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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

abgesehen -- um das Los der Arbeiter nicht kümmern, und daß das soziale Em¬
pfinden, das die Unruhen in den impulsiver Magyarenherzen geweckt hatten, rasch
wieder verflogen ist. Eine durchgreifende Reform würde, auch nach Mailath, nicht
nur die hier angedeuteten Anfänge, zu denen auch Volksbibliotheken, landwirtschaft¬
liche Schulen und Vereine gehören, fortführen müssen, sondern auch für innere
Kolonisation, Begründung von Industrie und Kleingewerbe und Umgestaltung des
landwirtschaftlichen Betriebs, namentlich für die Ausdehnung des Anbaus von Hack¬
früchten und Handelsgewächsen und der Milchwirtschaft, zu sorgen haben.


Ringsum Napoleon.

Unter diesem etwas seltsam klingenden Titel hat der
berühmte norwegische Novellist Alexander L. Kielland kürzlich ein Buch veröffent¬
licht, das soeben auch in einer vortrefflichen, leicht lesbaren deutschen Übersetzung
von Friedrich Leskien und Marie Leskten-Lie erschienen ist (bei Georg Merseburger
in Leipzig. Zwei Bände, geheftet 6,50 Mark, gebunden 8 Mark, in einen Band
gebunden 7 Mark). Wer das Werk mit knappen dürren Worten charakterisieren
wollte, dürfte in Verlegenheit kommen. Es ist keine streng historische Darstellung,
keine eigentliche Biographie, keine Anekdotensammlung, kein Roman, aber doch von
alledem etwas -- ein historisches Gruppenbild mit einer überragenden Gestalt im
Mittelpunkt und gesehen mit dem Auge und dem Temperament eines Künstlers.
Wie es Maler und Bildhauer gibt, die die äußere Erscheinung einer der Ver¬
gangenheit angehörenden Persönlichkett auf Grund von mehr oder minder ähnlichen
zeitgenössischen Bildnissen, von schriftlichen Überlieferungen und von Messungen an
dem der Ruhe des Grabes entrissenen Schädel zu rekonstruieren versuchen und
einzelne kleine Züge aus freier Phantasie oder nach analogen Beobachtungen er¬
gänzen, so hat Kielland mit der Feder ein Porträt Napoleons entworfen, für das
er sich jede einzelne Linie und Farbe aus der überreichen Napoleonliteratur, die
bekanntlich eine stattliche Bibliothek ausmacht, zusammengesucht und mit der Schöpfer¬
kraft des echten Dichters zu einem neuen Bilde von großartiger Auffassung ver¬
schmolzen hat. Es gewährt einen eigentümlichen Reiz, sich in dieses strenge, kalte Bild
zu vertiefen und sich bei der Lektüre des Buches an die tausend Einzelheiten, die
man von und über Napoleon gelesen hat, zu erinnern. Wir verfolgen die große
Kurve seines Lebenslaufs, die mit dem italienischen Feldzuge des jungen Revolutions¬
generals beginnt, mit dem Siege bei Jena ihren Höhepunkt erreicht und dann
langsam aber stetig abwärts führt, bis sie auf dem einsamen Felsen im Ozean endet.

Offenbar hatte sich der Verfasser die Aufgabe gestellt, den psychologischen Wechsel¬
wirkungen nachzugehn, die Napoleons Beziehungen zu seinen Zeitgenossen, besonders
zu seiner nächsten Umgebung, den Verwandten, den Heerführern und den Soldaten
so interessant machen. Er wollte ergründen, wie der kleine Mann es fertig gebracht
hat, seinen Willen auf den komplizierten Organismus einer vieltausendköpfigen Armee
zu übertragen, daß sie in seiner Hand wie ein willenloses Werkzeug funktionierte.
Aber er wollte auch deutlich machen, wie dieses Werkzeug anfing selbständig zu
werden, sobald die geistige Kraft und der eiserne Wille seines Benutzers zu er¬
lahmen begannen, und wie der Riesenapparat versagte, als die Generale, deren
hervorstechende Eigenschaften eigentlich nur der rücksichtslose Mut und der blinde
Gehorsam gewesen waren, aufhörten, unbedingt auf das Glück ihres Kaisers zu
vertrauen.

Man sieht, nicht gerade mit Erstaunen, aber mit steigendem Unbehagen, wie
sich alle die Männer, die Napoleon aus dem Nichts emporgehoben und mit Gnaden,
Ehren, Titeln und Reichtümern überschüttet, die er zu Fürsten, Herzögen und
Königen gemacht hatte, und deren Ehrgeiz er immer von neuem anzustacheln wußte,
mit wenig Ausnahmen als niedrige Charaktere, kleinliche Intriganten und skrupel¬
lose Verräter entpuppten, die sofort bereit waren, zu seinen Feinden überzugehn,
als sie merkten, daß das Glück seine Fahnen zu verlassen begann. Seltsam mutet
uns dabei an, daß sie Napoleon, obgleich er die meisten von ihnen schon früh


