Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Das Elsaß

n patriotischen Kreisen hört man oft mit leiser Verwunderung und
Bedauern die Klage, daß die Elsässer noch so gar nicht geneigt
sind, ihre Hinneigung zu Frankreich fahren zu lassen und sich in
die Zugehörigkeit zum Reiche zu fügen.- Sie sind doch in über¬
wiegender Mehrzahl deutschen Stammes, sprechen ihren deutschen
Dialekt als Muttersprache, waren erst durch die große Revolution in den engeren
französischen Staat einbezogen. Woher nun dieses Widerstreben? Die Reichs¬
regierung hat sich mit ihrer Versöhnung viel Mühe gegeben; aber ruhiges und
freundliches Verfahren hat ebensowenig genützt wie Strenge und Barschheit.
Mannigfach sind die Versuche zur Erklärung der für Deutschland so auffallenden,
ja beschämenden Tatsache, vielfache Heilmittel werden empfohlen; aber die
Hauptsache wird kaum gestreift. Ein bereits halbvergessener Historiker, der
zugleich in politici8 große Erfahrung besaß, Bernhardi, hatte sie bereits vor
1870 in kurze Worte zusammengedrängt; im ersten Bande der russischen Geschichte
(erschienen 1863), der eine vorzügliche Darstellung der Zeit des Wiener Kon¬
gresses bis Waterloo enthält, spricht Bernhardi (S. 480) von der Wieder¬
gewinnung des Elsaß und Stratzburgs. Bernhardi erklärt die damals genau
so wie jetzt vorhandene Abneigung der Elsässer zur Rückkehr in die alten
Verhältnisse durch die bedeutenden Vorteile, die die französische Revolution für
die Bevölkerung gebracht habe, vor allem durch die Sicherung des
bäuerlichen Grundeigentums infolge der Aufhebung der Hörigkeit mit
ihren großen Fronten und Lasten. Dann fährt er fort: "Dazu kommt, daß ein
Großstaat seine Angehörigen durch die Weite des Horizonts, die sich in ihm
für jeden einzelnen öffnet, durch die Macht der großen und bedeutsamen Interessen,
die er jedem einzelnen nahelegt, mit einer Gewalt an sich fesselt, die in
beschränkteren Verhältnissen durch nichts ersetzt werden kann ... Der Versuch
dagegen, einzelne Provinzen des großen Reichs abzulösen, um sie in die
Bedingungen eines kleinen, unbedeutenden und abhängigen Staates zu versetzen,
der an den größeren Weltereignissen nur leidend, nicht bestimmend, teilnimmt,
kann nicht so leicht gelingen. Was vorausgehen müßte, damit Deutschland
seine verlorenen, schönen Grenzlande nicht allein wiedergewinnen, sondern auch
mit Sicherheit an sich fesseln könne, sagt sich wohl jeder selbst."


