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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Türkei und ^erhielt

ührend sich im letzten Jahrzehnt die große Politik fast ausschlie߬
lich mit dem fernen Osten beschäftigte, sind neuerdings wieder
aller Augen auf die Verhältnisse im Orient gerichtet. Es kommt
deshalb eine Broschüre im richtigen Augenblick, die der bekannte
Forschungsreisende und politische Schriftsteller Dr. Wirth über
"Türkei und Persien" als Heft 2 seiner "Streiflichter auf die Weltpolitik"
veröffentlicht hat. Er hält die Zukunft der Türkei für bedeutend hoffnungs¬
voller, als bor einem Menschenalter angenommen wurde, und meint, sie strahle
in hellerm Lichte, als man selbst noch vor wenig Jahren glauben durfte. Die
Wolken, die von Osten her drohten, hätten sich verzogen. Die Eifersucht der
Möchte hat das übrige getan. In einem gewissen Widerspruch bewegt sich aber
Wirth, wenn er einerseits von der "übermäßigen, ungesunden Zentralisation des
Reiches" spricht, andrerseits eine Gefahr für die Türkei in dem Erstarken des
Nationalismus sieht, der auch in der Semitenwelt sein Haupt erhoben hat
und in Arabien, Syrien, Mesopotamien unabhängige Reiche aufrichten will.
Wirth meint, der Nationalismus wolle einen Vertreter der edelsten Nasse und
der vornehmsten Sprache, des Arabischen, zum Oberherrn aller Gläubige" er¬
heben an Stelle des nordischen Eroberers, der kein rechter Iman sei, vom
Samen Mohammeds, der als Vertreter einer Varbarenhorde zu gelten habe.
Diese arabische Bewegung, die sich gerade in der jüngsten Zeit deutlicher ent¬
faltet habe, sei auch die Ursache der fortwährenden Kämpfe in Jemen und
Hadramaut, jener offnen Wunde am Körper des türkischen Reiches. Wir sind
nicht der Ansicht, daß die Dezentralisation der Zentralisation vorzuziehen sei,
sondern glauben, daß ein richtiger Mittelweg zwischen beiden Systemen vorteil¬
hafter ist. Man sollte eine starke Zentralregierung in Konstantinopel schaffen,
daneben aber den einzelnen Provinzen ein möglichst großes Maß von Selbst¬
verwaltung geben.

Interessant ist die Bemerkung Wirths, daß der Parlamentarismus eigentlich
'w der Türkei nur deshalb so. viele Anhänger habe, weil der Osten die
parlamentarischen Einrichtungen dem Westen meidet und nicht selig werden zu
können glaube, ehe er ihn eingeführt habe. Aber auch Wirth sieht im Parla¬
mentarismus nicht ein Allheilmittel für die Besserung der türkischen Zustände.

Sehr eingehend beschäftigt sich der Verfasser mit den einzelnen Nationalitäten.
Von den Griechen meint er, daß sie eine große Zukunft hätten. Es scheint
allerdings auch nicht ausgeschlossen zu sein, daß die Griechen in dem jetzt




Türkei und ^erhielt

ührend sich im letzten Jahrzehnt die große Politik fast ausschlie߬
lich mit dem fernen Osten beschäftigte, sind neuerdings wieder
aller Augen auf die Verhältnisse im Orient gerichtet. Es kommt
deshalb eine Broschüre im richtigen Augenblick, die der bekannte
Forschungsreisende und politische Schriftsteller Dr. Wirth über
„Türkei und Persien" als Heft 2 seiner „Streiflichter auf die Weltpolitik"
veröffentlicht hat. Er hält die Zukunft der Türkei für bedeutend hoffnungs¬
voller, als bor einem Menschenalter angenommen wurde, und meint, sie strahle
in hellerm Lichte, als man selbst noch vor wenig Jahren glauben durfte. Die
Wolken, die von Osten her drohten, hätten sich verzogen. Die Eifersucht der
Möchte hat das übrige getan. In einem gewissen Widerspruch bewegt sich aber
Wirth, wenn er einerseits von der „übermäßigen, ungesunden Zentralisation des
Reiches" spricht, andrerseits eine Gefahr für die Türkei in dem Erstarken des
Nationalismus sieht, der auch in der Semitenwelt sein Haupt erhoben hat
und in Arabien, Syrien, Mesopotamien unabhängige Reiche aufrichten will.
Wirth meint, der Nationalismus wolle einen Vertreter der edelsten Nasse und
der vornehmsten Sprache, des Arabischen, zum Oberherrn aller Gläubige» er¬
heben an Stelle des nordischen Eroberers, der kein rechter Iman sei, vom
Samen Mohammeds, der als Vertreter einer Varbarenhorde zu gelten habe.
Diese arabische Bewegung, die sich gerade in der jüngsten Zeit deutlicher ent¬
faltet habe, sei auch die Ursache der fortwährenden Kämpfe in Jemen und
Hadramaut, jener offnen Wunde am Körper des türkischen Reiches. Wir sind
nicht der Ansicht, daß die Dezentralisation der Zentralisation vorzuziehen sei,
sondern glauben, daß ein richtiger Mittelweg zwischen beiden Systemen vorteil¬
hafter ist. Man sollte eine starke Zentralregierung in Konstantinopel schaffen,
daneben aber den einzelnen Provinzen ein möglichst großes Maß von Selbst¬
verwaltung geben.

