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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

mehr auf der Oberfläche, sie drängen sich dem flüchtigen Beobachter nicht auf,
ja sie verschwinden bis zu einem gewissen Grade unter der langweiligen Gleich¬
förmigkeit des modernen Stadt- und Straßenbildes. Aber sie sind nichtsdesto¬
weniger vorhanden, müssen es sein, sofern unsre Städte keine amerikanischen Luft¬
wurzelgewächse sind, sondern historisch und organisch aus dem Boden hervorge¬
wachsene Größen, und mögen sie anch äußerlich ihrer Vergangenheit immer
mehr untreu werden, das lokale Kolorit immer mehr abstreifen und der grauen
Internationale immer demonstrativer Einlaß gewähren -- das Neue hängt doch
noch durch hundert unsichtbare Fäden mit der Vergangenheit zusammen und
läßt diese in unzähligen vereinzelten Erscheinungsformen sich ans Licht drängen,
wie auf einem umgepflügten Acker oft Pflanzen wieder hervorbrechen, die früher
auf ihm gebaut wurden.

Je reicher nun die sozial- und kulturhistorischen Humusschichten sind, die
sich auf einem alten Stadtboden abgelagert haben, je stärker sie sich durchdrungen
und durchgoren haben, um so größer wird die Ausbeute für den sozial- und
kulturpsychologischen Beobachter sein, auch auf dem harten Granitpflastcr unsrer
historisch so sterilisierten Großstädte. Er braucht auch dazu nicht einmal das
Pflaster aufzureißen, wie es Wohl an heißen Sommertagen zum Entsetzen der
Einwohner geschieht; um den Boden, auf dem sich eine Stadt entwickelt hat,
zu studieren, braucht er nur den Blick, der freilich ein wenig vergleichend ge¬
schult sein muß, als ein prüfendes Senkblei in die Tiefe zu senden, die sich
unter der Oberfläche ausbreitet. Dann wird er bald erkennen, wie sich auch
in der sozialen und kulturmäßigen Struktur unsrer Großstädte Alluvial- und
Tertiärschichten durcheinanderschieben, wie z. B. in Berlin noch immer eine
harte Militär- und Beamtenkruste auf der einen, ein bröckliges Geschiebe agrarisch
zerstampften Volkscharakters auf der andern Seite eine dünne Humuslage alten
Bürgergeistes einzwängt, und wie sich über das Ganze eine kalksäurehaltige,
fressende und zersetzende Schicht Proletariertum gebreitet hat, hie und da ver¬
hüllt von flugsandartigen Anhäufungen versengenden Orientwesens; oder wie in
Hamburg eine zwar dicke und freiliegende, aber etwas unfruchtbar gewordne
Schicht alten, seiner Vergangenheit sich nur zu epigonenhaft bewußten, geistig
erstarrten Bürger- und Patriziertums immer mehr verschüttet wird von den
Geröllmassen einer modernen Industriekultur; oder wie sich in München eine
dünne, geistesaristokratische Kulturschicht direkt aufbaut auf einem dicken Kalk¬
plateau bäuerlich-demokratischen Volkstums ohne Vermittlung einer breitern
bürgerlichen Intelligenz -- das Hosbräuhaus ist darum wirklich ein Symbol
für München, weil es seinen höfischen Ursprung und Titel höchst ungeniert ver¬
einigt mit einem urwüchsig bäurischen Treiben im Innern; oder wie in Dresden
alles Volkstümliche fein säuberlich ausgeschieden, und alles Bürgerliche eine
glatte, aristokratisch-höfische Politur angenommen hat, das es auch im Kampfe
gegen das sich erhebende robuste Proletariertum weniger widerstandsfähig zu
machen scheint als seinen polaren Gegensatz Leipzig.


sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

mehr auf der Oberfläche, sie drängen sich dem flüchtigen Beobachter nicht auf,
ja sie verschwinden bis zu einem gewissen Grade unter der langweiligen Gleich¬
förmigkeit des modernen Stadt- und Straßenbildes. Aber sie sind nichtsdesto¬
weniger vorhanden, müssen es sein, sofern unsre Städte keine amerikanischen Luft¬
wurzelgewächse sind, sondern historisch und organisch aus dem Boden hervorge¬
wachsene Größen, und mögen sie anch äußerlich ihrer Vergangenheit immer
mehr untreu werden, das lokale Kolorit immer mehr abstreifen und der grauen
Internationale immer demonstrativer Einlaß gewähren — das Neue hängt doch
noch durch hundert unsichtbare Fäden mit der Vergangenheit zusammen und
läßt diese in unzähligen vereinzelten Erscheinungsformen sich ans Licht drängen,
wie auf einem umgepflügten Acker oft Pflanzen wieder hervorbrechen, die früher
auf ihm gebaut wurden.

