Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Drei Vorträge Harnacks > le Frage, die Jesus in der Nähe von Cäsarea Philippi an seine Drei Vorträge Harnacks > le Frage, die Jesus in der Nähe von Cäsarea Philippi an seine <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0401" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312752"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341889_312350/figures/grenzboten_341889_312350_312752_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Drei Vorträge Harnacks</head><lb/> <p xml:id="ID_1530" next="#ID_1531"> > le Frage, die Jesus in der Nähe von Cäsarea Philippi an seine<lb/> Jünger richtete: Für wen haltet ihr mich? regt die heutigen<lb/> Kulturvölker nicht weniger auf, als sie die Christenheit bewegt<lb/> hat in der Zeit, wo im Streite mit Gnostikern und Arianern<lb/> Idas christologische Dogma formuliert wurde. Völker und Staaten<lb/> entstehen und vergehen, aber der Mensch mit seinem Verlangen nach leib¬<lb/> lichem und Seelenbrot bleibt derselbe. Für die Rechte wie für die Linke ist<lb/> die Frage entschieden. Es gibt noch Millionen naiv gläubiger Christen, die<lb/> weder forschen noch zweifeln. Auf der andern Seite wimmeln Scharen, deren<lb/> Seelenleben in der Sorge für den Leib aufgeht, andre Scharen, die den So¬<lb/> zi allsten Himmel auf Erden erwarten, und ebenso rühmen Intelligenzen, daß ihnen<lb/> Kunst, Wissenschaft oder politische Wirksamkeit die Religion ersetzen. Für alle<lb/> diese ist Christus ein Mensch, nach dem zu fragen nicht die Mühe lohnt, oder<lb/> dessen Anhängerschaft als ein Hindernis gedeihlicher Entwicklung bekämpft<lb/> werden muß. Aber in der Mitte leben Tausende, die religiöse Bedürfnisse<lb/> empfinden, die von der Unentbehrlichkeit der Religion für ein gesundes Volks¬<lb/> leben überzeugt sind, und die der scheinbar unlösliche Widerstreit ängstigt<lb/> zwischen der einzigen Religion, die in Betracht kommen kann, und den Ergeb¬<lb/> nissen der modernen Wissenschaft. Unter den Männern, die solchen Geüngstigten<lb/> annehmbare Lösungen darbieten, steht Adolf Hcirnack vornan. Die Auffassung<lb/> der modernen protestantischen Theologie, deren berühmtester Vertreter er ist,<lb/> darf als bekannt vorausgesetzt werden: auch bei der Entstehung des Christen¬<lb/> tums ist, wie überall und immer in der Welt, alles natürlich und ohne Wunder<lb/> zugegangen. Aber aus der religiös-philosophischen Gärung jener Zeit sind<lb/> unter dem entscheidenden Einflüsse Jesu Ideen kristallisiert und dadurch Werte<lb/> gewonnen worden, die auch der leidenschaftliche Umwerter von Sils Maria<lb/> nicht zu entwerten vermocht hat; und die gewaltige Kraft, die von der Person<lb/> Jesu ausgegangen ist, hat eine Organisation geschaffen, die jene Werte, ob¬<lb/> wohl sie zeitweise verhüllend und verunreinigend, doch in ihrem Wesen un¬<lb/> versehrt von Jahrhundert zu Jahrhundert weitergibt. Was Harnack vor seinen<lb/> Mitarbeitern auszeichnet, das ist der erstaunliche Umfang seines Wissens, der<lb/> geniale Scharfsinn, mit dem er den Geist der alten Zeiten erfaßt und dunkle<lb/> Vorgänge aufhellt, der konservative Sinn, der ihn vor Hyperkritik schützt und<lb/> der kirchlichen Tradition beipflichten läßt, wo immer sie von der Forschung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0401]
[Abbildung]
Drei Vorträge Harnacks
> le Frage, die Jesus in der Nähe von Cäsarea Philippi an seine
Jünger richtete: Für wen haltet ihr mich? regt die heutigen
Kulturvölker nicht weniger auf, als sie die Christenheit bewegt
hat in der Zeit, wo im Streite mit Gnostikern und Arianern
Idas christologische Dogma formuliert wurde. Völker und Staaten
entstehen und vergehen, aber der Mensch mit seinem Verlangen nach leib¬
lichem und Seelenbrot bleibt derselbe. Für die Rechte wie für die Linke ist
die Frage entschieden. Es gibt noch Millionen naiv gläubiger Christen, die
weder forschen noch zweifeln. Auf der andern Seite wimmeln Scharen, deren
Seelenleben in der Sorge für den Leib aufgeht, andre Scharen, die den So¬
zi allsten Himmel auf Erden erwarten, und ebenso rühmen Intelligenzen, daß ihnen
Kunst, Wissenschaft oder politische Wirksamkeit die Religion ersetzen. Für alle
diese ist Christus ein Mensch, nach dem zu fragen nicht die Mühe lohnt, oder
dessen Anhängerschaft als ein Hindernis gedeihlicher Entwicklung bekämpft
werden muß. Aber in der Mitte leben Tausende, die religiöse Bedürfnisse
empfinden, die von der Unentbehrlichkeit der Religion für ein gesundes Volks¬
leben überzeugt sind, und die der scheinbar unlösliche Widerstreit ängstigt
zwischen der einzigen Religion, die in Betracht kommen kann, und den Ergeb¬
nissen der modernen Wissenschaft. Unter den Männern, die solchen Geüngstigten
annehmbare Lösungen darbieten, steht Adolf Hcirnack vornan. Die Auffassung
der modernen protestantischen Theologie, deren berühmtester Vertreter er ist,
darf als bekannt vorausgesetzt werden: auch bei der Entstehung des Christen¬
tums ist, wie überall und immer in der Welt, alles natürlich und ohne Wunder
zugegangen. Aber aus der religiös-philosophischen Gärung jener Zeit sind
unter dem entscheidenden Einflüsse Jesu Ideen kristallisiert und dadurch Werte
gewonnen worden, die auch der leidenschaftliche Umwerter von Sils Maria
nicht zu entwerten vermocht hat; und die gewaltige Kraft, die von der Person
Jesu ausgegangen ist, hat eine Organisation geschaffen, die jene Werte, ob¬
wohl sie zeitweise verhüllend und verunreinigend, doch in ihrem Wesen un¬
versehrt von Jahrhundert zu Jahrhundert weitergibt. Was Harnack vor seinen
Mitarbeitern auszeichnet, das ist der erstaunliche Umfang seines Wissens, der
geniale Scharfsinn, mit dem er den Geist der alten Zeiten erfaßt und dunkle
Vorgänge aufhellt, der konservative Sinn, der ihn vor Hyperkritik schützt und
der kirchlichen Tradition beipflichten läßt, wo immer sie von der Forschung
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