Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten 5- Leipzig Dieses nimmt überhaupt eine ganz eigne Stellung unter den genannten Von diesem Standpunkte der ausgeglichnen Gegensätze aus, in geogra¬ Schon aus gewissen rein äußerlichen Kennzeichen im Straßenleben kann sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten 5- Leipzig Dieses nimmt überhaupt eine ganz eigne Stellung unter den genannten Von diesem Standpunkte der ausgeglichnen Gegensätze aus, in geogra¬ Schon aus gewissen rein äußerlichen Kennzeichen im Straßenleben kann <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0133" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303549"/> <fw type="header" place="top"> sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten</fw><lb/> <div n="2"> <head> 5- Leipzig</head><lb/> <p xml:id="ID_524"> Dieses nimmt überhaupt eine ganz eigne Stellung unter den genannten<lb/> Großstädten ein; es ist ein kompliziertes, schwer zu zergliederndes organisches<lb/> Gebilde, das aber gerade dadurch den kulturhistorischen Beobachter reizen muß.<lb/> Man hat unwillkürlich das Gefühl, als fände man in Leipzig alle die¬<lb/> selben Elemente vereinigt vor, die das Material zu dem Aufbau der übrigen<lb/> geliefert haben, die aber in ihnen mehr oder weniger gesondert oder gar als<lb/> Gegensätze auftreten. Leipzig hat vieles, was an Dresden, vieles, was an<lb/> Hamburg und Berlin, vieles auch, was an München erinnert. Die geographische<lb/> Lage weist ja auch darauf hin: Leipzig liegt — kulturgeographisch gesprochen —<lb/> ebenso in Nord- wie in Süddeutschland, ebenso im mittlern wie im östlichen<lb/> Deutschland; es hat die Einflüsse der alten demokratisch-bürgerlichen Kultur<lb/> Süddeutschlands wie die der feudal-aristokratischen Ostdeutschlands erfahren; der<lb/> Charakter seiner Bevölkerung zeigt die zähere Energie und den praktischem Sinn<lb/> des Norddeutschen in Verbindung mit der größern Weichheit und den verbind¬<lb/> lichem Verkehrsformen des Süddeutschen; seine Sprache ist ein merkwürdiger<lb/> Kompromiß zwischen Nord- und Süddeutsch; und es ist nicht nur eine nüchterne<lb/> Handelsstadt, soudern auch eine Stätte alten Geisteslebens und heiterer, wenn<lb/> auch gedämpfter Daseinsfreude. Es hat ein harmonischer Ausgleich stattgefunden<lb/> zwischen allen den Gegensätzen, die hier aufeinander platzten, und die Macht,<lb/> die diese Gegensätze ausgeglichen und geglättet hat, war das gebildete Bürger¬<lb/> tum. Dieses hat das Volkstum veredelt, das Herrentum vor gefährlicher Ex¬<lb/> klusivität bewahrt und beider Gegensätze in sich selbst überwunden und sich an<lb/> ihnen bereichert.</p><lb/> <p xml:id="ID_525"> Von diesem Standpunkte der ausgeglichnen Gegensätze aus, in geogra¬<lb/> phischer und sozialer Hinsicht, möchten wir das Leipziger Leben in einzelnen,<lb/> an sich unbedeutenden, aber für das Wesen charakteristischen Erscheinungsformen<lb/> zu erfassen suchen.</p><lb/> <p xml:id="ID_526" next="#ID_527"> Schon aus gewissen rein äußerlichen Kennzeichen im Straßenleben kann<lb/> man entnehmen, daß Leipzig stark in die süddeutsche Kultursphäre hineinragt,<lb/> was einem sofort zum Bewußtsein kommt, wenn man z. B. an Berliner Ver¬<lb/> hältnisse gewöhnt ist. Schon an einem Bäckerladen kann man die verschiedensten<lb/> Studien machen; ich sage absichtlich an einem Bäckerladen; denn wie in Süd¬<lb/> deutschland betritt man hier nicht den Laden selbst, sondern einen Vorraum,<lb/> der von dem Verkaufsraum durch eine große Glaswand mit einem Schalter-<lb/> fensterchen darin getrennt ist. durch das die Ware hindurchgereicht wird. Ein<lb/> weiterer Zug: man kauft ein Stück Kuchen, die Verkäuferin schneidet ein großes<lb/> Stück ab, das eigentlich zwei Stücke sind, und man legt 20 Pfennige hin. Da<lb/> bekommt man zu seiner Verwunderung 8 Pfennige zurück. Aha! denkt man,<lb/> hier beginnt also schon die süddeutsche Pfennigrechnung. Und dabei ist hier<lb/> der Kuchen und überhaupt die Backware trotz ihrer Billigkeit besser als etwa</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0133]
sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten
5- Leipzig
Dieses nimmt überhaupt eine ganz eigne Stellung unter den genannten
Großstädten ein; es ist ein kompliziertes, schwer zu zergliederndes organisches
Gebilde, das aber gerade dadurch den kulturhistorischen Beobachter reizen muß.
