Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>


Das Oolksbibliothekswesen in Preußen
Kurt Ramlah von

WMasjenige Volk, das bis in die untersten Schichten hinein die tiefste
und vielseitigste Bildung besitzt, wird zugleich das mächtigste und
glücklichste sein unter den Völkern seiner Zeit!

Dieser vor hundert Jahren an das deutsche Volk gerichtete
! Mahnruf Fichtes mußte in der Zeit der Erniedrigung wie der
Erhebung Preußens ungehört verklingen. Vor den Freiheitskriegen war der
Gedanke an "Macht und Glück" im niedergeworfnen Lande geschwunden, nach
den großen Siegen verhinderte die Reorganisation der Armee, der Verwaltung
und der Finanzen ein Erinnern an die Mahnung des Philosophen, und noch
lange Jahrzehnte sollten die Nachwehen der schweren Zeiten ein frisches Vorwärts
auf dem Gebiete der Volksbildung niederhalten. Die Notwendigkeit der eisernen
Rüstung und die einseitige Entwicklung einer bureaukratischen Verwaltung waren
die Pole, zwischen deuen sich das preußische Staatsinteresse im wesentlichen
bewegen mußte, bis die Wiedergeburt des Deutschen Reiches die Bahn freigab
und weitergreifende Aufgaben stellte. Die Größe und die Schnelligkeit der nun
folgenden Entwicklung werden immer ein bewundernswertes Bild für die Nachwelt
bleiben, wenn auch das zufällige Zusammentreffen vieler Faktoren den Boden
besonders günstig vorbereitet hatte. Mit Siebenmeilenstiefeln schritt der Verkehr
über das Land, und mit ihm entstand im wirtschaftlichen Aufschwung die soziale
Frage. Sie rüttelte Herz und Hirn der Führenden wach, und man begann zu
ahnen, welche Rolle die allgemeine Bildung beim Anwachsen der Massen zu
spielen bestimmt war. Ein rapides Steigen der Leistungen im Volksschulwesen
war die Folge. Und doch gab es auch jetzt noch nur wenige, die erkannten,
daß mit dem Abschluß der Volksschule vor dem sich öffnenden Leben ein un¬
reifer Mensch stand, dem die Fachbildung seines Berufs nicht das richtige Bild
vom Wesen der Welt und ihrer Dinge zu geben vermochte. Erst in neuerer
Zeit brach sich diese Erkenntnis Bahn, und die Jahre 1898/99 brachten ein ge¬
wisses Erwachen, sie werden hoffentlich die Anfänge einer wichtigen Entwicklung
bilden: die allgemeine Errichtung großer Volksbibliotheken modernen Stils, das


Grenzboten II 1906 86


Das Oolksbibliothekswesen in Preußen
Kurt Ramlah von

WMasjenige Volk, das bis in die untersten Schichten hinein die tiefste
und vielseitigste Bildung besitzt, wird zugleich das mächtigste und
glücklichste sein unter den Völkern seiner Zeit!

Dieser vor hundert Jahren an das deutsche Volk gerichtete
! Mahnruf Fichtes mußte in der Zeit der Erniedrigung wie der
Erhebung Preußens ungehört verklingen. Vor den Freiheitskriegen war der
Gedanke an „Macht und Glück" im niedergeworfnen Lande geschwunden, nach
den großen Siegen verhinderte die Reorganisation der Armee, der Verwaltung
und der Finanzen ein Erinnern an die Mahnung des Philosophen, und noch
lange Jahrzehnte sollten die Nachwehen der schweren Zeiten ein frisches Vorwärts
auf dem Gebiete der Volksbildung niederhalten. Die Notwendigkeit der eisernen
Rüstung und die einseitige Entwicklung einer bureaukratischen Verwaltung waren
die Pole, zwischen deuen sich das preußische Staatsinteresse im wesentlichen
bewegen mußte, bis die Wiedergeburt des Deutschen Reiches die Bahn freigab
und weitergreifende Aufgaben stellte. Die Größe und die Schnelligkeit der nun
folgenden Entwicklung werden immer ein bewundernswertes Bild für die Nachwelt
bleiben, wenn auch das zufällige Zusammentreffen vieler Faktoren den Boden
besonders günstig vorbereitet hatte. Mit Siebenmeilenstiefeln schritt der Verkehr
über das Land, und mit ihm entstand im wirtschaftlichen Aufschwung die soziale
Frage. Sie rüttelte Herz und Hirn der Führenden wach, und man begann zu
ahnen, welche Rolle die allgemeine Bildung beim Anwachsen der Massen zu
spielen bestimmt war. Ein rapides Steigen der Leistungen im Volksschulwesen
war die Folge. Und doch gab es auch jetzt noch nur wenige, die erkannten,
daß mit dem Abschluß der Volksschule vor dem sich öffnenden Leben ein un¬
reifer Mensch stand, dem die Fachbildung seines Berufs nicht das richtige Bild
vom Wesen der Welt und ihrer Dinge zu geben vermochte. Erst in neuerer
Zeit brach sich diese Erkenntnis Bahn, und die Jahre 1898/99 brachten ein ge¬
wisses Erwachen, sie werden hoffentlich die Anfänge einer wichtigen Entwicklung
bilden: die allgemeine Errichtung großer Volksbibliotheken modernen Stils, das


