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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Der geflügelte Hieger
Georg Stellailns von(Schluß)

inkel Franz kam, noch ehe man in Lunzenan mit dem ersten Frühstück
> fertig war, in Gesellschaft von Rosas Bruder mit einem sehr sorgen¬
vollen Gesicht an. Beide waren keineswegs erstaunt, daß Herzberg
Lnnzenau so plötzlich verlassen hatte, denn sie wußten mehr, als der
scharfsinnige Jäger je hätte vermuten können. Sie waren, als sie
I am gestrigen Abend im Geschwindschritt heimgekehrt waren, um Herz¬
berg womöglich noch unterwegs einzuholen, "drüben" gerade zur rechten Zeit an¬
gekommen, um unbemerkt von der Gartentür aus dem herzzerreißenden Abschiede
beizuwohnen, den die beiden Liebenden voneinander "für ewig" genommen hatten.

Ein Haufen Tänzerinnen in ein und derselben Familie wäre vielleicht, da der
mit ihrem Unterhalt verbundne Aufwand groß zu sein Pflegt, von Übel, aber eine
ab und zu hat ihr Gutes. Den sechsten Sinn, den Onkel Franz hatte, und der
ihm anzeigte, wenn irgendwo Liebe im Spiele war, verdankte er zwar nicht den
kunstfertigen Beinen, wohl aber der sonstigen Erfahrenheit seiner schönen Freundin.
Wo es berechtigte, beglückende Liebe ohne Hindernisse gab, wie dies zum Beispiel
zwischen dem Pferdeknecht und seiner Johanna der Fall war, war er der erste,
der in diskretester Weise die Augen schloß, um die Mysterien des Gottes nicht zu
entweihen oder zu stören. Wo sich aber etwas anzubahnen schien, das den Keim
des Todes in sich trug, weil man im Begriff stand, sich mit den Gesetzen und dem
Herkommen der bürgerlichen Gesellschaft in Zwiespalt zu bringen, dn hielt er es
für seine Pflicht, einzuschreiten, und schritt auch in der Regel erfolgreich, wenn
auch mit der ihm dem Nächsten gegenüber eignen zarten Schonung ein. Hätte
Onkel Bernhard der Trennung der beiden Liebenden aus dem Hinterhalte beige¬
wohnt, so würde er zwar mit der Zusammenkunft an sich nicht einverstanden ge¬
wesen sein, da er überall etwas auszusetzen haben mußte, aber er würde es übrigens
ganz in der Ordnung gefunden haben, daß Rosa, "der eine so gute Partie, wie
Ernst es war, unverdientermaßen ins Netz geflogen war", den Liebesunsinn in die
Rumpelkammer geworfen und sich, wie ers nannte, ans "Solide" gehalten hätte.
Nicht so Onkel Franz, der sich noch an demselben Abend mit seinem Neffen, dem
netten kleinen Leutnant, aufs freie Feld begeben hatte, seiner Meinung nach den
einzigen Ort, wo man in Leudeck und dessen nächster Umgebung vor lauschenden
Ohren sicher war, um ihm da seine Bedenken auseinanderzusetzen. Man würde
sich, meinte er, an dem Herzen und an der Zukunft seiner Schwester schwer ver¬
sündigen, wenn man ihre Heirat mit Ernst zuließe, die sie mit denselben Gefühlen
über sich ergehn zu lassen bereit sei, mit denen der Bauer in den Turm krieche.
Man müsse vielmehr die Sache Tante Minna je eher je lieber melden, die, davon
sei er überzeugt, Mittel und Wege finden werde, alles ins Gleiche zu bringen.
Tante Minna Hütte ihm also nicht erst zu schreiben gebraucht, er wäre ohnehin


Grenzboten I 1907 3S


Der geflügelte Hieger
Georg Stellailns von(Schluß)

inkel Franz kam, noch ehe man in Lunzenan mit dem ersten Frühstück
> fertig war, in Gesellschaft von Rosas Bruder mit einem sehr sorgen¬
vollen Gesicht an. Beide waren keineswegs erstaunt, daß Herzberg
Lnnzenau so plötzlich verlassen hatte, denn sie wußten mehr, als der
scharfsinnige Jäger je hätte vermuten können. Sie waren, als sie
I am gestrigen Abend im Geschwindschritt heimgekehrt waren, um Herz¬
berg womöglich noch unterwegs einzuholen, „drüben" gerade zur rechten Zeit an¬
gekommen, um unbemerkt von der Gartentür aus dem herzzerreißenden Abschiede
beizuwohnen, den die beiden Liebenden voneinander „für ewig" genommen hatten.

