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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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politische Briefe aus wachsen
Gcriiianiciis von
1

Verehrter Freund!

eider kann ich Ihnen nicht ganz Unrecht geben, wenn Sie in
Ihrem letzten Briefe, für den ich Ihnen herzlichst danke, die
politische Lage in Sachsen als "recht unbefriedigend", ja als
"verworren" bezeichnen. Auch hier empfinden es weite, politisch
denkende Kreise als in hohem Maße bedauerlich, daß eine klare
Anschauung über die Art und das Maß der Umgestaltung unsrer Landesver-
tretung und ein fester Wille zu ihrer Durchführung weder in den Kreisen der
Regierung noch bei den maßgebenden Männern der Kammern vorhanden zu
sein scheint. Auch darin muß ich Ihnen zustimmen, daß man mit dem Gesetzes¬
vorschlag über die veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer die ganze
Frage eigentlich wohl am falschen Ende angefaßt hat. Denn wenn Sie mich
fragen, was man denn gegen die erste Kammer ein begründeten Vorwürfen
vorbringen könnte außer der Behauptung, daß sie die ungleichmäßige Be¬
handlung des Grundbesitzes bei der Vermögenssteuer durchgesetzt hatte, so bin
auch ich nicht in der Lage, Ihnen hierauf eine befriedigende Antwort zu geben.
Nur glaube ich, unterschätzen Sie die politische Bedeutung dieses Fehlers, den
die erste Kammer gemacht hat. So unbedeutend die steuerliche Bevorzugung
des Grundbesitzes dnrch die Bestimmung in Paragraph 19 des Vermügens-
steuergesetzes war, so sehr bot sie allen denen, die behaupteten, daß das
industrielle Sachsen von einer agrarischen Clique regiert werde, erwünschten
Anlaß zur Agitation. Das aber mußten die Führer der Opposition gegen die
Regierungsvorlage in der ersten Kammer erkennen. Sie mußten erwägen, daß
aus einer solchen Bestimmung nur politische Nachteile erwachsen würden, die
namentlich die dringend notwendige Einigkeit der Ordnungsparteien ernstlich
gefährden würde. Die Folgen jener Gesetzesbestimmung zeigten sich im Lande
sehr bald: während sich bisher kaum jemand für die Zusammensetzung der ersten
Kammer interessierte, vielmehr in politischen Kreisen in erster Linie eine Änderung
des Wahlrechts zur zweiten Kammer diskutiert worden war, wurde jetzt überall
als eine besonders dringende politische Notwendigkeit eine Änderung in der
Zusammensetzung der ersten Kammer bezeichnet.




politische Briefe aus wachsen
Gcriiianiciis von
1

Verehrter Freund!

