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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühllnz

und mit ihr über das bevorstehende Vergnügen zu sprechen. Aber in diesen Tagen
dachte Christel nicht an die Handarbeitsstunde, und da ihre Mutter verreist war,
erinnerte sie niemand an ihre Pflicht.

Der Sonntag, an dem sich das große Ereignis verwirklichen sollte, kam schneller,
als Anneli dachte. Sie konnte kaum begreifen, daß sie wirklich in eine Gesellschaft
junger Mädchen gehn sollte, daß sie nicht vorher gestorben war oder wenigstens
ein Bein gebrochen hatte. Denn irgend etwas hätte eigentlich passieren müssen,
weil sie sich so überaus freute, so sehr, daß sie am Sonntagmorgen Tante Fritze
einen Kuß gab -- den ersten in ihrem Leben, den die Tante in einiger Verblüffung,
aber doch ohne Scheltreden hinnahm. Anneli hätte Onkel Willi auch gern geküßt,
aber als sie ihn sah, trug er schon seinen hohen Hut und deu feinen schwarzen
Rock mit dem Ordensbande im Knopfloch, und er fragte sie, ob sie nicht mit in
die Kirche gehn wollte. Da kam über Anneli etwas wie Beschämung, daß sie
nur an sich und nicht an den lieben Gott gedacht hatte, der ihr doch das große
Vergnügen heute Nachmittag verschaffen wollte. Sie warf also die Vorfreude aus
ihrem Herzen hinaus und ging artig neben dem Hofrat in den Gottesdienst. Sie
kam an der Bank Falkos von Falkenberg vorüber, auf der der Ritter mit seiner
abgeschlagnen Nase ausgestreckt lag und in den blauen Himmel sah, gerade als
dächte er: Solchen Himmel habe ich auch ehemals gesehen, als ich noch unter ihm
wandeln durste und lustig war und mich auf etwas freute.

Anneli mußte noch um ihn denken, als sie schon in der Kirche saß und die
Orgel spielen hörte, als die Gemeinde zu singen begann, und als Onkel Willi mit
seiner dünnen Stimme in den Gesang einstimmte. Vom Ritter Falkenberg wanderten
dann ihre Gedanken nach Virneburg, wo die Frau Bäckermeister!" jetzt wohl anch in
der Kirche kniete, und wo die Vögel in der verwilderten Ktrchhofecke sangen, und die
Rosen vielleicht zu blühen begannen, wo ein einsames kleines Krenz stand.

Es war eine schöne Predigt, sagte Onkel Willi, als er später mit seiner Nichte
die Kirche verließ, und Anneli wurde glühendrot. Denn sie hatte kein Wort gehört
und schließlich doch immer wieder an die bevorstehende Gesellschaft gedacht.


5

Die Sonne hatte hente dem Städtchen nur einen kurzen Besuch gemacht. Als
Anneli Nachmittags dem Sudeckscheu Hause zuging, war der Himmel grau und trüb
geworden. Aber sie sah nichts davon. Sie sah nur an der Turmuhr, daß es ein
Viertel vor vier Uhr war, und daß sie also, da sie erst um vier eingeladen war,
noch nicht die Schwelle des Doktorhcmses überschreiten durfte. Tante Fritze hatte
ihr das noch zum Abschied gesagt, zugleich mit dem Zusätze, daß sie bescheiden sein
und nicht soviel Kuchen nehmen sollte.

Anneli dachte nicht an Kuchen. Sie dachte an die große Ehre und Frende,
die nun greifbar in ihre Nähe gerückt waren, und wunderte sich, daß der große
Uhrzeiger anscheinend still zu stehn schien.

Wohin willst du denn? fragte Fred Roland, der unerwartet vor Anneli stand.
Er trug eiuen guten blauen Anzug und seine neue Klassenmütze, denn er war Ostern
versetzt worden, und mit seinem dunkeln Gesicht und den leichtgewellten braunen
Haaren war er so hübsch, daß Anneli einen Augenblick ihre Freude vergaß.

Ich will zu Christel Sudeck, da ist Gesellschaft.

Wo die Kräuzcheugänse sind? Er sprach geringschätzig. Da tust du mir aber leid.

Kränzchengänse? Anneli begriff nicht gleich das Wort, das ihr eine unerhörte
Gottlosigkeit zu enthalten schien, und Fred wiederholte es.

Ja, so nenne ich die dummen Dinger, die sich so haben und sich so viel ein¬
bilden. Immer kichern und lachen sie, wenn sie an einem vorübergehn, und neulich
habe ich einen Brief mit der Post bekommen, der von einer der Gänse geschrieben
worden war.

Was stand darin? fragte Anneli, als Fred eine Pause machte.


