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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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politische Briefe aus Sachsen

Auch Ihre andre Frage, warum denn die Staatsregierung nicht ruhig
gewartet habe, bis sie einen Entwurf über die Veränderung des Wahlrechts
zur zweiten Kammer vorlegen konnte und dann mit diesem zugleich eine Vor¬
lage einbrachte über die veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer, ist
nicht so leicht zu beantworten. Ich habe den Eindruck, daß man gefürchtet
hat, bei der Beratung eines neuen Wahlrechts würden sich möglicherweise
politische Komplikationen ergeben, die auf ein gleichzeitig vorliegendes Gesetz
über die veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer einen ungünstigen
Einfluß ausüben könnten, selbstverständlich in der Richtung, daß man vielleicht
in der Veränderung weiter gedrängt werden würde, als man wünschte.
Deshalb wollte man die Veränderung der ersten Kammer vorausnehmen und
fertigmachen, bevor man das große politische Kampffeld der Wahlrechtsänderung
für die zweite Kammer betrat.

In bezug auf das Maß der vorgeschlagnen Veränderungen vermag ich
Ihre Anschauung, verehrter Freund, nicht zu teilen. Wenn Sie einen ganz
neuen Aufbau der ersten Kammer als zeitgemäß und notwendig bezeichnen,
so widerstrebt derartiges meiner ganzen politischen Auffassung. Was hat sich
denn in der ersten Kaminer nicht bewährt? Meines Erachtens nur das allzu
starke Überwiegen des "befestigten Grundbesitzes", wie es gern ausgedrückt
wird, oder wie es die Liberalen und auch wohl die Herren Oberbürgermeister
bezeichnen, der "Agrarier". Deshalb braucht man doch noch lauge keine
grundstürzende Änderungen und ein völlig neues Wahlrecht für die erste
Kammer einzuführen. Nein nein, Ihrem "ständischen Aufbau" in dem Sinne,
daß jeder Stand nach seiner Bedeutung für das wirtschaftliche und politische
Leben eines Volkes in der ersten Kammer vertreten sein müsse, ist bei genauer
Betrachtung ein gut Teil umstürzlerische Auffassung beigemischt. Wer in aller
Welt soll denn nur von ganz neuer Basis aus die "verhältnismäßige Be¬
deutung" jedes Standes abmessen und berechnen? So kann man meines Er¬
achtens, ich bitte mir die Schärfe meines Ausdrucks in diesem Falle nicht
übel zu nehmen, nicht Politik und nicht Volkswirtschaft treiben, wenn mau
zu einem praktischen und ersprießlichen Ergebnis gelangen will. Ja, wenn
man bloß ein Buch über Wahlrecht zu schreiben hätte, da könnte man sich
wohl das schönste und richtigste System aussinnen und mit glänzenden Worten
vertreten. Wenn ich aber mit daran arbeiten soll, das bestehende System
einer Volksvertretung weiter auszugestalten, so gehe ich vor allen Dingen von
dem Bestehenden aus, frage mich: Was ist daran in Wahrheit reformbedürftig
und was nicht, was ist in der geschichtlichen Entwicklung unsers ganzen
Volkslebens begründet und muß, um eine gedeihliche Weiterentwicklung zu
gewährleisten, auch erhalten bleiben? Da komme ich dann zu einem ganz
andern Ergebnis als Sie, sowohl in bezug auf die Zusammensetzung der
ersten Kammer wie in bezug auf das Wahlrecht zur zweiten Kammer. Sobald
ich irgend Zeit finde, will ich versuchen, Ihnen meine Anschauungen im


politische Briefe aus Sachsen

Auch Ihre andre Frage, warum denn die Staatsregierung nicht ruhig
gewartet habe, bis sie einen Entwurf über die Veränderung des Wahlrechts
zur zweiten Kammer vorlegen konnte und dann mit diesem zugleich eine Vor¬
lage einbrachte über die veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer, ist
nicht so leicht zu beantworten. Ich habe den Eindruck, daß man gefürchtet
hat, bei der Beratung eines neuen Wahlrechts würden sich möglicherweise
politische Komplikationen ergeben, die auf ein gleichzeitig vorliegendes Gesetz
über die veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer einen ungünstigen
Einfluß ausüben könnten, selbstverständlich in der Richtung, daß man vielleicht
in der Veränderung weiter gedrängt werden würde, als man wünschte.
Deshalb wollte man die Veränderung der ersten Kammer vorausnehmen und
fertigmachen, bevor man das große politische Kampffeld der Wahlrechtsänderung
für die zweite Kammer betrat.

