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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die Deutschen in Österreich und die Wahlrechtssrage
Julius Patzelt i von n
1

nucrhalb weniger Jahre wird in Osterreich zum zweitenmal der
Versuch unternommen, das Wahlrecht für den Neichsrat zu demo¬
kratisieren. Zwar hat sich der bisherige Ministerpräsident Frei¬
herr von Ganthas, der dem Neichsrat einen die Einführung des
allgemeinen, gleichen Wahlrechts behandelnden Gesetzentwurf vor¬
gelegt hatte, genötigt gesehen, zurückzutreten, weil er der Vorlage nicht die
nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament zu sichern vermochte; aber der neue
Ministerpräsident soll, wie es heißt, beauftragt sein, zu vollenden, was sein
Vorgänger nicht durchzuführen vermocht hatte. Die Wahlreform bleibt also in
Österreich auf der Tagesordnung, und man kann nur wünschen, daß diese An¬
gelegenheit in einer Weise erledigt werde, die den Interessen des Staats und
denen des Deutschtums mehr entspricht, als es der Wahlreformplan des Freiherrn
von Ganthas erwarten ließ, ergibt sich doch aus der bisherige,: Entwicklung
der österreichischen Wahlgesetzgebung, welche große nationale Bedeutung neben
der sozialen die Wahlrechtsfrage in diesem Staate hat.

Wie in den meisten andern europäischen Ländern begann der Konstitutio¬
nalismus auch in Österreich mit einem qualifizierten Wahlrecht. Ursprünglich
sollten die aus Klasseuwahlen hervorgegangnen Landtage die Abgeordneten in
den Neichsrat entsenden, dessen Abgeordnetenhaus also gewissermaßen als Länder¬
haus gedacht war. Dieser Reichsrat war jedoch niemals vollständig, da der
ungarische Landtag beharrlich die Beschickung verweigerte, nach der Auseinander¬
setzung mit Ungarn (1867) aber einige slawische Landtage streikten. Deswegen
wurden direkte Neichsratswahlen auf folgender Grundlage eingeführt: Man bildete
je eine Wählerklasse aus dem Großgrundbesitze, den Handelskammern, den
Städten und den Landgemeinden. Die Großgrundbesitzer wählten nach Kron¬
ländern, in den größern in mehreren Gruppen, jede Handelskammer wühlte einen
oder mehrere Abgeordnete; die großem Städte umfaßten einen oder mehrere
Wahlbezirke, die kleinern bildeten zusammen einen Wahlbezirk, desgleichen die
Landgemeinden, die ihre Abgeordneten jedoch nicht unmittelbar, sondern durch
Wahlmänner wählten. Nach unten hin war das Wahlrecht in Stadt und Land
durch einen Steuerzensus begrenzt. Durchschnittlich kam je ein Abgeordneter
auf 51 Großgrundbesitzer, auf 24 Handelskammerwähler, auf 34000 städtische
und auf 130000 ländliche Wühler.

Dieses aus dem Jahre 1873 stammende Wahlgesetz trug deutlich die
Spuren der Partei, die es geschaffen hatte; es hatte den ausgesprochnen Zweck,




Die Deutschen in Österreich und die Wahlrechtssrage
Julius Patzelt i von n
1

nucrhalb weniger Jahre wird in Osterreich zum zweitenmal der
Versuch unternommen, das Wahlrecht für den Neichsrat zu demo¬
kratisieren. Zwar hat sich der bisherige Ministerpräsident Frei¬
herr von Ganthas, der dem Neichsrat einen die Einführung des
allgemeinen, gleichen Wahlrechts behandelnden Gesetzentwurf vor¬
gelegt hatte, genötigt gesehen, zurückzutreten, weil er der Vorlage nicht die
nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament zu sichern vermochte; aber der neue
Ministerpräsident soll, wie es heißt, beauftragt sein, zu vollenden, was sein
Vorgänger nicht durchzuführen vermocht hatte. Die Wahlreform bleibt also in
Österreich auf der Tagesordnung, und man kann nur wünschen, daß diese An¬
gelegenheit in einer Weise erledigt werde, die den Interessen des Staats und
denen des Deutschtums mehr entspricht, als es der Wahlreformplan des Freiherrn
von Ganthas erwarten ließ, ergibt sich doch aus der bisherige,: Entwicklung
der österreichischen Wahlgesetzgebung, welche große nationale Bedeutung neben
der sozialen die Wahlrechtsfrage in diesem Staate hat.

