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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Verbrecher bei Shakespeare

des aktiven Wahlrechts für die Frauen. Sehen wir zu, welche Werbekraft
diese neuste unter den politischen Parteien zeigen wird. Uns will angesichts
dieser, wie aller Parteien, die lediglich von der Verneinung leben, immer wieder
nur das Bild der Holzwürmer im alten Hausgerüt aufsteigen. Sie lebe^n, sind
geschäftig, ja nähren sich wohl, solange noch Holz da ist, das sie zernagen
können. Wenn der Kampf gegen das Bestehende sein Ziel erreicht hat, wenn
alles Holz zerstört ist, verhungern sie.




Verbrecher bei Shakespeare

Hakespeare ist ein so reicher und so treuer Weltspiegel, daß
man aus ihm den Menschen und die Menschen beinahe so gut
kennen lernt wie aus der lebendigen Wirklichkeit. Man benutzt
denn auch seine Dramen fleißig zu Charakterstudien und Seelen¬
analysen. Jüngst hat der dänische Polizeichef August Gott
sechs Shakespearische Personen ausgewählt, um an ihnen das Wesen ebenso
vieler Kategorien von Verbrechern darzustellen. (Verbrecher bei Shakespeare.
Deutsch von Oswald Gerloff, mit Vorwort von Professor or. F. von Liszt.
Stuttgart, Axel Juncker.) Cassius vertritt die gemeinen, Brutus die edeln
politischen Verbrecher. Cassius haßt zwar Cäsarn "sozusagen politisch", weil
er es unwürdig findet, daß ein Emporkömmling von gebrechlicher Körper¬
konstitution Rom und die Welt beherrsche, "aber hinter diesem Haß liegen
reichliche Elemente gut bürgerlichen Neides". An der Oberfläche machen sich
bei Revolutionen die edeln Motive breit: Unzufriedenheit mit den schlechten
Staatseinrichtungen und Entrüstung über die Ungerechtigkeiten, unter denen
andre leiden. Doch: "Geh den revolutionären Strömungen auf den Grund,
und du wirst hinter all dem wogenden unpersönlichen Haß gegen Institutionen
und Regierung den persönlichen Haß des einzelnen gegen den einzelnen finden.
Das ist der Haß, der das übrige anfache, es dirigiert, es sammelt zu dem
Sturmwind, der zu guter Letzt stark genug ist, Städte zu verwüsten." Den
Brutus, diesen "sanften Idealisten, den das ganze Volk kennt und liebt",
braucht Cassius, weil durch seine Teilnahme die Sache der Verschwörer als
eine gute gerechtfertigt erscheint. Brutus ist ein Doktrinär, der sich nicht von
Gefühlen und Stimmungen, sondern nur von Vernunftgründen und von der
Pflicht leiten und bestimmen lassen will. Eigne Erwägungen haben ihn längst
innerlich auf die Seite der Verschwörer gezogen, aber erst, nachdem diese Er¬
wägungen von außen, aus dem Munde des Cassius, an sein Ohr dringen,
fangen sie an, als Motive zum Handeln zu wirken. Sein Entschluß zur
Teilnahme an der Verschwörung bedeutet einen moralischen Sieg über sich
selbst, über seine dankbare Liebe zu Cäsar. Aber auch dieser edle Schwärmer
täuscht sich noch über sein eignes Herz: sein starkes Gefühl der Pflicht gegen


Verbrecher bei Shakespeare

des aktiven Wahlrechts für die Frauen. Sehen wir zu, welche Werbekraft
diese neuste unter den politischen Parteien zeigen wird. Uns will angesichts
dieser, wie aller Parteien, die lediglich von der Verneinung leben, immer wieder
nur das Bild der Holzwürmer im alten Hausgerüt aufsteigen. Sie lebe^n, sind
geschäftig, ja nähren sich wohl, solange noch Holz da ist, das sie zernagen
können. Wenn der Kampf gegen das Bestehende sein Ziel erreicht hat, wenn
alles Holz zerstört ist, verhungern sie.