Grenzboten II 1906 86
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0681" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299722"/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341883_299040/figures/grenzboten_341883_299040_299722_000.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das Oolksbibliothekswesen in Preußen<lb/><note type="byline"> Kurt Ramlah</note> von </head><lb/>
          <p xml:id="ID_3026"> WMasjenige Volk, das bis in die untersten Schichten hinein die tiefste<lb/>
und vielseitigste Bildung besitzt, wird zugleich das mächtigste und<lb/>
glücklichste sein unter den Völkern seiner Zeit!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3027" next="#ID_3028"> Dieser vor hundert Jahren an das deutsche Volk gerichtete<lb/>
! Mahnruf Fichtes mußte in der Zeit der Erniedrigung wie der<lb/>
Erhebung Preußens ungehört verklingen. Vor den Freiheitskriegen war der<lb/>
Gedanke an &#x201E;Macht und Glück" im niedergeworfnen Lande geschwunden, nach<lb/>
den großen Siegen verhinderte die Reorganisation der Armee, der Verwaltung<lb/>
und der Finanzen ein Erinnern an die Mahnung des Philosophen, und noch<lb/>
lange Jahrzehnte sollten die Nachwehen der schweren Zeiten ein frisches Vorwärts<lb/>
auf dem Gebiete der Volksbildung niederhalten. Die Notwendigkeit der eisernen<lb/>
Rüstung und die einseitige Entwicklung einer bureaukratischen Verwaltung waren<lb/>
die Pole, zwischen deuen sich das preußische Staatsinteresse im wesentlichen<lb/>
bewegen mußte, bis die Wiedergeburt des Deutschen Reiches die Bahn freigab<lb/>
und weitergreifende Aufgaben stellte. Die Größe und die Schnelligkeit der nun<lb/>
folgenden Entwicklung werden immer ein bewundernswertes Bild für die Nachwelt<lb/>
bleiben, wenn auch das zufällige Zusammentreffen vieler Faktoren den Boden<lb/>
besonders günstig vorbereitet hatte. Mit Siebenmeilenstiefeln schritt der Verkehr<lb/>
über das Land, und mit ihm entstand im wirtschaftlichen Aufschwung die soziale<lb/>
Frage. Sie rüttelte Herz und Hirn der Führenden wach, und man begann zu<lb/>
ahnen, welche Rolle die allgemeine Bildung beim Anwachsen der Massen zu<lb/>
spielen bestimmt war. Ein rapides Steigen der Leistungen im Volksschulwesen<lb/>
war die Folge. Und doch gab es auch jetzt noch nur wenige, die erkannten,<lb/>
daß mit dem Abschluß der Volksschule vor dem sich öffnenden Leben ein un¬<lb/>
reifer Mensch stand, dem die Fachbildung seines Berufs nicht das richtige Bild<lb/>
vom Wesen der Welt und ihrer Dinge zu geben vermochte. Erst in neuerer<lb/>
Zeit brach sich diese Erkenntnis Bahn, und die Jahre 1898/99 brachten ein ge¬<lb/>
wisses Erwachen, sie werden hoffentlich die Anfänge einer wichtigen Entwicklung<lb/>
bilden: die allgemeine Errichtung großer Volksbibliotheken modernen Stils, das</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1906 86</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0681] [Abbildung] Das Oolksbibliothekswesen in Preußen Kurt Ramlah von WMasjenige Volk, das bis in die untersten Schichten hinein die tiefste und vielseitigste Bildung besitzt, wird zugleich das mächtigste und glücklichste sein unter den Völkern seiner Zeit! Dieser vor hundert Jahren an das deutsche Volk gerichtete ! Mahnruf Fichtes mußte in der Zeit der Erniedrigung wie der Erhebung Preußens ungehört verklingen. Vor den Freiheitskriegen war der Gedanke an „Macht und Glück" im niedergeworfnen Lande geschwunden, nach den großen Siegen verhinderte die Reorganisation der Armee, der Verwaltung und der Finanzen ein Erinnern an die Mahnung des Philosophen, und noch lange Jahrzehnte sollten die Nachwehen der schweren Zeiten ein frisches Vorwärts auf dem Gebiete der Volksbildung niederhalten. Die Notwendigkeit der eisernen Rüstung und die einseitige Entwicklung einer bureaukratischen Verwaltung waren die Pole, zwischen deuen sich das preußische Staatsinteresse im wesentlichen bewegen mußte, bis die Wiedergeburt des Deutschen Reiches die Bahn freigab und weitergreifende Aufgaben stellte. Die Größe und die Schnelligkeit der nun folgenden Entwicklung werden immer ein bewundernswertes Bild für die Nachwelt bleiben, wenn auch das zufällige Zusammentreffen vieler Faktoren den Boden besonders günstig vorbereitet hatte. Mit Siebenmeilenstiefeln schritt der Verkehr über das Land, und mit ihm entstand im wirtschaftlichen Aufschwung die soziale Frage. Sie rüttelte Herz und Hirn der Führenden wach, und man begann zu ahnen, welche Rolle die allgemeine Bildung beim Anwachsen der Massen zu spielen bestimmt war. Ein rapides Steigen der Leistungen im Volksschulwesen war die Folge. Und doch gab es auch jetzt noch nur wenige, die erkannten, daß mit dem Abschluß der Volksschule vor dem sich öffnenden Leben ein un¬ reifer Mensch stand, dem die Fachbildung seines Berufs nicht das richtige Bild vom Wesen der Welt und ihrer Dinge zu geben vermochte. Erst in neuerer Zeit brach sich diese Erkenntnis Bahn, und die Jahre 1898/99 brachten ein ge¬ wisses Erwachen, sie werden hoffentlich die Anfänge einer wichtigen Entwicklung bilden: die allgemeine Errichtung großer Volksbibliotheken modernen Stils, das Grenzboten II 1906 86

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/681
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/681>, abgerufen am 26.12.2024.