Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.![]() Zwei Veteranen >er Begriff des "Modernen" in der Literatur ist alt, und ins¬ Mancher, der mir bis hierher gefolgt ist, schüttelt jetzt vielleicht den Kopf ![]() Zwei Veteranen >er Begriff des „Modernen" in der Literatur ist alt, und ins¬ Mancher, der mir bis hierher gefolgt ist, schüttelt jetzt vielleicht den Kopf <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0476" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301730"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341885_301253/figures/grenzboten_341885_301253_301730_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Zwei Veteranen</head><lb/> <p xml:id="ID_1771"> >er Begriff des „Modernen" in der Literatur ist alt, und ins¬<lb/> besondre durch das ganze neunzehnte Jahrhundert kann man ihn<lb/> verfolgen. Die häßliche und undeutsche Bezeichnung „Die<lb/> Moderne" aber ist von ziemlich junger Herkunft, aus Frankreich<lb/> zu uns verpflanzt und durch Mißbrauch noch dümmer geworden.<lb/> Jetzt freilich hört man das Wort nicht mehr so oft. Die Bewegung, die es<lb/> deckte, ist verraucht, nachdem sie weithin gewirkt hat. Sie hat sich gemach ver¬<lb/> breitert und von ihren Gedanken und ihren Farben überallhin abgegeben. Auf<lb/> der Bühne spüren wir ihr Walten etwa in dein Unterschiede zwischen den<lb/> Tendenz- und Familienstücken Paul Lindaus, die in den siebziger und achtziger<lb/> Jahren den Spielplan beherrschten, und denen von Franz Adam Beyerlein, Otto<lb/> Ernst und andern, die in den letzten Jahren aufkamen. Von der Stärke des<lb/> Talents einmal ganz abgesehen, liegt die Verschiedenheit in dem Bemühen der<lb/> Jüngern, ihre Gestalten natürlicher sprechen zu lassen, ihr Kommen und Gehn<lb/> zwangloser zu erklären, genau ebenso wie der Unterhaltungsroman — zu seinem<lb/> Vorteil — wahrhaftiger und echter, auch knapper geworden ist durch den Einfluß<lb/> der Bewegung (Einfluß ganz wörtlich genommen). Wichtiger und ernster waren<lb/> die Folgen im Bereich der eigentlichen Poesie. Unsre Lyrik hat an Form und<lb/> Gehalt gewonnen, das Epos hat in den Schöpfungen Spittelers, der sichs ge¬<lb/> fallen lassen muß, auch als „infiziert" genannt zu werden, Liliencrons und<lb/> Dehmels Meisterhaftes erreicht, und in der Romandichtung haben Schöpfer wie<lb/> Ricarda Huch, Wilhelm Speck, Carl Hauptmann, Wilhelm von Potenz, Thomas<lb/> Mann, Gustav Frenssen Werke von dauerhaftem Wert geschaffen, während uns<lb/> freilich im Drama seit Gerhart Hauptmann kaum eine Hoffnung wieder erblüht<lb/> ist oder doch noch jede wieder vor dem Ausreifen zerstört wurde. Immerhin<lb/> werden Namen wie Herbert Eulenberg, dessen „Halben Helden" ich hervorheben<lb/> möchte, oder Hugo von Hofmannsthal, trotz seinen dekadenten Anlagen, mit<lb/> Nachdruck zu nennen sein; Wedekind, über den ich hier vielleicht noch sprechen<lb/> darf, soll für heute außer Betracht bleiben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1772" next="#ID_1773"> Mancher, der mir bis hierher gefolgt ist, schüttelt jetzt vielleicht den Kopf<lb/> und meint, daß ich gar zu viel durcheinander würfe. Aber ich glaube doch im<lb/> Rechte zu sein, so befremdlich auch zunächst etwa die romantische Ricarda Huch<lb/> und der realistische Wilhelm von Potenz nebeneinander wirken. Man darf<lb/> nicht vergessen, daß die naturalistische Bewegung, mit der dieser ganze jüngste<lb/> Abschnitt unsrer Literaturgeschichte begann, eben nur ein Teil, ein Anfang war.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0476]
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Zwei Veteranen
>er Begriff des „Modernen" in der Literatur ist alt, und ins¬
besondre durch das ganze neunzehnte Jahrhundert kann man ihn
verfolgen. Die häßliche und undeutsche Bezeichnung „Die
Moderne" aber ist von ziemlich junger Herkunft, aus Frankreich
zu uns verpflanzt und durch Mißbrauch noch dümmer geworden.
Jetzt freilich hört man das Wort nicht mehr so oft. Die Bewegung, die es
deckte, ist verraucht, nachdem sie weithin gewirkt hat. Sie hat sich gemach ver¬
breitert und von ihren Gedanken und ihren Farben überallhin abgegeben. Auf
der Bühne spüren wir ihr Walten etwa in dein Unterschiede zwischen den
Tendenz- und Familienstücken Paul Lindaus, die in den siebziger und achtziger
Jahren den Spielplan beherrschten, und denen von Franz Adam Beyerlein, Otto
Ernst und andern, die in den letzten Jahren aufkamen. Von der Stärke des
Talents einmal ganz abgesehen, liegt die Verschiedenheit in dem Bemühen der
Jüngern, ihre Gestalten natürlicher sprechen zu lassen, ihr Kommen und Gehn
zwangloser zu erklären, genau ebenso wie der Unterhaltungsroman — zu seinem
Vorteil — wahrhaftiger und echter, auch knapper geworden ist durch den Einfluß
der Bewegung (Einfluß ganz wörtlich genommen). Wichtiger und ernster waren
die Folgen im Bereich der eigentlichen Poesie. Unsre Lyrik hat an Form und
Gehalt gewonnen, das Epos hat in den Schöpfungen Spittelers, der sichs ge¬
fallen lassen muß, auch als „infiziert" genannt zu werden, Liliencrons und
Dehmels Meisterhaftes erreicht, und in der Romandichtung haben Schöpfer wie
Ricarda Huch, Wilhelm Speck, Carl Hauptmann, Wilhelm von Potenz, Thomas
Mann, Gustav Frenssen Werke von dauerhaftem Wert geschaffen, während uns
freilich im Drama seit Gerhart Hauptmann kaum eine Hoffnung wieder erblüht
ist oder doch noch jede wieder vor dem Ausreifen zerstört wurde. Immerhin
werden Namen wie Herbert Eulenberg, dessen „Halben Helden" ich hervorheben
möchte, oder Hugo von Hofmannsthal, trotz seinen dekadenten Anlagen, mit
Nachdruck zu nennen sein; Wedekind, über den ich hier vielleicht noch sprechen
darf, soll für heute außer Betracht bleiben.
Mancher, der mir bis hierher gefolgt ist, schüttelt jetzt vielleicht den Kopf
und meint, daß ich gar zu viel durcheinander würfe. Aber ich glaube doch im
Rechte zu sein, so befremdlich auch zunächst etwa die romantische Ricarda Huch
und der realistische Wilhelm von Potenz nebeneinander wirken. Man darf
nicht vergessen, daß die naturalistische Bewegung, mit der dieser ganze jüngste
Abschnitt unsrer Literaturgeschichte begann, eben nur ein Teil, ein Anfang war.
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