eider kann ich Ihnen nicht ganz Unrecht geben, wenn Sie in
Ihrem letzten Briefe, für den ich Ihnen herzlichst danke, die
politische Lage in Sachsen als „recht unbefriedigend", ja als
„verworren" bezeichnen. Auch hier empfinden es weite, politisch
denkende Kreise als in hohem Maße bedauerlich, daß eine klare
Anschauung über die Art und das Maß der Umgestaltung unsrer Landesver-
tretung und ein fester Wille zu ihrer Durchführung weder in den Kreisen der
Regierung noch bei den maßgebenden Männern der Kammern vorhanden zu
sein scheint. Auch darin muß ich Ihnen zustimmen, daß man mit dem Gesetzes¬
vorschlag über die veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer die ganze
Frage eigentlich wohl am falschen Ende angefaßt hat. Denn wenn Sie mich
fragen, was man denn gegen die erste Kammer ein begründeten Vorwürfen
vorbringen könnte außer der Behauptung, daß sie die ungleichmäßige Be¬
handlung des Grundbesitzes bei der Vermögenssteuer durchgesetzt hatte, so bin
auch ich nicht in der Lage, Ihnen hierauf eine befriedigende Antwort zu geben.
Nur glaube ich, unterschätzen Sie die politische Bedeutung dieses Fehlers, den
die erste Kammer gemacht hat. So unbedeutend die steuerliche Bevorzugung
des Grundbesitzes dnrch die Bestimmung in Paragraph 19 des Vermügens-
steuergesetzes war, so sehr bot sie allen denen, die behaupteten, daß das
industrielle Sachsen von einer agrarischen Clique regiert werde, erwünschten
Anlaß zur Agitation. Das aber mußten die Führer der Opposition gegen die
Regierungsvorlage in der ersten Kammer erkennen. Sie mußten erwägen, daß
aus einer solchen Bestimmung nur politische Nachteile erwachsen würden, die
namentlich die dringend notwendige Einigkeit der Ordnungsparteien ernstlich
gefährden würde. Die Folgen jener Gesetzesbestimmung zeigten sich im Lande
sehr bald: während sich bisher kaum jemand für die Zusammensetzung der ersten
Kammer interessierte, vielmehr in politischen Kreisen in erster Linie eine Änderung
des Wahlrechts zur zweiten Kammer diskutiert worden war, wurde jetzt überall
als eine besonders dringende politische Notwendigkeit eine Änderung in der
Zusammensetzung der ersten Kammer bezeichnet.


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[0085] [Abbildung] politische Briefe aus wachsen Gcriiianiciis von 1 Verehrter Freund! eider kann ich Ihnen nicht ganz Unrecht geben, wenn Sie in Ihrem letzten Briefe, für den ich Ihnen herzlichst danke, die politische Lage in Sachsen als „recht unbefriedigend", ja als „verworren" bezeichnen. Auch hier empfinden es weite, politisch denkende Kreise als in hohem Maße bedauerlich, daß eine klare Anschauung über die Art und das Maß der Umgestaltung unsrer Landesver- tretung und ein fester Wille zu ihrer Durchführung weder in den Kreisen der Regierung noch bei den maßgebenden Männern der Kammern vorhanden zu sein scheint. Auch darin muß ich Ihnen zustimmen, daß man mit dem Gesetzes¬ vorschlag über die veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer die ganze Frage eigentlich wohl am falschen Ende angefaßt hat. Denn wenn Sie mich fragen, was man denn gegen die erste Kammer ein begründeten Vorwürfen vorbringen könnte außer der Behauptung, daß sie die ungleichmäßige Be¬ handlung des Grundbesitzes bei der Vermögenssteuer durchgesetzt hatte, so bin auch ich nicht in der Lage, Ihnen hierauf eine befriedigende Antwort zu geben. Nur glaube ich, unterschätzen Sie die politische Bedeutung dieses Fehlers, den die erste Kammer gemacht hat. So unbedeutend die steuerliche Bevorzugung des Grundbesitzes dnrch die Bestimmung in Paragraph 19 des Vermügens- steuergesetzes war, so sehr bot sie allen denen, die behaupteten, daß das industrielle Sachsen von einer agrarischen Clique regiert werde, erwünschten Anlaß zur Agitation. Das aber mußten die Führer der Opposition gegen die Regierungsvorlage in der ersten Kammer erkennen. Sie mußten erwägen, daß aus einer solchen Bestimmung nur politische Nachteile erwachsen würden, die namentlich die dringend notwendige Einigkeit der Ordnungsparteien ernstlich gefährden würde. Die Folgen jener Gesetzesbestimmung zeigten sich im Lande sehr bald: während sich bisher kaum jemand für die Zusammensetzung der ersten Kammer interessierte, vielmehr in politischen Kreisen in erster Linie eine Änderung des Wahlrechts zur zweiten Kammer diskutiert worden war, wurde jetzt überall als eine besonders dringende politische Notwendigkeit eine Änderung in der Zusammensetzung der ersten Kammer bezeichnet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/85>, abgerufen am 27.06.2024.