Menschenfrühllnz

und mit ihr über das bevorstehende Vergnügen zu sprechen. Aber in diesen Tagen
dachte Christel nicht an die Handarbeitsstunde, und da ihre Mutter verreist war,
erinnerte sie niemand an ihre Pflicht.

Der Sonntag, an dem sich das große Ereignis verwirklichen sollte, kam schneller,
als Anneli dachte. Sie konnte kaum begreifen, daß sie wirklich in eine Gesellschaft
junger Mädchen gehn sollte, daß sie nicht vorher gestorben war oder wenigstens
ein Bein gebrochen hatte. Denn irgend etwas hätte eigentlich passieren müssen,
weil sie sich so überaus freute, so sehr, daß sie am Sonntagmorgen Tante Fritze
einen Kuß gab — den ersten in ihrem Leben, den die Tante in einiger Verblüffung,
aber doch ohne Scheltreden hinnahm. Anneli hätte Onkel Willi auch gern geküßt,
aber als sie ihn sah, trug er schon seinen hohen Hut und deu feinen schwarzen
Rock mit dem Ordensbande im Knopfloch, und er fragte sie, ob sie nicht mit in
die Kirche gehn wollte. Da kam über Anneli etwas wie Beschämung, daß sie
nur an sich und nicht an den lieben Gott gedacht hatte, der ihr doch das große
Vergnügen heute Nachmittag verschaffen wollte. Sie warf also die Vorfreude aus
ihrem Herzen hinaus und ging artig neben dem Hofrat in den Gottesdienst. Sie
kam an der Bank Falkos von Falkenberg vorüber, auf der der Ritter mit seiner
abgeschlagnen Nase ausgestreckt lag und in den blauen Himmel sah, gerade als
dächte er: Solchen Himmel habe ich auch ehemals gesehen, als ich noch unter ihm
wandeln durste und lustig war und mich auf etwas freute.

Anneli mußte noch um ihn denken, als sie schon in der Kirche saß und die
Orgel spielen hörte, als die Gemeinde zu singen begann, und als Onkel Willi mit
seiner dünnen Stimme in den Gesang einstimmte. Vom Ritter Falkenberg wanderten
dann ihre Gedanken nach Virneburg, wo die Frau Bäckermeister!» jetzt wohl anch in
der Kirche kniete, und wo die Vögel in der verwilderten Ktrchhofecke sangen, und die
Rosen vielleicht zu blühen begannen, wo ein einsames kleines Krenz stand.

Es war eine schöne Predigt, sagte Onkel Willi, als er später mit seiner Nichte
die Kirche verließ, und Anneli wurde glühendrot. Denn sie hatte kein Wort gehört
und schließlich doch immer wieder an die bevorstehende Gesellschaft gedacht.


5

Die Sonne hatte hente dem Städtchen nur einen kurzen Besuch gemacht. Als
Anneli Nachmittags dem Sudeckscheu Hause zuging, war der Himmel grau und trüb
geworden. Aber sie sah nichts davon. Sie sah nur an der Turmuhr, daß es ein
Viertel vor vier Uhr war, und daß sie also, da sie erst um vier eingeladen war,
noch nicht die Schwelle des Doktorhcmses überschreiten durfte. Tante Fritze hatte
ihr das noch zum Abschied gesagt, zugleich mit dem Zusätze, daß sie bescheiden sein
und nicht soviel Kuchen nehmen sollte.

Anneli dachte nicht an Kuchen. Sie dachte an die große Ehre und Frende,
die nun greifbar in ihre Nähe gerückt waren, und wunderte sich, daß der große
Uhrzeiger anscheinend still zu stehn schien.

Wohin willst du denn? fragte Fred Roland, der unerwartet vor Anneli stand.
Er trug eiuen guten blauen Anzug und seine neue Klassenmütze, denn er war Ostern
versetzt worden, und mit seinem dunkeln Gesicht und den leichtgewellten braunen
Haaren war er so hübsch, daß Anneli einen Augenblick ihre Freude vergaß.

Ich will zu Christel Sudeck, da ist Gesellschaft.

Wo die Kräuzcheugänse sind? Er sprach geringschätzig. Da tust du mir aber leid.

Kränzchengänse? Anneli begriff nicht gleich das Wort, das ihr eine unerhörte
Gottlosigkeit zu enthalten schien, und Fred wiederholte es.

Ja, so nenne ich die dummen Dinger, die sich so haben und sich so viel ein¬
bilden. Immer kichern und lachen sie, wenn sie an einem vorübergehn, und neulich
habe ich einen Brief mit der Post bekommen, der von einer der Gänse geschrieben
worden war.