Maßgebliches und Unmaßgebliches

abgesehen — um das Los der Arbeiter nicht kümmern, und daß das soziale Em¬
pfinden, das die Unruhen in den impulsiver Magyarenherzen geweckt hatten, rasch
wieder verflogen ist. Eine durchgreifende Reform würde, auch nach Mailath, nicht
nur die hier angedeuteten Anfänge, zu denen auch Volksbibliotheken, landwirtschaft¬
liche Schulen und Vereine gehören, fortführen müssen, sondern auch für innere
Kolonisation, Begründung von Industrie und Kleingewerbe und Umgestaltung des
landwirtschaftlichen Betriebs, namentlich für die Ausdehnung des Anbaus von Hack¬
früchten und Handelsgewächsen und der Milchwirtschaft, zu sorgen haben.


Ringsum Napoleon.

Unter diesem etwas seltsam klingenden Titel hat der
berühmte norwegische Novellist Alexander L. Kielland kürzlich ein Buch veröffent¬
licht, das soeben auch in einer vortrefflichen, leicht lesbaren deutschen Übersetzung
von Friedrich Leskien und Marie Leskten-Lie erschienen ist (bei Georg Merseburger
in Leipzig. Zwei Bände, geheftet 6,50 Mark, gebunden 8 Mark, in einen Band
gebunden 7 Mark). Wer das Werk mit knappen dürren Worten charakterisieren
wollte, dürfte in Verlegenheit kommen. Es ist keine streng historische Darstellung,
keine eigentliche Biographie, keine Anekdotensammlung, kein Roman, aber doch von
alledem etwas — ein historisches Gruppenbild mit einer überragenden Gestalt im
Mittelpunkt und gesehen mit dem Auge und dem Temperament eines Künstlers.
Wie es Maler und Bildhauer gibt, die die äußere Erscheinung einer der Ver¬
gangenheit angehörenden Persönlichkett auf Grund von mehr oder minder ähnlichen
zeitgenössischen Bildnissen, von schriftlichen Überlieferungen und von Messungen an
dem der Ruhe des Grabes entrissenen Schädel zu rekonstruieren versuchen und
einzelne kleine Züge aus freier Phantasie oder nach analogen Beobachtungen er¬
gänzen, so hat Kielland mit der Feder ein Porträt Napoleons entworfen, für das
er sich jede einzelne Linie und Farbe aus der überreichen Napoleonliteratur, die
bekanntlich eine stattliche Bibliothek ausmacht, zusammengesucht und mit der Schöpfer¬
kraft des echten Dichters zu einem neuen Bilde von großartiger Auffassung ver¬
schmolzen hat. Es gewährt einen eigentümlichen Reiz, sich in dieses strenge, kalte Bild
zu vertiefen und sich bei der Lektüre des Buches an die tausend Einzelheiten, die
man von und über Napoleon gelesen hat, zu erinnern. Wir verfolgen die große
Kurve seines Lebenslaufs, die mit dem italienischen Feldzuge des jungen Revolutions¬
generals beginnt, mit dem Siege bei Jena ihren Höhepunkt erreicht und dann
langsam aber stetig abwärts führt, bis sie auf dem einsamen Felsen im Ozean endet.

Offenbar hatte sich der Verfasser die Aufgabe gestellt, den psychologischen Wechsel¬
wirkungen nachzugehn, die Napoleons Beziehungen zu seinen Zeitgenossen, besonders
zu seiner nächsten Umgebung, den Verwandten, den Heerführern und den Soldaten
so interessant machen. Er wollte ergründen, wie der kleine Mann es fertig gebracht
hat, seinen Willen auf den komplizierten Organismus einer vieltausendköpfigen Armee
zu übertragen, daß sie in seiner Hand wie ein willenloses Werkzeug funktionierte.
Aber er wollte auch deutlich machen, wie dieses Werkzeug anfing selbständig zu
werden, sobald die geistige Kraft und der eiserne Wille seines Benutzers zu er¬
lahmen begannen, und wie der Riesenapparat versagte, als die Generale, deren
hervorstechende Eigenschaften eigentlich nur der rücksichtslose Mut und der blinde
Gehorsam gewesen waren, aufhörten, unbedingt auf das Glück ihres Kaisers zu
vertrauen.

Man sieht, nicht gerade mit Erstaunen, aber mit steigendem Unbehagen, wie
sich alle die Männer, die Napoleon aus dem Nichts emporgehoben und mit Gnaden,
Ehren, Titeln und Reichtümern überschüttet, die er zu Fürsten, Herzögen und
Königen gemacht hatte, und deren Ehrgeiz er immer von neuem anzustacheln wußte,
mit wenig Ausnahmen als niedrige Charaktere, kleinliche Intriganten und skrupel¬
lose Verräter entpuppten, die sofort bereit waren, zu seinen Feinden überzugehn,
als sie merkten, daß das Glück seine Fahnen zu verlassen begann. Seltsam mutet
uns dabei an, daß sie Napoleon, obgleich er die meisten von ihnen schon früh


