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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Der englische Ataat von heute

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v^x^F^>in dritten Bande des Jahrgangs 1901 und im dritten Bande
des Jahrgangs 1906 der Grenzboten ist aus den beiden großen
Werken Josef Redlichs über die englische Lokalverwaltung und
das englische Parlament das Wichtigste mitgeteilt worden. Das
!kleine Buch von Sidney Low: Die Regierung Englands
(deutsch von Johannes Hoops, mit einer Einleitung von Georg Jellinek,
Tübingen, I. C. B Mohr, 1908) kann seinem Umfange und seiner auf einen
weiten Leserkreis berechneten Anlage nach weder alle für das Verständnis dieser
komplizierten politischen Maschinerie notwendigen Einzelheiten darstellen noch
die Gesetze und sonstigen Urkunden im Wortlaut anführen, wie Redlich tut, auch
fallen die dafür ausgewählten Gegenstände mit den von dem deutschen Forscher
bearbeiteten nicht ganz zusammen, aber es bestätigt die Auffassung vom Wesen
des englischen Staats, die man aus Redlichs Werken gewinnt -- unabsichtlich,
denn Low scheint dessen Arbeiten nicht zu kennen --, und wir erfahren die
Bestätigung nicht bloß aus seinem Munde, sondern auch aus dem der zahl¬
reichen englischen Autoritäten, auf die er sich beruft. Er beginnt natürlich mit
dem, womit jeder beginnen muß, der über die englische Verfassung spricht, daß
sie nicht existiert, in dem Sinne, den man anderwärts mit dem Worte verbindet.
Sie ist ein lebendiger Organismus, der sich in jedem Jahrzehnt den Bedürf¬
nissen anpaßt, die unaufhörlich wechseln; und zwar ist die Anpassung tatsächlich,
durch Brauch und Gewohnheit, oft schon lange vollzogen, ehe sie durch ein
Gesetz anerkannt wird. Namentlich die äußere Form, der "zeremonielle Teil
der Regierung" wird von dem im höchsten Grade konservativen Engländer mit
solcher Beharrlichkeit festgehalten, daß Geschichtsforscher späterer Jahrtausende,
die das heutige England nur aus amtlichen Dokumenten kennen lernen, zu
dem Irrtum verleitet werden müssen, es habe sich in der Verfassung des Landes
seit 1700 nichts geändert. "Wir haben seit zwei Jahrhunderten keine Revolution
gehabt; wir sind nicht genötigt gewesen, reinen Tisch zu machen und die Grund¬
lagen unsers Staatswesens zu untersuchen, und wir sind stolz darauf, ein un¬
logisches Volk zu sein. So haben wir sorgfältig die Shstematisierung vermieden.
Wir sorgen für den gegenwärtigen Augenblick, und wir sind zufrieden mit einer
Verfassung, die erfahrungsgemäß unsern praktischen Bedürfnissen entspricht, ob¬
wohl sie nur ein Gemisch aus Recht, Geschichte, Ethik, Gewohnheit und das
Ergebnis der verschiedenartigen Einflüsse ist, die den Bau der Gesellschaft von
Jahr zu Jahr, man kann fast sagen von Stunde zu Stunde umformen." Deshalb


Grenzboten til 1909 9


Der englische Ataat von heute

MUW
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v^x^F^>in dritten Bande des Jahrgangs 1901 und im dritten Bande
des Jahrgangs 1906 der Grenzboten ist aus den beiden großen
Werken Josef Redlichs über die englische Lokalverwaltung und
das englische Parlament das Wichtigste mitgeteilt worden. Das
!kleine Buch von Sidney Low: Die Regierung Englands
(deutsch von Johannes Hoops, mit einer Einleitung von Georg Jellinek,
Tübingen, I. C. B Mohr, 1908) kann seinem Umfange und seiner auf einen
weiten Leserkreis berechneten Anlage nach weder alle für das Verständnis dieser
komplizierten politischen Maschinerie notwendigen Einzelheiten darstellen noch
die Gesetze und sonstigen Urkunden im Wortlaut anführen, wie Redlich tut, auch
fallen die dafür ausgewählten Gegenstände mit den von dem deutschen Forscher
bearbeiteten nicht ganz zusammen, aber es bestätigt die Auffassung vom Wesen
des englischen Staats, die man aus Redlichs Werken gewinnt — unabsichtlich,
denn Low scheint dessen Arbeiten nicht zu kennen —, und wir erfahren die
Bestätigung nicht bloß aus seinem Munde, sondern auch aus dem der zahl¬
reichen englischen Autoritäten, auf die er sich beruft. Er beginnt natürlich mit
dem, womit jeder beginnen muß, der über die englische Verfassung spricht, daß
sie nicht existiert, in dem Sinne, den man anderwärts mit dem Worte verbindet.
Sie ist ein lebendiger Organismus, der sich in jedem Jahrzehnt den Bedürf¬
nissen anpaßt, die unaufhörlich wechseln; und zwar ist die Anpassung tatsächlich,
durch Brauch und Gewohnheit, oft schon lange vollzogen, ehe sie durch ein
Gesetz anerkannt wird. Namentlich die äußere Form, der „zeremonielle Teil
der Regierung" wird von dem im höchsten Grade konservativen Engländer mit
solcher Beharrlichkeit festgehalten, daß Geschichtsforscher späterer Jahrtausende,
die das heutige England nur aus amtlichen Dokumenten kennen lernen, zu
dem Irrtum verleitet werden müssen, es habe sich in der Verfassung des Landes
seit 1700 nichts geändert. „Wir haben seit zwei Jahrhunderten keine Revolution
gehabt; wir sind nicht genötigt gewesen, reinen Tisch zu machen und die Grund¬
lagen unsers Staatswesens zu untersuchen, und wir sind stolz darauf, ein un¬
logisches Volk zu sein. So haben wir sorgfältig die Shstematisierung vermieden.
Wir sorgen für den gegenwärtigen Augenblick, und wir sind zufrieden mit einer
Verfassung, die erfahrungsgemäß unsern praktischen Bedürfnissen entspricht, ob¬
wohl sie nur ein Gemisch aus Recht, Geschichte, Ethik, Gewohnheit und das
Ergebnis der verschiedenartigen Einflüsse ist, die den Bau der Gesellschaft von
Jahr zu Jahr, man kann fast sagen von Stunde zu Stunde umformen." Deshalb


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/69>, abgerufen am 21.12.2024.