Was stand darin? fragte Anneli, als Fred eine Pause machte.


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[0058] Menschenfrühllnz und mit ihr über das bevorstehende Vergnügen zu sprechen. Aber in diesen Tagen dachte Christel nicht an die Handarbeitsstunde, und da ihre Mutter verreist war, erinnerte sie niemand an ihre Pflicht. Der Sonntag, an dem sich das große Ereignis verwirklichen sollte, kam schneller, als Anneli dachte. Sie konnte kaum begreifen, daß sie wirklich in eine Gesellschaft junger Mädchen gehn sollte, daß sie nicht vorher gestorben war oder wenigstens ein Bein gebrochen hatte. Denn irgend etwas hätte eigentlich passieren müssen, weil sie sich so überaus freute, so sehr, daß sie am Sonntagmorgen Tante Fritze einen Kuß gab — den ersten in ihrem Leben, den die Tante in einiger Verblüffung, aber doch ohne Scheltreden hinnahm. Anneli hätte Onkel Willi auch gern geküßt, aber als sie ihn sah, trug er schon seinen hohen Hut und deu feinen schwarzen Rock mit dem Ordensbande im Knopfloch, und er fragte sie, ob sie nicht mit in die Kirche gehn wollte. Da kam über Anneli etwas wie Beschämung, daß sie nur an sich und nicht an den lieben Gott gedacht hatte, der ihr doch das große Vergnügen heute Nachmittag verschaffen wollte. Sie warf also die Vorfreude aus ihrem Herzen hinaus und ging artig neben dem Hofrat in den Gottesdienst. Sie kam an der Bank Falkos von Falkenberg vorüber, auf der der Ritter mit seiner abgeschlagnen Nase ausgestreckt lag und in den blauen Himmel sah, gerade als dächte er: Solchen Himmel habe ich auch ehemals gesehen, als ich noch unter ihm wandeln durste und lustig war und mich auf etwas freute. Anneli mußte noch um ihn denken, als sie schon in der Kirche saß und die Orgel spielen hörte, als die Gemeinde zu singen begann, und als Onkel Willi mit seiner dünnen Stimme in den Gesang einstimmte. Vom Ritter Falkenberg wanderten dann ihre Gedanken nach Virneburg, wo die Frau Bäckermeister!» jetzt wohl anch in der Kirche kniete, und wo die Vögel in der verwilderten Ktrchhofecke sangen, und die Rosen vielleicht zu blühen begannen, wo ein einsames kleines Krenz stand. Es war eine schöne Predigt, sagte Onkel Willi, als er später mit seiner Nichte die Kirche verließ, und Anneli wurde glühendrot. Denn sie hatte kein Wort gehört und schließlich doch immer wieder an die bevorstehende Gesellschaft gedacht. 5 Die Sonne hatte hente dem Städtchen nur einen kurzen Besuch gemacht. Als Anneli Nachmittags dem Sudeckscheu Hause zuging, war der Himmel grau und trüb geworden. Aber sie sah nichts davon. Sie sah nur an der Turmuhr, daß es ein Viertel vor vier Uhr war, und daß sie also, da sie erst um vier eingeladen war, noch nicht die Schwelle des Doktorhcmses überschreiten durfte. Tante Fritze hatte ihr das noch zum Abschied gesagt, zugleich mit dem Zusätze, daß sie bescheiden sein und nicht soviel Kuchen nehmen sollte. Anneli dachte nicht an Kuchen. Sie dachte an die große Ehre und Frende, die nun greifbar in ihre Nähe gerückt waren, und wunderte sich, daß der große Uhrzeiger anscheinend still zu stehn schien. Wohin willst du denn? fragte Fred Roland, der unerwartet vor Anneli stand. Er trug eiuen guten blauen Anzug und seine neue Klassenmütze, denn er war Ostern versetzt worden, und mit seinem dunkeln Gesicht und den leichtgewellten braunen Haaren war er so hübsch, daß Anneli einen Augenblick ihre Freude vergaß. Ich will zu Christel Sudeck, da ist Gesellschaft. Wo die Kräuzcheugänse sind? Er sprach geringschätzig. Da tust du mir aber leid. Kränzchengänse? Anneli begriff nicht gleich das Wort, das ihr eine unerhörte Gottlosigkeit zu enthalten schien, und Fred wiederholte es. Ja, so nenne ich die dummen Dinger, die sich so haben und sich so viel ein¬ bilden. Immer kichern und lachen sie, wenn sie an einem vorübergehn, und neulich habe ich einen Brief mit der Post bekommen, der von einer der Gänse geschrieben worden war. Was stand darin? fragte Anneli, als Fred eine Pause machte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/58>, abgerufen am 26.12.2024.