Grenzboten I 1910 57


Das Elsaß

n patriotischen Kreisen hört man oft mit leiser Verwunderung und
Bedauern die Klage, daß die Elsässer noch so gar nicht geneigt
sind, ihre Hinneigung zu Frankreich fahren zu lassen und sich in
die Zugehörigkeit zum Reiche zu fügen.- Sie sind doch in über¬
wiegender Mehrzahl deutschen Stammes, sprechen ihren deutschen
Dialekt als Muttersprache, waren erst durch die große Revolution in den engeren
französischen Staat einbezogen. Woher nun dieses Widerstreben? Die Reichs¬
regierung hat sich mit ihrer Versöhnung viel Mühe gegeben; aber ruhiges und
freundliches Verfahren hat ebensowenig genützt wie Strenge und Barschheit.
Mannigfach sind die Versuche zur Erklärung der für Deutschland so auffallenden,
ja beschämenden Tatsache, vielfache Heilmittel werden empfohlen; aber die
Hauptsache wird kaum gestreift. Ein bereits halbvergessener Historiker, der
zugleich in politici8 große Erfahrung besaß, Bernhardi, hatte sie bereits vor
1870 in kurze Worte zusammengedrängt; im ersten Bande der russischen Geschichte
(erschienen 1863), der eine vorzügliche Darstellung der Zeit des Wiener Kon¬
gresses bis Waterloo enthält, spricht Bernhardi (S. 480) von der Wieder¬
gewinnung des Elsaß und Stratzburgs. Bernhardi erklärt die damals genau
so wie jetzt vorhandene Abneigung der Elsässer zur Rückkehr in die alten
Verhältnisse durch die bedeutenden Vorteile, die die französische Revolution für
die Bevölkerung gebracht habe, vor allem durch die Sicherung des
bäuerlichen Grundeigentums infolge der Aufhebung der Hörigkeit mit
ihren großen Fronten und Lasten. Dann fährt er fort: „Dazu kommt, daß ein
Großstaat seine Angehörigen durch die Weite des Horizonts, die sich in ihm
für jeden einzelnen öffnet, durch die Macht der großen und bedeutsamen Interessen,
die er jedem einzelnen nahelegt, mit einer Gewalt an sich fesselt, die in
beschränkteren Verhältnissen durch nichts ersetzt werden kann ... Der Versuch
dagegen, einzelne Provinzen des großen Reichs abzulösen, um sie in die
Bedingungen eines kleinen, unbedeutenden und abhängigen Staates zu versetzen,
der an den größeren Weltereignissen nur leidend, nicht bestimmend, teilnimmt,
kann nicht so leicht gelingen. Was vorausgehen müßte, damit Deutschland
seine verlorenen, schönen Grenzlande nicht allein wiedergewinnen, sondern auch
mit Sicherheit an sich fesseln könne, sagt sich wohl jeder selbst."


