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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

Shakespeare spielte gewissermaßen alle Instrumente, Milton hält sich an jenes
eine, seine Orgel. Jener tritt abwechselnd in allen Gewändern auf, dieser
schreitet einher wie in einer Rüstung von leuchtendem Erz. In jenem scheinen-
tausend Seelen zu leben, dieser zeigt und besitzt nur eine Seele, aber es ist
die einzigartige Seele John Miltons.




Neue Romane und Novellen
Heinrich Spiero von

se im Laufe der Jahre habe ich an dieser Stelle die Abwand¬
lungen des literarischen Lebens der letzten Jahrzehnte dargestellt
oder zur Beleuchtung meines kritischen Bemühens mit heran¬
gezogen. Wenn ich auf das blicke, was die deutsche Nomcm-
literatur in der letzten Zeit hervorgebracht hat, so wiederholen sich
als charakterisierende Beiworte der meisten, auch der besten Werke
immer wieder die beiden: Entwicklungsroman und Milienroman. Es gibt kaum
ein namhaftes Buch der Gattung, das aus diesem Rahmen herausträte, das uns
denn doch auch einmal wieder einen Handlungsroman brächte. Auch wo ver¬
sucht wird, das Leben in seiner Mannigfaltigkeit zu schauen und wieder¬
zugeben, etwa in Henrik Pontoppidcms von mir hier warm gelobten "Hans
im Glück" oder in Werken von Ricarda Huch, erscheinen die Menschen immer
mehr getrieben als treibend, immer mehr unter einem Zwange, denn als Be¬
zwinger. Wie sollte auch gerade der Roman eine Ausnahme machen von
dem allgemeinen Stil der Zeit, als deren Schicksalsaufgabe es Professor Karl
Joel in Basel einmal sehr fein bezeichnet hat, zuerst von Hegel loszukommen,
bei dem die Wurzel liegt für den Determinismus, den wir heute in Religion,
Politik, Medizin, Kunst und wo nicht sonst alle Geister beherrschen sehen.
Lessings tapferen "Kein Mensch muß müssen" steht nun schon lange, von Hegel,
Darwin, Marx, Lombroso, von Sozialisten und Nasseforschern, von Monisten,
von Psychologen und Kriminalisten immer neu gewendet die Lehre von dem
unentrinnbaren "Du mußt" gegenüber. "Wo sollen wir landen, wo treiben
Wir hin? Warum jauchzen wir manchmal ins Ungewisse, wir Kleinen, wir
un Ungeheuern Verlassenen?", das ist so, wie es Michael Kramer ausruft,
typische Ausdruck der Zeit, gefunden von dem Dichter, der gerade da ihr
vornehmster Typus wurde, wo es ihm nicht gelang, sie wirklich zu gestalten.
Abhängigkeit, Bestimmtheit in allem Werden und Handeln, das ist das ewige
Thema der Dichtung und auch des Romans, mag es nun die Abhängigkeit
von der Scholle sein, wie auf allen Stufen der Heimatkunst, oder die von
der Familie und ihrem Blut, wie in den vielen Familienromanen, von der
Familie und den Eindrücken der Kindheit, wie in den zahlreichen und zum
Teil so vortrefflichen Entwicklungsromanen. Nach dieser Richtung hin liegt
un Grunde gar keine Kluft zwischen Schriftstellern, die künstlerisch so weit
voneinander sind wie Wilhelm Speck und Thomas Mann, Georg von Omptedä
und Diedrich Speckmann.


Neue Romane und Novellen

Shakespeare spielte gewissermaßen alle Instrumente, Milton hält sich an jenes
eine, seine Orgel. Jener tritt abwechselnd in allen Gewändern auf, dieser
schreitet einher wie in einer Rüstung von leuchtendem Erz. In jenem scheinen-
tausend Seelen zu leben, dieser zeigt und besitzt nur eine Seele, aber es ist
die einzigartige Seele John Miltons.