Je reicher nun die sozial- und kulturhistorischen Humusschichten sind, die
sich auf einem alten Stadtboden abgelagert haben, je stärker sie sich durchdrungen
und durchgoren haben, um so größer wird die Ausbeute für den sozial- und
kulturpsychologischen Beobachter sein, auch auf dem harten Granitpflastcr unsrer
historisch so sterilisierten Großstädte. Er braucht auch dazu nicht einmal das
Pflaster aufzureißen, wie es Wohl an heißen Sommertagen zum Entsetzen der
Einwohner geschieht; um den Boden, auf dem sich eine Stadt entwickelt hat,
zu studieren, braucht er nur den Blick, der freilich ein wenig vergleichend ge¬
schult sein muß, als ein prüfendes Senkblei in die Tiefe zu senden, die sich
unter der Oberfläche ausbreitet. Dann wird er bald erkennen, wie sich auch
in der sozialen und kulturmäßigen Struktur unsrer Großstädte Alluvial- und
Tertiärschichten durcheinanderschieben, wie z. B. in Berlin noch immer eine
harte Militär- und Beamtenkruste auf der einen, ein bröckliges Geschiebe agrarisch
zerstampften Volkscharakters auf der andern Seite eine dünne Humuslage alten
Bürgergeistes einzwängt, und wie sich über das Ganze eine kalksäurehaltige,
fressende und zersetzende Schicht Proletariertum gebreitet hat, hie und da ver¬
hüllt von flugsandartigen Anhäufungen versengenden Orientwesens; oder wie in
Hamburg eine zwar dicke und freiliegende, aber etwas unfruchtbar gewordne
Schicht alten, seiner Vergangenheit sich nur zu epigonenhaft bewußten, geistig
erstarrten Bürger- und Patriziertums immer mehr verschüttet wird von den
Geröllmassen einer modernen Industriekultur; oder wie sich in München eine
dünne, geistesaristokratische Kulturschicht direkt aufbaut auf einem dicken Kalk¬
plateau bäuerlich-demokratischen Volkstums ohne Vermittlung einer breitern
bürgerlichen Intelligenz — das Hosbräuhaus ist darum wirklich ein Symbol
für München, weil es seinen höfischen Ursprung und Titel höchst ungeniert ver¬
einigt mit einem urwüchsig bäurischen Treiben im Innern; oder wie in Dresden
alles Volkstümliche fein säuberlich ausgeschieden, und alles Bürgerliche eine
glatte, aristokratisch-höfische Politur angenommen hat, das es auch im Kampfe
gegen das sich erhebende robuste Proletariertum weniger widerstandsfähig zu
machen scheint als seinen polaren Gegensatz Leipzig.


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[0132] sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten mehr auf der Oberfläche, sie drängen sich dem flüchtigen Beobachter nicht auf, ja sie verschwinden bis zu einem gewissen Grade unter der langweiligen Gleich¬ förmigkeit des modernen Stadt- und Straßenbildes. Aber sie sind nichtsdesto¬ weniger vorhanden, müssen es sein, sofern unsre Städte keine amerikanischen Luft¬ wurzelgewächse sind, sondern historisch und organisch aus dem Boden hervorge¬ wachsene Größen, und mögen sie anch äußerlich ihrer Vergangenheit immer mehr untreu werden, das lokale Kolorit immer mehr abstreifen und der grauen Internationale immer demonstrativer Einlaß gewähren — das Neue hängt doch noch durch hundert unsichtbare Fäden mit der Vergangenheit zusammen und läßt diese in unzähligen vereinzelten Erscheinungsformen sich ans Licht drängen, wie auf einem umgepflügten Acker oft Pflanzen wieder hervorbrechen, die früher auf ihm gebaut wurden. Je reicher nun die sozial- und kulturhistorischen Humusschichten sind, die sich auf einem alten Stadtboden abgelagert haben, je stärker sie sich durchdrungen und durchgoren haben, um so größer wird die Ausbeute für den sozial- und kulturpsychologischen Beobachter sein, auch auf dem harten Granitpflastcr unsrer historisch so sterilisierten Großstädte. Er braucht auch dazu nicht einmal das Pflaster aufzureißen, wie es Wohl an heißen Sommertagen zum Entsetzen der Einwohner geschieht; um den Boden, auf dem sich eine Stadt entwickelt hat, zu studieren, braucht er nur den Blick, der freilich ein wenig vergleichend ge¬ schult sein muß, als ein prüfendes Senkblei in die Tiefe zu senden, die sich unter der Oberfläche ausbreitet. Dann wird er bald erkennen, wie sich auch in der sozialen und kulturmäßigen Struktur unsrer Großstädte Alluvial- und Tertiärschichten durcheinanderschieben, wie z. B. in Berlin noch immer eine harte Militär- und Beamtenkruste auf der einen, ein bröckliges Geschiebe agrarisch zerstampften Volkscharakters auf der andern Seite eine dünne Humuslage alten Bürgergeistes einzwängt, und wie sich über das Ganze eine kalksäurehaltige, fressende und zersetzende Schicht Proletariertum gebreitet hat, hie und da ver¬ hüllt von flugsandartigen Anhäufungen versengenden Orientwesens; oder wie in Hamburg eine zwar dicke und freiliegende, aber etwas unfruchtbar gewordne Schicht alten, seiner Vergangenheit sich nur zu epigonenhaft bewußten, geistig erstarrten Bürger- und Patriziertums immer mehr verschüttet wird von den Geröllmassen einer modernen Industriekultur; oder wie sich in München eine dünne, geistesaristokratische Kulturschicht direkt aufbaut auf einem dicken Kalk¬ plateau bäuerlich-demokratischen Volkstums ohne Vermittlung einer breitern bürgerlichen Intelligenz — das Hosbräuhaus ist darum wirklich ein Symbol für München, weil es seinen höfischen Ursprung und Titel höchst ungeniert ver¬ einigt mit einem urwüchsig bäurischen Treiben im Innern; oder wie in Dresden alles Volkstümliche fein säuberlich ausgeschieden, und alles Bürgerliche eine glatte, aristokratisch-höfische Politur angenommen hat, das es auch im Kampfe gegen das sich erhebende robuste Proletariertum weniger widerstandsfähig zu machen scheint als seinen polaren Gegensatz Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/132>, abgerufen am 26.06.2024.