Interessant ist die Bemerkung Wirths, daß der Parlamentarismus eigentlich
'w der Türkei nur deshalb so. viele Anhänger habe, weil der Osten die
parlamentarischen Einrichtungen dem Westen meidet und nicht selig werden zu
können glaube, ehe er ihn eingeführt habe. Aber auch Wirth sieht im Parla¬
mentarismus nicht ein Allheilmittel für die Besserung der türkischen Zustände.

Sehr eingehend beschäftigt sich der Verfasser mit den einzelnen Nationalitäten.
Von den Griechen meint er, daß sie eine große Zukunft hätten. Es scheint
allerdings auch nicht ausgeschlossen zu sein, daß die Griechen in dem jetzt


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[0077] [Abbildung] Türkei und ^erhielt ührend sich im letzten Jahrzehnt die große Politik fast ausschlie߬ lich mit dem fernen Osten beschäftigte, sind neuerdings wieder aller Augen auf die Verhältnisse im Orient gerichtet. Es kommt deshalb eine Broschüre im richtigen Augenblick, die der bekannte Forschungsreisende und politische Schriftsteller Dr. Wirth über „Türkei und Persien" als Heft 2 seiner „Streiflichter auf die Weltpolitik" veröffentlicht hat. Er hält die Zukunft der Türkei für bedeutend hoffnungs¬ voller, als bor einem Menschenalter angenommen wurde, und meint, sie strahle in hellerm Lichte, als man selbst noch vor wenig Jahren glauben durfte. Die Wolken, die von Osten her drohten, hätten sich verzogen. Die Eifersucht der Möchte hat das übrige getan. In einem gewissen Widerspruch bewegt sich aber Wirth, wenn er einerseits von der „übermäßigen, ungesunden Zentralisation des Reiches" spricht, andrerseits eine Gefahr für die Türkei in dem Erstarken des Nationalismus sieht, der auch in der Semitenwelt sein Haupt erhoben hat und in Arabien, Syrien, Mesopotamien unabhängige Reiche aufrichten will. Wirth meint, der Nationalismus wolle einen Vertreter der edelsten Nasse und der vornehmsten Sprache, des Arabischen, zum Oberherrn aller Gläubige» er¬ heben an Stelle des nordischen Eroberers, der kein rechter Iman sei, vom Samen Mohammeds, der als Vertreter einer Varbarenhorde zu gelten habe. Diese arabische Bewegung, die sich gerade in der jüngsten Zeit deutlicher ent¬ faltet habe, sei auch die Ursache der fortwährenden Kämpfe in Jemen und Hadramaut, jener offnen Wunde am Körper des türkischen Reiches. Wir sind nicht der Ansicht, daß die Dezentralisation der Zentralisation vorzuziehen sei, sondern glauben, daß ein richtiger Mittelweg zwischen beiden Systemen vorteil¬ hafter ist. Man sollte eine starke Zentralregierung in Konstantinopel schaffen, daneben aber den einzelnen Provinzen ein möglichst großes Maß von Selbst¬ verwaltung geben. Interessant ist die Bemerkung Wirths, daß der Parlamentarismus eigentlich 'w der Türkei nur deshalb so. viele Anhänger habe, weil der Osten die parlamentarischen Einrichtungen dem Westen meidet und nicht selig werden zu können glaube, ehe er ihn eingeführt habe. Aber auch Wirth sieht im Parla¬ mentarismus nicht ein Allheilmittel für die Besserung der türkischen Zustände. Sehr eingehend beschäftigt sich der Verfasser mit den einzelnen Nationalitäten. Von den Griechen meint er, daß sie eine große Zukunft hätten. Es scheint allerdings auch nicht ausgeschlossen zu sein, daß die Griechen in dem jetzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/77>, abgerufen am 22.07.2024.