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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Nationale Fragen im westlichen Rußland

Die einzelnen bisherigen Kommissionen, deren Geschäftsbereich nicht scharf genug
gegeneinander abgegrenzt war, störten sich häufig in ihren Arbeiten. Die neue
Kommission soll in' allen rein technischen Fragen dem Minister zur Seite stehn
und besteht aus drei Sektionen, von denen sich die erste mit den Hochseeschiffen,
die zweite mit den Fahrzeugen der beweglichen Verteidigung (Torpedo- und
Unterseebooten), die dritte mit dem gesamten Ausrüstuugsmaterial beschäftigt.

Wir haben versucht, in diesen Zeilen ein möglichst erschöpfendes Bild von
den maßgebenden Grundsätzen und den einschlägigen Organisationen zu geben,
mit denen gegenwärtig die wichtigsten militärischen Fragen bei unsern westlichen
Nachbarn geleitet werden. Können wir auch mit manchen dieser Prinzipien und
Einrichtungen nicht übereinstimmen und uns besouders nicht mit den wechselnden
Grundsätzen befreunden, nach denen die jedesmalige Wahl des politischen Kriegs¬
ministers erfolgt, so müssen wir doch anerkennen, daß die neuesten Reformen
der obersten Heeresleitung in Frankreich einen entschiednen Fortschritt bedeuten,
und daß deren Gesamtbild ein Faktor ist, den wir nicht geringschätzig be¬
werten dürfen.




Nationale Fragen im westlichen Rußland
Eberhard Kraus von (Schluß)

as stärkste und in seinem Sonderbewußtsein gefestigtste Volk im
ganzen westlichen Rußland sind unstreitig die Polen, deren Zahl
mit nahe an 8 Millionen eher zu niedrig als zu hoch angenommen
wird. Das Polentum, das erst durch die Teilungen in ge¬
ordnete Verhältnisse gekommen ist, hat unter der Fremdherrschaft,
die ihm die schweren Pflichten der Landesverteidigung abnahm, einen solchen
Kraftüberschuß entfaltet, daß es seit einigen Jahrzehnten nach allen Himmels¬
richtungen vordringen und seine Ausläufer sogar nach dem altrussischen Kiew
hinüberstrecken kann. Diese Expansionskraft danken die Polen ihrem dauernd
"ach der Peripherie abströmenden natürlichen Bevölkerungszuwachs (das Weichsel¬
gebiet ist der bevölkertste Teil Rußlands und auch den meisten preußischen Ost¬
provinzen an Menschenfülle weit überlegen), den ausgezeichneten Vorspanndiensten,
die ihnen schon im kirchlichen Interesse die katholische Geistlichkeit leisten muß,
und endlich den belebenden Einflüssen tatkräftiger und hochgebildeter deutscher
Unternehmer. Niemals wäre es möglich gewesen, das Polentum für nationale
Zwecke so einheitlich zu organisieren, wenn ein großer Teil der Werbung und
der Geldbeschaffung nicht von Geistlichen geleistet würde, die durch keinerlei
häusliche Sorgen von ihrer öffentlichen Wirksamkeit abgelenkt werden. Jetzt,
wo auch die Umladen (wohl über 100000 Seelen, von denen sich schon gegen
30000 wieder dem Katholizismus angeschlossen haben) der ungehemmten Be-


Grenzboten II 1906 73
Nationale Fragen im westlichen Rußland

Die einzelnen bisherigen Kommissionen, deren Geschäftsbereich nicht scharf genug
gegeneinander abgegrenzt war, störten sich häufig in ihren Arbeiten. Die neue
Kommission soll in' allen rein technischen Fragen dem Minister zur Seite stehn
und besteht aus drei Sektionen, von denen sich die erste mit den Hochseeschiffen,
die zweite mit den Fahrzeugen der beweglichen Verteidigung (Torpedo- und
Unterseebooten), die dritte mit dem gesamten Ausrüstuugsmaterial beschäftigt.

Wir haben versucht, in diesen Zeilen ein möglichst erschöpfendes Bild von
den maßgebenden Grundsätzen und den einschlägigen Organisationen zu geben,
mit denen gegenwärtig die wichtigsten militärischen Fragen bei unsern westlichen
Nachbarn geleitet werden. Können wir auch mit manchen dieser Prinzipien und
Einrichtungen nicht übereinstimmen und uns besouders nicht mit den wechselnden
Grundsätzen befreunden, nach denen die jedesmalige Wahl des politischen Kriegs¬
ministers erfolgt, so müssen wir doch anerkennen, daß die neuesten Reformen
der obersten Heeresleitung in Frankreich einen entschiednen Fortschritt bedeuten,
und daß deren Gesamtbild ein Faktor ist, den wir nicht geringschätzig be¬
werten dürfen.