Neue Romane und Novellen
Heinrich Spiero von

se im Laufe der Jahre habe ich an dieser Stelle die Abwand¬
lungen des literarischen Lebens der letzten Jahrzehnte dargestellt
oder zur Beleuchtung meines kritischen Bemühens mit heran¬
gezogen. Wenn ich auf das blicke, was die deutsche Nomcm-
literatur in der letzten Zeit hervorgebracht hat, so wiederholen sich
als charakterisierende Beiworte der meisten, auch der besten Werke
immer wieder die beiden: Entwicklungsroman und Milienroman. Es gibt kaum
ein namhaftes Buch der Gattung, das aus diesem Rahmen herausträte, das uns
denn doch auch einmal wieder einen Handlungsroman brächte. Auch wo ver¬
sucht wird, das Leben in seiner Mannigfaltigkeit zu schauen und wieder¬
zugeben, etwa in Henrik Pontoppidcms von mir hier warm gelobten „Hans
im Glück" oder in Werken von Ricarda Huch, erscheinen die Menschen immer
mehr getrieben als treibend, immer mehr unter einem Zwange, denn als Be¬
zwinger. Wie sollte auch gerade der Roman eine Ausnahme machen von
dem allgemeinen Stil der Zeit, als deren Schicksalsaufgabe es Professor Karl
Joel in Basel einmal sehr fein bezeichnet hat, zuerst von Hegel loszukommen,
bei dem die Wurzel liegt für den Determinismus, den wir heute in Religion,
Politik, Medizin, Kunst und wo nicht sonst alle Geister beherrschen sehen.
Lessings tapferen „Kein Mensch muß müssen" steht nun schon lange, von Hegel,
Darwin, Marx, Lombroso, von Sozialisten und Nasseforschern, von Monisten,
von Psychologen und Kriminalisten immer neu gewendet die Lehre von dem
unentrinnbaren „Du mußt" gegenüber. „Wo sollen wir landen, wo treiben
Wir hin? Warum jauchzen wir manchmal ins Ungewisse, wir Kleinen, wir
un Ungeheuern Verlassenen?", das ist so, wie es Michael Kramer ausruft,
typische Ausdruck der Zeit, gefunden von dem Dichter, der gerade da ihr
vornehmster Typus wurde, wo es ihm nicht gelang, sie wirklich zu gestalten.
Abhängigkeit, Bestimmtheit in allem Werden und Handeln, das ist das ewige
Thema der Dichtung und auch des Romans, mag es nun die Abhängigkeit
von der Scholle sein, wie auf allen Stufen der Heimatkunst, oder die von
der Familie und ihrem Blut, wie in den vielen Familienromanen, von der
Familie und den Eindrücken der Kindheit, wie in den zahlreichen und zum
Teil so vortrefflichen Entwicklungsromanen. Nach dieser Richtung hin liegt
un Grunde gar keine Kluft zwischen Schriftstellern, die künstlerisch so weit
voneinander sind wie Wilhelm Speck und Thomas Mann, Georg von Omptedä
und Diedrich Speckmann.


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[0547] Neue Romane und Novellen Shakespeare spielte gewissermaßen alle Instrumente, Milton hält sich an jenes eine, seine Orgel. Jener tritt abwechselnd in allen Gewändern auf, dieser schreitet einher wie in einer Rüstung von leuchtendem Erz. In jenem scheinen- tausend Seelen zu leben, dieser zeigt und besitzt nur eine Seele, aber es ist die einzigartige Seele John Miltons. Neue Romane und Novellen Heinrich Spiero von se im Laufe der Jahre habe ich an dieser Stelle die Abwand¬ lungen des literarischen Lebens der letzten Jahrzehnte dargestellt oder zur Beleuchtung meines kritischen Bemühens mit heran¬ gezogen. Wenn ich auf das blicke, was die deutsche Nomcm- literatur in der letzten Zeit hervorgebracht hat, so wiederholen sich als charakterisierende Beiworte der meisten, auch der besten Werke immer wieder die beiden: Entwicklungsroman und Milienroman. Es gibt kaum ein namhaftes Buch der Gattung, das aus diesem Rahmen herausträte, das uns denn doch auch einmal wieder einen Handlungsroman brächte. Auch wo ver¬ sucht wird, das Leben in seiner Mannigfaltigkeit zu schauen und wieder¬ zugeben, etwa in Henrik Pontoppidcms von mir hier warm gelobten „Hans im Glück" oder in Werken von Ricarda Huch, erscheinen die Menschen immer mehr getrieben als treibend, immer mehr unter einem Zwange, denn als Be¬ zwinger. Wie sollte auch gerade der Roman eine Ausnahme machen von dem allgemeinen Stil der Zeit, als deren Schicksalsaufgabe es Professor Karl Joel in Basel einmal sehr fein bezeichnet hat, zuerst von Hegel loszukommen, bei dem die Wurzel liegt für den Determinismus, den wir heute in Religion, Politik, Medizin, Kunst und wo nicht sonst alle Geister beherrschen sehen. Lessings tapferen „Kein Mensch muß müssen" steht nun schon lange, von Hegel, Darwin, Marx, Lombroso, von Sozialisten und Nasseforschern, von Monisten, von Psychologen und Kriminalisten immer neu gewendet die Lehre von dem unentrinnbaren „Du mußt" gegenüber. „Wo sollen wir landen, wo treiben Wir hin? Warum jauchzen wir manchmal ins Ungewisse, wir Kleinen, wir un Ungeheuern Verlassenen?", das ist so, wie es Michael Kramer ausruft, typische Ausdruck der Zeit, gefunden von dem Dichter, der gerade da ihr vornehmster Typus wurde, wo es ihm nicht gelang, sie wirklich zu gestalten. Abhängigkeit, Bestimmtheit in allem Werden und Handeln, das ist das ewige Thema der Dichtung und auch des Romans, mag es nun die Abhängigkeit von der Scholle sein, wie auf allen Stufen der Heimatkunst, oder die von der Familie und ihrem Blut, wie in den vielen Familienromanen, von der Familie und den Eindrücken der Kindheit, wie in den zahlreichen und zum Teil so vortrefflichen Entwicklungsromanen. Nach dieser Richtung hin liegt un Grunde gar keine Kluft zwischen Schriftstellern, die künstlerisch so weit voneinander sind wie Wilhelm Speck und Thomas Mann, Georg von Omptedä und Diedrich Speckmann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/547>, abgerufen am 22.07.2024.