Ein Haufen Tänzerinnen in ein und derselben Familie wäre vielleicht, da der
mit ihrem Unterhalt verbundne Aufwand groß zu sein Pflegt, von Übel, aber eine
ab und zu hat ihr Gutes. Den sechsten Sinn, den Onkel Franz hatte, und der
ihm anzeigte, wenn irgendwo Liebe im Spiele war, verdankte er zwar nicht den
kunstfertigen Beinen, wohl aber der sonstigen Erfahrenheit seiner schönen Freundin.
Wo es berechtigte, beglückende Liebe ohne Hindernisse gab, wie dies zum Beispiel
zwischen dem Pferdeknecht und seiner Johanna der Fall war, war er der erste,
der in diskretester Weise die Augen schloß, um die Mysterien des Gottes nicht zu
entweihen oder zu stören. Wo sich aber etwas anzubahnen schien, das den Keim
des Todes in sich trug, weil man im Begriff stand, sich mit den Gesetzen und dem
Herkommen der bürgerlichen Gesellschaft in Zwiespalt zu bringen, dn hielt er es
für seine Pflicht, einzuschreiten, und schritt auch in der Regel erfolgreich, wenn
auch mit der ihm dem Nächsten gegenüber eignen zarten Schonung ein. Hätte
Onkel Bernhard der Trennung der beiden Liebenden aus dem Hinterhalte beige¬
wohnt, so würde er zwar mit der Zusammenkunft an sich nicht einverstanden ge¬
wesen sein, da er überall etwas auszusetzen haben mußte, aber er würde es übrigens
ganz in der Ordnung gefunden haben, daß Rosa, „der eine so gute Partie, wie
Ernst es war, unverdientermaßen ins Netz geflogen war", den Liebesunsinn in die
Rumpelkammer geworfen und sich, wie ers nannte, ans „Solide" gehalten hätte.
Nicht so Onkel Franz, der sich noch an demselben Abend mit seinem Neffen, dem
netten kleinen Leutnant, aufs freie Feld begeben hatte, seiner Meinung nach den
einzigen Ort, wo man in Leudeck und dessen nächster Umgebung vor lauschenden
Ohren sicher war, um ihm da seine Bedenken auseinanderzusetzen. Man würde
sich, meinte er, an dem Herzen und an der Zukunft seiner Schwester schwer ver¬
sündigen, wenn man ihre Heirat mit Ernst zuließe, die sie mit denselben Gefühlen
über sich ergehn zu lassen bereit sei, mit denen der Bauer in den Turm krieche.
Man müsse vielmehr die Sache Tante Minna je eher je lieber melden, die, davon
sei er überzeugt, Mittel und Wege finden werde, alles ins Gleiche zu bringen.
Tante Minna Hütte ihm also nicht erst zu schreiben gebraucht, er wäre ohnehin


Grenzboten I 1907 3S
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[0273] [Abbildung] Der geflügelte Hieger Georg Stellailns von(Schluß) inkel Franz kam, noch ehe man in Lunzenan mit dem ersten Frühstück > fertig war, in Gesellschaft von Rosas Bruder mit einem sehr sorgen¬ vollen Gesicht an. Beide waren keineswegs erstaunt, daß Herzberg Lnnzenau so plötzlich verlassen hatte, denn sie wußten mehr, als der scharfsinnige Jäger je hätte vermuten können. Sie waren, als sie I am gestrigen Abend im Geschwindschritt heimgekehrt waren, um Herz¬ berg womöglich noch unterwegs einzuholen, „drüben" gerade zur rechten Zeit an¬ gekommen, um unbemerkt von der Gartentür aus dem herzzerreißenden Abschiede beizuwohnen, den die beiden Liebenden voneinander „für ewig" genommen hatten. Ein Haufen Tänzerinnen in ein und derselben Familie wäre vielleicht, da der mit ihrem Unterhalt verbundne Aufwand groß zu sein Pflegt, von Übel, aber eine ab und zu hat ihr Gutes. Den sechsten Sinn, den Onkel Franz hatte, und der ihm anzeigte, wenn irgendwo Liebe im Spiele war, verdankte er zwar nicht den kunstfertigen Beinen, wohl aber der sonstigen Erfahrenheit seiner schönen Freundin. Wo es berechtigte, beglückende Liebe ohne Hindernisse gab, wie dies zum Beispiel zwischen dem Pferdeknecht und seiner Johanna der Fall war, war er der erste, der in diskretester Weise die Augen schloß, um die Mysterien des Gottes nicht zu entweihen oder zu stören. Wo sich aber etwas anzubahnen schien, das den Keim des Todes in sich trug, weil man im Begriff stand, sich mit den Gesetzen und dem Herkommen der bürgerlichen Gesellschaft in Zwiespalt zu bringen, dn hielt er es für seine Pflicht, einzuschreiten, und schritt auch in der Regel erfolgreich, wenn auch mit der ihm dem Nächsten gegenüber eignen zarten Schonung ein. Hätte Onkel Bernhard der Trennung der beiden Liebenden aus dem Hinterhalte beige¬ wohnt, so würde er zwar mit der Zusammenkunft an sich nicht einverstanden ge¬ wesen sein, da er überall etwas auszusetzen haben mußte, aber er würde es übrigens ganz in der Ordnung gefunden haben, daß Rosa, „der eine so gute Partie, wie Ernst es war, unverdientermaßen ins Netz geflogen war", den Liebesunsinn in die Rumpelkammer geworfen und sich, wie ers nannte, ans „Solide" gehalten hätte. Nicht so Onkel Franz, der sich noch an demselben Abend mit seinem Neffen, dem netten kleinen Leutnant, aufs freie Feld begeben hatte, seiner Meinung nach den einzigen Ort, wo man in Leudeck und dessen nächster Umgebung vor lauschenden Ohren sicher war, um ihm da seine Bedenken auseinanderzusetzen. Man würde sich, meinte er, an dem Herzen und an der Zukunft seiner Schwester schwer ver¬ sündigen, wenn man ihre Heirat mit Ernst zuließe, die sie mit denselben Gefühlen über sich ergehn zu lassen bereit sei, mit denen der Bauer in den Turm krieche. Man müsse vielmehr die Sache Tante Minna je eher je lieber melden, die, davon sei er überzeugt, Mittel und Wege finden werde, alles ins Gleiche zu bringen. Tante Minna Hütte ihm also nicht erst zu schreiben gebraucht, er wäre ohnehin Grenzboten I 1907 3S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/273>, abgerufen am 27.06.2024.