuld an diesen Zuständen sich
zuzuschreiben hat. Zu bereitwillig hat sie allem, was nach Talent aussah, die
Pforten ihrer Ausstellungen geöffnet, zu einseitig war sie in der Bevorzugung
der Künstler, welche die französischen Impressionisten und ihre neuesten Pariser
Fortsetzer nachahmte», zu nachsichtig nahm sie Arbeiten auf, deren Urheber nicht
einen künstlerischen Zweck, sondern lediglich die grobe Sensation erstrebten. Auf
diese Weise verloren ihre Ausstellungen den ursprünglich beabsichtigten vorbild¬
lichen Charakter, wurden sie zu Stätten, wo neben der ernsten Kunst die Blague
lind die Unfähigkeit das große Wort führten. Es ist grade den vorzüglichsten
Künstlern der Sezession der Vorwurf uicht zu ersparen, daß sie zu wenig streng
über die Würde der Kunst gewacht und Künstler und Werke in ihren Kreis
gelassen habe«, die dort nicht hingehören. Jetzt fühlen sie sich selbst durch die
Fülle der unfähigen Elemente bedrängt und müssen erleben, daß die Leute,
denen sie erst die Möglichkeit verschafften, vor der Öffentlichkeit zu erscheinen,
sie des Eigennutzes, der Härte und anderer schlimmer Eigenschaften beschuldigen.
Zum Glück und° mit Recht steht das Publikum und die einsichtige Kritik durchaus
auf der Seite der Angegriffenen, die als Persönlichkeiten und Schaffende durch
lange Jahre sich bewährt haben. Wird eine Reorganisation der Sezession


Grenzboten II 1910 28
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[0229] [Abbildung] Die 20. Ausstellung der Berliner Rezession Von Hans Roscnhagen le von Ibsen jeder normal geballten Wahrheit zugesprochene Lebens¬ frist von zwölf, fünfzehn, höchstens zwanzig Jahren bezeichnet eigentlich auch die Altersgrenze jeder nützlichen Einrichtung. Deshalb kann es kaum wundernehmen, daß die Berliner Sezession, nachdem sie zwölf Jahre gewirkt, jetzt zum mindesten reformbedürftig erscheint. Sie hat sehr viel Gutes im Berliner Kunstleben gestiftet. Wie berechtigt war ihre Oppositionsstellung gegen den Akademiemismns, gegen die eingetrocknete Ästhetik, gegen die veralteten Vorstellungen des Publikums vou Kunst! Doch alles hat seine Zeit. Die Einseitigkeit ihrer Bestrebungen setzte die Grenzen der Wirksamkeit der Sezession. Ihr Eintreten für die Freiheit der Kunst, für das Talent an sich hat mählich zu unhaltbaren Zuständen geführt und die Kunst- begriffe so verwirrt, daß aus den Kreisen der Sezession selbst der Ruf nach der Akademie, nach dein soliden Handwerk in der Kunst laut wird. Keine Frage, daß die Leitung der Sezession allein die Schuld an diesen Zuständen sich zuzuschreiben hat. Zu bereitwillig hat sie allem, was nach Talent aussah, die Pforten ihrer Ausstellungen geöffnet, zu einseitig war sie in der Bevorzugung der Künstler, welche die französischen Impressionisten und ihre neuesten Pariser Fortsetzer nachahmte», zu nachsichtig nahm sie Arbeiten auf, deren Urheber nicht einen künstlerischen Zweck, sondern lediglich die grobe Sensation erstrebten. Auf diese Weise verloren ihre Ausstellungen den ursprünglich beabsichtigten vorbild¬ lichen Charakter, wurden sie zu Stätten, wo neben der ernsten Kunst die Blague lind die Unfähigkeit das große Wort führten. Es ist grade den vorzüglichsten Künstlern der Sezession der Vorwurf uicht zu ersparen, daß sie zu wenig streng über die Würde der Kunst gewacht und Künstler und Werke in ihren Kreis gelassen habe«, die dort nicht hingehören. Jetzt fühlen sie sich selbst durch die Fülle der unfähigen Elemente bedrängt und müssen erleben, daß die Leute, denen sie erst die Möglichkeit verschafften, vor der Öffentlichkeit zu erscheinen, sie des Eigennutzes, der Härte und anderer schlimmer Eigenschaften beschuldigen. Zum Glück und° mit Recht steht das Publikum und die einsichtige Kritik durchaus auf der Seite der Angegriffenen, die als Persönlichkeiten und Schaffende durch lange Jahre sich bewährt haben. Wird eine Reorganisation der Sezession Grenzboten II 1910 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/229>, abgerufen am 29.06.2024.