In bezug auf das Maß der vorgeschlagnen Veränderungen vermag ich
Ihre Anschauung, verehrter Freund, nicht zu teilen. Wenn Sie einen ganz
neuen Aufbau der ersten Kammer als zeitgemäß und notwendig bezeichnen,
so widerstrebt derartiges meiner ganzen politischen Auffassung. Was hat sich
denn in der ersten Kaminer nicht bewährt? Meines Erachtens nur das allzu
starke Überwiegen des „befestigten Grundbesitzes", wie es gern ausgedrückt
wird, oder wie es die Liberalen und auch wohl die Herren Oberbürgermeister
bezeichnen, der „Agrarier". Deshalb braucht man doch noch lauge keine
grundstürzende Änderungen und ein völlig neues Wahlrecht für die erste
Kammer einzuführen. Nein nein, Ihrem „ständischen Aufbau" in dem Sinne,
daß jeder Stand nach seiner Bedeutung für das wirtschaftliche und politische
Leben eines Volkes in der ersten Kammer vertreten sein müsse, ist bei genauer
Betrachtung ein gut Teil umstürzlerische Auffassung beigemischt. Wer in aller
Welt soll denn nur von ganz neuer Basis aus die „verhältnismäßige Be¬
deutung" jedes Standes abmessen und berechnen? So kann man meines Er¬
achtens, ich bitte mir die Schärfe meines Ausdrucks in diesem Falle nicht
übel zu nehmen, nicht Politik und nicht Volkswirtschaft treiben, wenn mau
zu einem praktischen und ersprießlichen Ergebnis gelangen will. Ja, wenn
man bloß ein Buch über Wahlrecht zu schreiben hätte, da könnte man sich
wohl das schönste und richtigste System aussinnen und mit glänzenden Worten
vertreten. Wenn ich aber mit daran arbeiten soll, das bestehende System
einer Volksvertretung weiter auszugestalten, so gehe ich vor allen Dingen von
dem Bestehenden aus, frage mich: Was ist daran in Wahrheit reformbedürftig
und was nicht, was ist in der geschichtlichen Entwicklung unsers ganzen
Volkslebens begründet und muß, um eine gedeihliche Weiterentwicklung zu
gewährleisten, auch erhalten bleiben? Da komme ich dann zu einem ganz
andern Ergebnis als Sie, sowohl in bezug auf die Zusammensetzung der
ersten Kammer wie in bezug auf das Wahlrecht zur zweiten Kammer. Sobald
ich irgend Zeit finde, will ich versuchen, Ihnen meine Anschauungen im


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[0086] politische Briefe aus Sachsen Auch Ihre andre Frage, warum denn die Staatsregierung nicht ruhig gewartet habe, bis sie einen Entwurf über die Veränderung des Wahlrechts zur zweiten Kammer vorlegen konnte und dann mit diesem zugleich eine Vor¬ lage einbrachte über die veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer, ist nicht so leicht zu beantworten. Ich habe den Eindruck, daß man gefürchtet hat, bei der Beratung eines neuen Wahlrechts würden sich möglicherweise politische Komplikationen ergeben, die auf ein gleichzeitig vorliegendes Gesetz über die veränderte Zusammensetzung der ersten Kammer einen ungünstigen Einfluß ausüben könnten, selbstverständlich in der Richtung, daß man vielleicht in der Veränderung weiter gedrängt werden würde, als man wünschte. Deshalb wollte man die Veränderung der ersten Kammer vorausnehmen und fertigmachen, bevor man das große politische Kampffeld der Wahlrechtsänderung für die zweite Kammer betrat. In bezug auf das Maß der vorgeschlagnen Veränderungen vermag ich Ihre Anschauung, verehrter Freund, nicht zu teilen. Wenn Sie einen ganz neuen Aufbau der ersten Kammer als zeitgemäß und notwendig bezeichnen, so widerstrebt derartiges meiner ganzen politischen Auffassung. Was hat sich denn in der ersten Kaminer nicht bewährt? Meines Erachtens nur das allzu starke Überwiegen des „befestigten Grundbesitzes", wie es gern ausgedrückt wird, oder wie es die Liberalen und auch wohl die Herren Oberbürgermeister bezeichnen, der „Agrarier". Deshalb braucht man doch noch lauge keine grundstürzende Änderungen und ein völlig neues Wahlrecht für die erste Kammer einzuführen. Nein nein, Ihrem „ständischen Aufbau" in dem Sinne, daß jeder Stand nach seiner Bedeutung für das wirtschaftliche und politische Leben eines Volkes in der ersten Kammer vertreten sein müsse, ist bei genauer Betrachtung ein gut Teil umstürzlerische Auffassung beigemischt. Wer in aller Welt soll denn nur von ganz neuer Basis aus die „verhältnismäßige Be¬ deutung" jedes Standes abmessen und berechnen? So kann man meines Er¬ achtens, ich bitte mir die Schärfe meines Ausdrucks in diesem Falle nicht übel zu nehmen, nicht Politik und nicht Volkswirtschaft treiben, wenn mau zu einem praktischen und ersprießlichen Ergebnis gelangen will. Ja, wenn man bloß ein Buch über Wahlrecht zu schreiben hätte, da könnte man sich wohl das schönste und richtigste System aussinnen und mit glänzenden Worten vertreten. Wenn ich aber mit daran arbeiten soll, das bestehende System einer Volksvertretung weiter auszugestalten, so gehe ich vor allen Dingen von dem Bestehenden aus, frage mich: Was ist daran in Wahrheit reformbedürftig und was nicht, was ist in der geschichtlichen Entwicklung unsers ganzen Volkslebens begründet und muß, um eine gedeihliche Weiterentwicklung zu gewährleisten, auch erhalten bleiben? Da komme ich dann zu einem ganz andern Ergebnis als Sie, sowohl in bezug auf die Zusammensetzung der ersten Kammer wie in bezug auf das Wahlrecht zur zweiten Kammer. Sobald ich irgend Zeit finde, will ich versuchen, Ihnen meine Anschauungen im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/86>, abgerufen am 30.06.2024.