Nationale Fragen im westlichen Rußland
Eberhard Kraus von (Schluß)

as stärkste und in seinem Sonderbewußtsein gefestigtste Volk im
ganzen westlichen Rußland sind unstreitig die Polen, deren Zahl
mit nahe an 8 Millionen eher zu niedrig als zu hoch angenommen
wird. Das Polentum, das erst durch die Teilungen in ge¬
ordnete Verhältnisse gekommen ist, hat unter der Fremdherrschaft,
die ihm die schweren Pflichten der Landesverteidigung abnahm, einen solchen
Kraftüberschuß entfaltet, daß es seit einigen Jahrzehnten nach allen Himmels¬
richtungen vordringen und seine Ausläufer sogar nach dem altrussischen Kiew
hinüberstrecken kann. Diese Expansionskraft danken die Polen ihrem dauernd
»ach der Peripherie abströmenden natürlichen Bevölkerungszuwachs (das Weichsel¬
gebiet ist der bevölkertste Teil Rußlands und auch den meisten preußischen Ost¬
provinzen an Menschenfülle weit überlegen), den ausgezeichneten Vorspanndiensten,
die ihnen schon im kirchlichen Interesse die katholische Geistlichkeit leisten muß,
und endlich den belebenden Einflüssen tatkräftiger und hochgebildeter deutscher
Unternehmer. Niemals wäre es möglich gewesen, das Polentum für nationale
Zwecke so einheitlich zu organisieren, wenn ein großer Teil der Werbung und
der Geldbeschaffung nicht von Geistlichen geleistet würde, die durch keinerlei
häusliche Sorgen von ihrer öffentlichen Wirksamkeit abgelenkt werden. Jetzt,
wo auch die Umladen (wohl über 100000 Seelen, von denen sich schon gegen
30000 wieder dem Katholizismus angeschlossen haben) der ungehemmten Be-


Grenzboten II 1906 73
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[0581] Nationale Fragen im westlichen Rußland Die einzelnen bisherigen Kommissionen, deren Geschäftsbereich nicht scharf genug gegeneinander abgegrenzt war, störten sich häufig in ihren Arbeiten. Die neue Kommission soll in' allen rein technischen Fragen dem Minister zur Seite stehn und besteht aus drei Sektionen, von denen sich die erste mit den Hochseeschiffen, die zweite mit den Fahrzeugen der beweglichen Verteidigung (Torpedo- und Unterseebooten), die dritte mit dem gesamten Ausrüstuugsmaterial beschäftigt. Wir haben versucht, in diesen Zeilen ein möglichst erschöpfendes Bild von den maßgebenden Grundsätzen und den einschlägigen Organisationen zu geben, mit denen gegenwärtig die wichtigsten militärischen Fragen bei unsern westlichen Nachbarn geleitet werden. Können wir auch mit manchen dieser Prinzipien und Einrichtungen nicht übereinstimmen und uns besouders nicht mit den wechselnden Grundsätzen befreunden, nach denen die jedesmalige Wahl des politischen Kriegs¬ ministers erfolgt, so müssen wir doch anerkennen, daß die neuesten Reformen der obersten Heeresleitung in Frankreich einen entschiednen Fortschritt bedeuten, und daß deren Gesamtbild ein Faktor ist, den wir nicht geringschätzig be¬ werten dürfen. Nationale Fragen im westlichen Rußland Eberhard Kraus von (Schluß) as stärkste und in seinem Sonderbewußtsein gefestigtste Volk im ganzen westlichen Rußland sind unstreitig die Polen, deren Zahl mit nahe an 8 Millionen eher zu niedrig als zu hoch angenommen wird. Das Polentum, das erst durch die Teilungen in ge¬ ordnete Verhältnisse gekommen ist, hat unter der Fremdherrschaft, die ihm die schweren Pflichten der Landesverteidigung abnahm, einen solchen Kraftüberschuß entfaltet, daß es seit einigen Jahrzehnten nach allen Himmels¬ richtungen vordringen und seine Ausläufer sogar nach dem altrussischen Kiew hinüberstrecken kann. Diese Expansionskraft danken die Polen ihrem dauernd »ach der Peripherie abströmenden natürlichen Bevölkerungszuwachs (das Weichsel¬ gebiet ist der bevölkertste Teil Rußlands und auch den meisten preußischen Ost¬ provinzen an Menschenfülle weit überlegen), den ausgezeichneten Vorspanndiensten, die ihnen schon im kirchlichen Interesse die katholische Geistlichkeit leisten muß, und endlich den belebenden Einflüssen tatkräftiger und hochgebildeter deutscher Unternehmer. Niemals wäre es möglich gewesen, das Polentum für nationale Zwecke so einheitlich zu organisieren, wenn ein großer Teil der Werbung und der Geldbeschaffung nicht von Geistlichen geleistet würde, die durch keinerlei häusliche Sorgen von ihrer öffentlichen Wirksamkeit abgelenkt werden. Jetzt, wo auch die Umladen (wohl über 100000 Seelen, von denen sich schon gegen 30000 wieder dem Katholizismus angeschlossen haben) der ungehemmten Be- Grenzboten II 1906 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/581>, abgerufen am 26.12.2024.