Wie in den meisten andern europäischen Ländern begann der Konstitutio¬
nalismus auch in Österreich mit einem qualifizierten Wahlrecht. Ursprünglich
sollten die aus Klasseuwahlen hervorgegangnen Landtage die Abgeordneten in
den Neichsrat entsenden, dessen Abgeordnetenhaus also gewissermaßen als Länder¬
haus gedacht war. Dieser Reichsrat war jedoch niemals vollständig, da der
ungarische Landtag beharrlich die Beschickung verweigerte, nach der Auseinander¬
setzung mit Ungarn (1867) aber einige slawische Landtage streikten. Deswegen
wurden direkte Neichsratswahlen auf folgender Grundlage eingeführt: Man bildete
je eine Wählerklasse aus dem Großgrundbesitze, den Handelskammern, den
Städten und den Landgemeinden. Die Großgrundbesitzer wählten nach Kron¬
ländern, in den größern in mehreren Gruppen, jede Handelskammer wühlte einen
oder mehrere Abgeordnete; die großem Städte umfaßten einen oder mehrere
Wahlbezirke, die kleinern bildeten zusammen einen Wahlbezirk, desgleichen die
Landgemeinden, die ihre Abgeordneten jedoch nicht unmittelbar, sondern durch
Wahlmänner wählten. Nach unten hin war das Wahlrecht in Stadt und Land
durch einen Steuerzensus begrenzt. Durchschnittlich kam je ein Abgeordneter
auf 51 Großgrundbesitzer, auf 24 Handelskammerwähler, auf 34000 städtische
und auf 130000 ländliche Wühler.

Dieses aus dem Jahre 1873 stammende Wahlgesetz trug deutlich die
Spuren der Partei, die es geschaffen hatte; es hatte den ausgesprochnen Zweck,


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[0362] [Abbildung] Die Deutschen in Österreich und die Wahlrechtssrage Julius Patzelt i von n 1 nucrhalb weniger Jahre wird in Osterreich zum zweitenmal der Versuch unternommen, das Wahlrecht für den Neichsrat zu demo¬ kratisieren. Zwar hat sich der bisherige Ministerpräsident Frei¬ herr von Ganthas, der dem Neichsrat einen die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts behandelnden Gesetzentwurf vor¬ gelegt hatte, genötigt gesehen, zurückzutreten, weil er der Vorlage nicht die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament zu sichern vermochte; aber der neue Ministerpräsident soll, wie es heißt, beauftragt sein, zu vollenden, was sein Vorgänger nicht durchzuführen vermocht hatte. Die Wahlreform bleibt also in Österreich auf der Tagesordnung, und man kann nur wünschen, daß diese An¬ gelegenheit in einer Weise erledigt werde, die den Interessen des Staats und denen des Deutschtums mehr entspricht, als es der Wahlreformplan des Freiherrn von Ganthas erwarten ließ, ergibt sich doch aus der bisherige,: Entwicklung der österreichischen Wahlgesetzgebung, welche große nationale Bedeutung neben der sozialen die Wahlrechtsfrage in diesem Staate hat. Wie in den meisten andern europäischen Ländern begann der Konstitutio¬ nalismus auch in Österreich mit einem qualifizierten Wahlrecht. Ursprünglich sollten die aus Klasseuwahlen hervorgegangnen Landtage die Abgeordneten in den Neichsrat entsenden, dessen Abgeordnetenhaus also gewissermaßen als Länder¬ haus gedacht war. Dieser Reichsrat war jedoch niemals vollständig, da der ungarische Landtag beharrlich die Beschickung verweigerte, nach der Auseinander¬ setzung mit Ungarn (1867) aber einige slawische Landtage streikten. Deswegen wurden direkte Neichsratswahlen auf folgender Grundlage eingeführt: Man bildete je eine Wählerklasse aus dem Großgrundbesitze, den Handelskammern, den Städten und den Landgemeinden. Die Großgrundbesitzer wählten nach Kron¬ ländern, in den größern in mehreren Gruppen, jede Handelskammer wühlte einen oder mehrere Abgeordnete; die großem Städte umfaßten einen oder mehrere Wahlbezirke, die kleinern bildeten zusammen einen Wahlbezirk, desgleichen die Landgemeinden, die ihre Abgeordneten jedoch nicht unmittelbar, sondern durch Wahlmänner wählten. Nach unten hin war das Wahlrecht in Stadt und Land durch einen Steuerzensus begrenzt. Durchschnittlich kam je ein Abgeordneter auf 51 Großgrundbesitzer, auf 24 Handelskammerwähler, auf 34000 städtische und auf 130000 ländliche Wühler. Dieses aus dem Jahre 1873 stammende Wahlgesetz trug deutlich die Spuren der Partei, die es geschaffen hatte; es hatte den ausgesprochnen Zweck,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/362>, abgerufen am 24.07.2024.