Grenzboten I 1910 57
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0461" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315458"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341891_314996/figures/grenzboten_341891_314996_315458_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das Elsaß</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1999"> n patriotischen Kreisen hört man oft mit leiser Verwunderung und<lb/>
Bedauern die Klage, daß die Elsässer noch so gar nicht geneigt<lb/>
sind, ihre Hinneigung zu Frankreich fahren zu lassen und sich in<lb/>
die Zugehörigkeit zum Reiche zu fügen.- Sie sind doch in über¬<lb/>
wiegender Mehrzahl deutschen Stammes, sprechen ihren deutschen<lb/>
Dialekt als Muttersprache, waren erst durch die große Revolution in den engeren<lb/>
französischen Staat einbezogen. Woher nun dieses Widerstreben? Die Reichs¬<lb/>
regierung hat sich mit ihrer Versöhnung viel Mühe gegeben; aber ruhiges und<lb/>
freundliches Verfahren hat ebensowenig genützt wie Strenge und Barschheit.<lb/>
Mannigfach sind die Versuche zur Erklärung der für Deutschland so auffallenden,<lb/>
ja beschämenden Tatsache, vielfache Heilmittel werden empfohlen; aber die<lb/>
Hauptsache wird kaum gestreift. Ein bereits halbvergessener Historiker, der<lb/>
zugleich in politici8 große Erfahrung besaß, Bernhardi, hatte sie bereits vor<lb/>
1870 in kurze Worte zusammengedrängt; im ersten Bande der russischen Geschichte<lb/>
(erschienen 1863), der eine vorzügliche Darstellung der Zeit des Wiener Kon¬<lb/>
gresses bis Waterloo enthält, spricht Bernhardi (S. 480) von der Wieder¬<lb/>
gewinnung des Elsaß und Stratzburgs. Bernhardi erklärt die damals genau<lb/>
so wie jetzt vorhandene Abneigung der Elsässer zur Rückkehr in die alten<lb/>
Verhältnisse durch die bedeutenden Vorteile, die die französische Revolution für<lb/>
die Bevölkerung gebracht habe, vor allem durch die Sicherung des<lb/>
bäuerlichen Grundeigentums infolge der Aufhebung der Hörigkeit mit<lb/>
ihren großen Fronten und Lasten. Dann fährt er fort: &#x201E;Dazu kommt, daß ein<lb/>
Großstaat seine Angehörigen durch die Weite des Horizonts, die sich in ihm<lb/>
für jeden einzelnen öffnet, durch die Macht der großen und bedeutsamen Interessen,<lb/>
die er jedem einzelnen nahelegt, mit einer Gewalt an sich fesselt, die in<lb/>
beschränkteren Verhältnissen durch nichts ersetzt werden kann ... Der Versuch<lb/>
dagegen, einzelne Provinzen des großen Reichs abzulösen, um sie in die<lb/>
Bedingungen eines kleinen, unbedeutenden und abhängigen Staates zu versetzen,<lb/>
der an den größeren Weltereignissen nur leidend, nicht bestimmend, teilnimmt,<lb/>
kann nicht so leicht gelingen. Was vorausgehen müßte, damit Deutschland<lb/>
seine verlorenen, schönen Grenzlande nicht allein wiedergewinnen, sondern auch<lb/>
mit Sicherheit an sich fesseln könne, sagt sich wohl jeder selbst."</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1910 57</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0461] [Abbildung] Das Elsaß n patriotischen Kreisen hört man oft mit leiser Verwunderung und Bedauern die Klage, daß die Elsässer noch so gar nicht geneigt sind, ihre Hinneigung zu Frankreich fahren zu lassen und sich in die Zugehörigkeit zum Reiche zu fügen.- Sie sind doch in über¬ wiegender Mehrzahl deutschen Stammes, sprechen ihren deutschen Dialekt als Muttersprache, waren erst durch die große Revolution in den engeren französischen Staat einbezogen. Woher nun dieses Widerstreben? Die Reichs¬ regierung hat sich mit ihrer Versöhnung viel Mühe gegeben; aber ruhiges und freundliches Verfahren hat ebensowenig genützt wie Strenge und Barschheit. Mannigfach sind die Versuche zur Erklärung der für Deutschland so auffallenden, ja beschämenden Tatsache, vielfache Heilmittel werden empfohlen; aber die Hauptsache wird kaum gestreift. Ein bereits halbvergessener Historiker, der zugleich in politici8 große Erfahrung besaß, Bernhardi, hatte sie bereits vor 1870 in kurze Worte zusammengedrängt; im ersten Bande der russischen Geschichte (erschienen 1863), der eine vorzügliche Darstellung der Zeit des Wiener Kon¬ gresses bis Waterloo enthält, spricht Bernhardi (S. 480) von der Wieder¬ gewinnung des Elsaß und Stratzburgs. Bernhardi erklärt die damals genau so wie jetzt vorhandene Abneigung der Elsässer zur Rückkehr in die alten Verhältnisse durch die bedeutenden Vorteile, die die französische Revolution für die Bevölkerung gebracht habe, vor allem durch die Sicherung des bäuerlichen Grundeigentums infolge der Aufhebung der Hörigkeit mit ihren großen Fronten und Lasten. Dann fährt er fort: „Dazu kommt, daß ein Großstaat seine Angehörigen durch die Weite des Horizonts, die sich in ihm für jeden einzelnen öffnet, durch die Macht der großen und bedeutsamen Interessen, die er jedem einzelnen nahelegt, mit einer Gewalt an sich fesselt, die in beschränkteren Verhältnissen durch nichts ersetzt werden kann ... Der Versuch dagegen, einzelne Provinzen des großen Reichs abzulösen, um sie in die Bedingungen eines kleinen, unbedeutenden und abhängigen Staates zu versetzen, der an den größeren Weltereignissen nur leidend, nicht bestimmend, teilnimmt, kann nicht so leicht gelingen. Was vorausgehen müßte, damit Deutschland seine verlorenen, schönen Grenzlande nicht allein wiedergewinnen, sondern auch mit Sicherheit an sich fesseln könne, sagt sich wohl jeder selbst." Grenzboten I 1910 57

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/461
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/461>, abgerufen am 21.12.2024.