Verbrecher bei Shakespeare

Hakespeare ist ein so reicher und so treuer Weltspiegel, daß
man aus ihm den Menschen und die Menschen beinahe so gut
kennen lernt wie aus der lebendigen Wirklichkeit. Man benutzt
denn auch seine Dramen fleißig zu Charakterstudien und Seelen¬
analysen. Jüngst hat der dänische Polizeichef August Gott
sechs Shakespearische Personen ausgewählt, um an ihnen das Wesen ebenso
vieler Kategorien von Verbrechern darzustellen. (Verbrecher bei Shakespeare.
Deutsch von Oswald Gerloff, mit Vorwort von Professor or. F. von Liszt.
Stuttgart, Axel Juncker.) Cassius vertritt die gemeinen, Brutus die edeln
politischen Verbrecher. Cassius haßt zwar Cäsarn „sozusagen politisch", weil
er es unwürdig findet, daß ein Emporkömmling von gebrechlicher Körper¬
konstitution Rom und die Welt beherrsche, „aber hinter diesem Haß liegen
reichliche Elemente gut bürgerlichen Neides". An der Oberfläche machen sich
bei Revolutionen die edeln Motive breit: Unzufriedenheit mit den schlechten
Staatseinrichtungen und Entrüstung über die Ungerechtigkeiten, unter denen
andre leiden. Doch: „Geh den revolutionären Strömungen auf den Grund,
und du wirst hinter all dem wogenden unpersönlichen Haß gegen Institutionen
und Regierung den persönlichen Haß des einzelnen gegen den einzelnen finden.
Das ist der Haß, der das übrige anfache, es dirigiert, es sammelt zu dem
Sturmwind, der zu guter Letzt stark genug ist, Städte zu verwüsten." Den
Brutus, diesen „sanften Idealisten, den das ganze Volk kennt und liebt",
braucht Cassius, weil durch seine Teilnahme die Sache der Verschwörer als
eine gute gerechtfertigt erscheint. Brutus ist ein Doktrinär, der sich nicht von
Gefühlen und Stimmungen, sondern nur von Vernunftgründen und von der
Pflicht leiten und bestimmen lassen will. Eigne Erwägungen haben ihn längst
innerlich auf die Seite der Verschwörer gezogen, aber erst, nachdem diese Er¬
wägungen von außen, aus dem Munde des Cassius, an sein Ohr dringen,
fangen sie an, als Motive zum Handeln zu wirken. Sein Entschluß zur
Teilnahme an der Verschwörung bedeutet einen moralischen Sieg über sich
selbst, über seine dankbare Liebe zu Cäsar. Aber auch dieser edle Schwärmer
täuscht sich noch über sein eignes Herz: sein starkes Gefühl der Pflicht gegen


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[0251] Verbrecher bei Shakespeare des aktiven Wahlrechts für die Frauen. Sehen wir zu, welche Werbekraft diese neuste unter den politischen Parteien zeigen wird. Uns will angesichts dieser, wie aller Parteien, die lediglich von der Verneinung leben, immer wieder nur das Bild der Holzwürmer im alten Hausgerüt aufsteigen. Sie lebe^n, sind geschäftig, ja nähren sich wohl, solange noch Holz da ist, das sie zernagen können. Wenn der Kampf gegen das Bestehende sein Ziel erreicht hat, wenn alles Holz zerstört ist, verhungern sie. Verbrecher bei Shakespeare Hakespeare ist ein so reicher und so treuer Weltspiegel, daß man aus ihm den Menschen und die Menschen beinahe so gut kennen lernt wie aus der lebendigen Wirklichkeit. Man benutzt denn auch seine Dramen fleißig zu Charakterstudien und Seelen¬ analysen. Jüngst hat der dänische Polizeichef August Gott sechs Shakespearische Personen ausgewählt, um an ihnen das Wesen ebenso vieler Kategorien von Verbrechern darzustellen. (Verbrecher bei Shakespeare. Deutsch von Oswald Gerloff, mit Vorwort von Professor or. F. von Liszt. Stuttgart, Axel Juncker.) Cassius vertritt die gemeinen, Brutus die edeln politischen Verbrecher. Cassius haßt zwar Cäsarn „sozusagen politisch", weil er es unwürdig findet, daß ein Emporkömmling von gebrechlicher Körper¬ konstitution Rom und die Welt beherrsche, „aber hinter diesem Haß liegen reichliche Elemente gut bürgerlichen Neides". An der Oberfläche machen sich bei Revolutionen die edeln Motive breit: Unzufriedenheit mit den schlechten Staatseinrichtungen und Entrüstung über die Ungerechtigkeiten, unter denen andre leiden. Doch: „Geh den revolutionären Strömungen auf den Grund, und du wirst hinter all dem wogenden unpersönlichen Haß gegen Institutionen und Regierung den persönlichen Haß des einzelnen gegen den einzelnen finden. Das ist der Haß, der das übrige anfache, es dirigiert, es sammelt zu dem Sturmwind, der zu guter Letzt stark genug ist, Städte zu verwüsten." Den Brutus, diesen „sanften Idealisten, den das ganze Volk kennt und liebt", braucht Cassius, weil durch seine Teilnahme die Sache der Verschwörer als eine gute gerechtfertigt erscheint. Brutus ist ein Doktrinär, der sich nicht von Gefühlen und Stimmungen, sondern nur von Vernunftgründen und von der Pflicht leiten und bestimmen lassen will. Eigne Erwägungen haben ihn längst innerlich auf die Seite der Verschwörer gezogen, aber erst, nachdem diese Er¬ wägungen von außen, aus dem Munde des Cassius, an sein Ohr dringen, fangen sie an, als Motive zum Handeln zu wirken. Sein Entschluß zur Teilnahme an der Verschwörung bedeutet einen moralischen Sieg über sich selbst, über seine dankbare Liebe zu Cäsar. Aber auch dieser edle Schwärmer täuscht sich noch über sein eignes Herz: sein starkes Gefühl der Pflicht gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/251>, abgerufen am 12.12.2024.