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[0738] Maßgebliches und Unmaßgebliches abgesehen — um das Los der Arbeiter nicht kümmern, und daß das soziale Em¬ pfinden, das die Unruhen in den impulsiver Magyarenherzen geweckt hatten, rasch wieder verflogen ist. Eine durchgreifende Reform würde, auch nach Mailath, nicht nur die hier angedeuteten Anfänge, zu denen auch Volksbibliotheken, landwirtschaft¬ liche Schulen und Vereine gehören, fortführen müssen, sondern auch für innere Kolonisation, Begründung von Industrie und Kleingewerbe und Umgestaltung des landwirtschaftlichen Betriebs, namentlich für die Ausdehnung des Anbaus von Hack¬ früchten und Handelsgewächsen und der Milchwirtschaft, zu sorgen haben. Ringsum Napoleon. Unter diesem etwas seltsam klingenden Titel hat der berühmte norwegische Novellist Alexander L. Kielland kürzlich ein Buch veröffent¬ licht, das soeben auch in einer vortrefflichen, leicht lesbaren deutschen Übersetzung von Friedrich Leskien und Marie Leskten-Lie erschienen ist (bei Georg Merseburger in Leipzig. Zwei Bände, geheftet 6,50 Mark, gebunden 8 Mark, in einen Band gebunden 7 Mark). Wer das Werk mit knappen dürren Worten charakterisieren wollte, dürfte in Verlegenheit kommen. Es ist keine streng historische Darstellung, keine eigentliche Biographie, keine Anekdotensammlung, kein Roman, aber doch von alledem etwas — ein historisches Gruppenbild mit einer überragenden Gestalt im Mittelpunkt und gesehen mit dem Auge und dem Temperament eines Künstlers. Wie es Maler und Bildhauer gibt, die die äußere Erscheinung einer der Ver¬ gangenheit angehörenden Persönlichkett auf Grund von mehr oder minder ähnlichen zeitgenössischen Bildnissen, von schriftlichen Überlieferungen und von Messungen an dem der Ruhe des Grabes entrissenen Schädel zu rekonstruieren versuchen und einzelne kleine Züge aus freier Phantasie oder nach analogen Beobachtungen er¬ gänzen, so hat Kielland mit der Feder ein Porträt Napoleons entworfen, für das er sich jede einzelne Linie und Farbe aus der überreichen Napoleonliteratur, die bekanntlich eine stattliche Bibliothek ausmacht, zusammengesucht und mit der Schöpfer¬ kraft des echten Dichters zu einem neuen Bilde von großartiger Auffassung ver¬ schmolzen hat. Es gewährt einen eigentümlichen Reiz, sich in dieses strenge, kalte Bild zu vertiefen und sich bei der Lektüre des Buches an die tausend Einzelheiten, die man von und über Napoleon gelesen hat, zu erinnern. Wir verfolgen die große Kurve seines Lebenslaufs, die mit dem italienischen Feldzuge des jungen Revolutions¬ generals beginnt, mit dem Siege bei Jena ihren Höhepunkt erreicht und dann langsam aber stetig abwärts führt, bis sie auf dem einsamen Felsen im Ozean endet. Offenbar hatte sich der Verfasser die Aufgabe gestellt, den psychologischen Wechsel¬ wirkungen nachzugehn, die Napoleons Beziehungen zu seinen Zeitgenossen, besonders zu seiner nächsten Umgebung, den Verwandten, den Heerführern und den Soldaten so interessant machen. Er wollte ergründen, wie der kleine Mann es fertig gebracht hat, seinen Willen auf den komplizierten Organismus einer vieltausendköpfigen Armee zu übertragen, daß sie in seiner Hand wie ein willenloses Werkzeug funktionierte. Aber er wollte auch deutlich machen, wie dieses Werkzeug anfing selbständig zu werden, sobald die geistige Kraft und der eiserne Wille seines Benutzers zu er¬ lahmen begannen, und wie der Riesenapparat versagte, als die Generale, deren hervorstechende Eigenschaften eigentlich nur der rücksichtslose Mut und der blinde Gehorsam gewesen waren, aufhörten, unbedingt auf das Glück ihres Kaisers zu vertrauen. Man sieht, nicht gerade mit Erstaunen, aber mit steigendem Unbehagen, wie sich alle die Männer, die Napoleon aus dem Nichts emporgehoben und mit Gnaden, Ehren, Titeln und Reichtümern überschüttet, die er zu Fürsten, Herzögen und Königen gemacht hatte, und deren Ehrgeiz er immer von neuem anzustacheln wußte, mit wenig Ausnahmen als niedrige Charaktere, kleinliche Intriganten und skrupel¬ lose Verräter entpuppten, die sofort bereit waren, zu seinen Feinden überzugehn, als sie merkten, daß das Glück seine Fahnen zu verlassen begann. Seltsam mutet uns dabei an, daß sie Napoleon, obgleich er die meisten von ihnen schon früh

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/738>, abgerufen am 26.12.2024.