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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Russische Briefe
George Lleinow von 5
polnisches

anz Rußland schien im Februar von dem Geschrei der Wahlagitation
widerzuhallen. Schien! denn tatsächlich beschäftigte sich höchstens
der zehnte Teil der wahlberechtigten Bevölkerung mit den Wahlen.
Nur die dünne Schicht der politischen Intelligenz, einige wenige
Arbeiter in den großen Städten und die Polizei waren bei der
Sache, alle andern Kreise empfanden in der Wahlzeit höchstens eine unangenehme
Unterbrechung in den Vergnügungen der Wintersaison. "Wie war es doch in
Rußland vordem mit den Heinzelmännchen der Bureaukratie so bequem!" Die
große Masse geht dem Verdienst nach, die obern Zehntausend trainieren sich für
die Anstrengungen der Butterwoche. Aber die Zeitungen und ihre Leute --
die schreien. Man kann nicht sagen, daß dieser Gemütszustand der Gesellschaft
zur Beruhigung der Regierung dienen sollte. So natürlich er ist, so sehr gerade
durch ihn das Vertrauen der gewerblichen Kreise gegen Stolypin und seine
Politik zum Ausdruck kommt, ist er es gerade, der die Stimmung in der Ge¬
sellschaft und die in ihr ruhenden Gefahren verschleiert und darum eine einheit¬
liche Wahltaktik nach europäischem Muster für die Verantwortliche Negierung
unmöglich macht. Das klingt paradox -- muß aber als zutreffend anerkannt
werden, wenn wir berücksichtigen, daß die russische Presse in ihren wichtigsten
Teilen in den Händen von überzeugten Oppositionsmännern ist. Hier liegt der
Regierung schwächster Punkt. Die oppositionellen Parteien haben unter der
Unsicherheit weniger zu leiden, weil sie wenigstens einen Menschen in jedem
Ort haben, auf den sie sich unbedingt verlassen können. Diesen einen Menschen
hat die Regierung nicht. Viele hohe Provinzialbeamte sind ausgesprochne
Gegner der Konstitution -- also auch der gegenwärtigen konstitutionellen Re¬
gierung. Die meisten höhern Beamten der Justiz, der Finanzverwaltung und
der Verkehrseinrichtungen sind im Grunde ihres Herzens liberal, und nur der


Grenzboten I 1907 71


Russische Briefe
George Lleinow von 5
polnisches

anz Rußland schien im Februar von dem Geschrei der Wahlagitation
widerzuhallen. Schien! denn tatsächlich beschäftigte sich höchstens
der zehnte Teil der wahlberechtigten Bevölkerung mit den Wahlen.
Nur die dünne Schicht der politischen Intelligenz, einige wenige
Arbeiter in den großen Städten und die Polizei waren bei der
Sache, alle andern Kreise empfanden in der Wahlzeit höchstens eine unangenehme
Unterbrechung in den Vergnügungen der Wintersaison. „Wie war es doch in
Rußland vordem mit den Heinzelmännchen der Bureaukratie so bequem!" Die
große Masse geht dem Verdienst nach, die obern Zehntausend trainieren sich für
die Anstrengungen der Butterwoche. Aber die Zeitungen und ihre Leute —
die schreien. Man kann nicht sagen, daß dieser Gemütszustand der Gesellschaft
zur Beruhigung der Regierung dienen sollte. So natürlich er ist, so sehr gerade
durch ihn das Vertrauen der gewerblichen Kreise gegen Stolypin und seine
Politik zum Ausdruck kommt, ist er es gerade, der die Stimmung in der Ge¬
sellschaft und die in ihr ruhenden Gefahren verschleiert und darum eine einheit¬
liche Wahltaktik nach europäischem Muster für die Verantwortliche Negierung
unmöglich macht. Das klingt paradox — muß aber als zutreffend anerkannt
werden, wenn wir berücksichtigen, daß die russische Presse in ihren wichtigsten
Teilen in den Händen von überzeugten Oppositionsmännern ist. Hier liegt der
Regierung schwächster Punkt. Die oppositionellen Parteien haben unter der
Unsicherheit weniger zu leiden, weil sie wenigstens einen Menschen in jedem
Ort haben, auf den sie sich unbedingt verlassen können. Diesen einen Menschen
hat die Regierung nicht. Viele hohe Provinzialbeamte sind ausgesprochne
Gegner der Konstitution — also auch der gegenwärtigen konstitutionellen Re¬
gierung. Die meisten höhern Beamten der Justiz, der Finanzverwaltung und
der Verkehrseinrichtungen sind im Grunde ihres Herzens liberal, und nur der


Grenzboten I 1907 71
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[0553] [Abbildung] Russische Briefe George Lleinow von 5 polnisches anz Rußland schien im Februar von dem Geschrei der Wahlagitation widerzuhallen. Schien! denn tatsächlich beschäftigte sich höchstens der zehnte Teil der wahlberechtigten Bevölkerung mit den Wahlen. Nur die dünne Schicht der politischen Intelligenz, einige wenige Arbeiter in den großen Städten und die Polizei waren bei der Sache, alle andern Kreise empfanden in der Wahlzeit höchstens eine unangenehme Unterbrechung in den Vergnügungen der Wintersaison. „Wie war es doch in Rußland vordem mit den Heinzelmännchen der Bureaukratie so bequem!" Die große Masse geht dem Verdienst nach, die obern Zehntausend trainieren sich für die Anstrengungen der Butterwoche. Aber die Zeitungen und ihre Leute — die schreien. Man kann nicht sagen, daß dieser Gemütszustand der Gesellschaft zur Beruhigung der Regierung dienen sollte. So natürlich er ist, so sehr gerade durch ihn das Vertrauen der gewerblichen Kreise gegen Stolypin und seine Politik zum Ausdruck kommt, ist er es gerade, der die Stimmung in der Ge¬ sellschaft und die in ihr ruhenden Gefahren verschleiert und darum eine einheit¬ liche Wahltaktik nach europäischem Muster für die Verantwortliche Negierung unmöglich macht. Das klingt paradox — muß aber als zutreffend anerkannt werden, wenn wir berücksichtigen, daß die russische Presse in ihren wichtigsten Teilen in den Händen von überzeugten Oppositionsmännern ist. Hier liegt der Regierung schwächster Punkt. Die oppositionellen Parteien haben unter der Unsicherheit weniger zu leiden, weil sie wenigstens einen Menschen in jedem Ort haben, auf den sie sich unbedingt verlassen können. Diesen einen Menschen hat die Regierung nicht. Viele hohe Provinzialbeamte sind ausgesprochne Gegner der Konstitution — also auch der gegenwärtigen konstitutionellen Re¬ gierung. Die meisten höhern Beamten der Justiz, der Finanzverwaltung und der Verkehrseinrichtungen sind im Grunde ihres Herzens liberal, und nur der Grenzboten I 1907 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/553>, abgerufen am 27.06.2024.