Man hat unwillkürlich das Gefühl, als fände man in Leipzig alle die¬
selben Elemente vereinigt vor, die das Material zu dem Aufbau der übrigen
geliefert haben, die aber in ihnen mehr oder weniger gesondert oder gar als
Gegensätze auftreten. Leipzig hat vieles, was an Dresden, vieles, was an
Hamburg und Berlin, vieles auch, was an München erinnert. Die geographische
Lage weist ja auch darauf hin: Leipzig liegt — kulturgeographisch gesprochen —
ebenso in Nord- wie in Süddeutschland, ebenso im mittlern wie im östlichen
Deutschland; es hat die Einflüsse der alten demokratisch-bürgerlichen Kultur
Süddeutschlands wie die der feudal-aristokratischen Ostdeutschlands erfahren; der
Charakter seiner Bevölkerung zeigt die zähere Energie und den praktischem Sinn
des Norddeutschen in Verbindung mit der größern Weichheit und den verbind¬
lichem Verkehrsformen des Süddeutschen; seine Sprache ist ein merkwürdiger
Kompromiß zwischen Nord- und Süddeutsch; und es ist nicht nur eine nüchterne
Handelsstadt, soudern auch eine Stätte alten Geisteslebens und heiterer, wenn
auch gedämpfter Daseinsfreude. Es hat ein harmonischer Ausgleich stattgefunden
zwischen allen den Gegensätzen, die hier aufeinander platzten, und die Macht,
die diese Gegensätze ausgeglichen und geglättet hat, war das gebildete Bürger¬
tum. Dieses hat das Volkstum veredelt, das Herrentum vor gefährlicher Ex¬
klusivität bewahrt und beider Gegensätze in sich selbst überwunden und sich an
ihnen bereichert.
Von diesem Standpunkte der ausgeglichnen Gegensätze aus, in geogra¬
phischer und sozialer Hinsicht, möchten wir das Leipziger Leben in einzelnen,
an sich unbedeutenden, aber für das Wesen charakteristischen Erscheinungsformen
zu erfassen suchen.
Schon aus gewissen rein äußerlichen Kennzeichen im Straßenleben kann
man entnehmen, daß Leipzig stark in die süddeutsche Kultursphäre hineinragt,
was einem sofort zum Bewußtsein kommt, wenn man z. B. an Berliner Ver¬
hältnisse gewöhnt ist. Schon an einem Bäckerladen kann man die verschiedensten
Studien machen; ich sage absichtlich an einem Bäckerladen; denn wie in Süd¬
deutschland betritt man hier nicht den Laden selbst, sondern einen Vorraum,
der von dem Verkaufsraum durch eine große Glaswand mit einem Schalter-
fensterchen darin getrennt ist. durch das die Ware hindurchgereicht wird. Ein
weiterer Zug: man kauft ein Stück Kuchen, die Verkäuferin schneidet ein großes
Stück ab, das eigentlich zwei Stücke sind, und man legt 20 Pfennige hin. Da
bekommt man zu seiner Verwunderung 8 Pfennige zurück. Aha! denkt man,
hier beginnt also schon die süddeutsche Pfennigrechnung. Und dabei ist hier
der Kuchen und überhaupt die Backware trotz ihrer Billigkeit besser als etwa
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |