Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Die Deutschen in Ästerreich und die Wahlrechtsfrage dem Abgeordnetenhaus eine deutsche, im besondern aber eine deutschliberale Alles kam nun darauf an, ob die Punkte, auf denen die Privilegierung Die Deutschen in Ästerreich und die Wahlrechtsfrage dem Abgeordnetenhaus eine deutsche, im besondern aber eine deutschliberale Alles kam nun darauf an, ob die Punkte, auf denen die Privilegierung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299404"/> <fw type="header" place="top"> Die Deutschen in Ästerreich und die Wahlrechtsfrage</fw><lb/> <p xml:id="ID_1623" prev="#ID_1622"> dem Abgeordnetenhaus eine deutsche, im besondern aber eine deutschliberale<lb/> Mehrheit zu sichern. Indem das Wahlgesetz Besitz und Intelligenz in außer¬<lb/> ordentlichem Maße bevorzugte, begünstigte es das liberale Deutschtum, das im<lb/> Westen Besitz und Intelligenz repräsentierte, überdies aber suchte eine kunst¬<lb/> volle Wahlbezirkseinteilung die deutschen Wahlstimmen zu erhöhter Bedeutung<lb/> zu bringen. Dementsprechend fielen auch die ersten Wahlen auf Grund dieses<lb/> Wahlgesetzes aus. Neben 258 Deutschen gelangten nur 95 Nichtdeutsche in<lb/> das Abgeordnetenhaus, trotzdem daß die Deutschen nur 39 Prozent der Be¬<lb/> völkerung ausmachten; von den deutschen Abgeordneten geHorten aber 224 der<lb/> liberalen Richtung an. Daß eine Partei, die die Gesetzgebung in der Gewalt<lb/> hat, sie im eignen Interesse handhabt, ist begreiflich und am Ende auch zu<lb/> rechtfertigen, was aber den liberalen Gesetzgebern von 1873 nicht verziehen<lb/> werden kann, ist ein schwerer Rechenfehler, der ihnen bei der vermeintlichen<lb/> Sicherung der deutschen Interessen unterlaufen war. Die dualistische Reichs¬<lb/> verfassung vom Jahre 1867 war von der Idee ausgegangen, daß beide Reichs¬<lb/> hälften eine straffe zentralistische Organisation erhalten sollen, und zwar unter<lb/> der Führung der Deutschen und der Magyaren; die österreichische Dezember-<lb/> Verfassung vom Jahre 1867 entsprach dem jedoch nicht. Die Deutschliberalen,<lb/> die damals am Ruder waren, hatten es entweder versäumt oder waren nicht<lb/> stark genug gewesen, in die Verfassung die Bestimmungen mit einzuführen<lb/> (Regelung der Sprachenfrage im deutschen Sinne), die dem österreichischen<lb/> Staatswesen den deutschen Stempel aufgeprägt hätten. Die Deutschliberalcn<lb/> suchten sich damit zu helfen, daß sie die Gesetzgebung in dieser Beziehung dem<lb/> Neichsrat überließen, in der Hoffnung, sie durch eine deutschliberale Mehrheit<lb/> für alle Zeit im deutschen Sinne ausüben zu können. Diese Majorität sollte<lb/> aber durch das Wahlgesetz von 1873 stabilisiert werden, das dadurch zum<lb/> Fundament der deutschen Hegemonie in Österreich wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_1624" next="#ID_1625"> Alles kam nun darauf an, ob die Punkte, auf denen die Privilegierung<lb/> der Deutschen im Wahlgesetze von 1873 beruhte, veränderlicher oder unver¬<lb/> änderlicher Natur waren. Die Deutschliberalen glaubten an das letzte, und<lb/> darin irrten sie. Die Herrschaft der Deutschliberalcn und damit mittelbar die<lb/> Hegemonie des Deutschtums hing davon ab, daß der Zensus und die Wahl¬<lb/> bezirkseinteilung des Wahlgesetzes von 1873 aufrecht erhalten wurden, daß die<lb/> Krone die Wahlen aus dem Großgrundbesitze zugunsten der Deutschliberalcn<lb/> dauernd beeinflußte, und daß endlich die nichtdeutsche Bevölkerung in ihrer<lb/> Kulturentwicklung dauernd gehemmt werde, damit sie nicht in größern Massen<lb/> den Intelligenz- und den Steuerzensus des Wahlgesetzes von 1873 erreiche.<lb/> Von allen diesen Voraussetzungen erwies sich keine als stichhaltig. Zwar<lb/> wurde an dem Zensus und an der Bezirkseinteilung des Wahlgesetzes von 1873<lb/> fürs erste nicht gerüttelt, trotzdem wurden aber schon bei den Wahlen von 1879<lb/> die Deutschliberalen in die Minorität gedrängt. Schon diese Tatsache hätte<lb/> die deutschliberale Partei davon überzeugen müssen, daß die ganze Politik der<lb/> Verfassungspartei falsch eingeleitet worden ist, daß die Grundlage, auf die sie<lb/> im Wahlgesetze von 1873 die deutschen Interessen gestellt hatte, durchaus ver¬<lb/> änderlich und unzuverlässig war, und daß somit der Zentralismus eher eine</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0363]
Die Deutschen in Ästerreich und die Wahlrechtsfrage
dem Abgeordnetenhaus eine deutsche, im besondern aber eine deutschliberale
Mehrheit zu sichern. Indem das Wahlgesetz Besitz und Intelligenz in außer¬
ordentlichem Maße bevorzugte, begünstigte es das liberale Deutschtum, das im
Westen Besitz und Intelligenz repräsentierte, überdies aber suchte eine kunst¬
volle Wahlbezirkseinteilung die deutschen Wahlstimmen zu erhöhter Bedeutung
zu bringen. Dementsprechend fielen auch die ersten Wahlen auf Grund dieses
Wahlgesetzes aus. Neben 258 Deutschen gelangten nur 95 Nichtdeutsche in
das Abgeordnetenhaus, trotzdem daß die Deutschen nur 39 Prozent der Be¬
völkerung ausmachten; von den deutschen Abgeordneten geHorten aber 224 der
liberalen Richtung an. Daß eine Partei, die die Gesetzgebung in der Gewalt
hat, sie im eignen Interesse handhabt, ist begreiflich und am Ende auch zu
rechtfertigen, was aber den liberalen Gesetzgebern von 1873 nicht verziehen
werden kann, ist ein schwerer Rechenfehler, der ihnen bei der vermeintlichen
Sicherung der deutschen Interessen unterlaufen war. Die dualistische Reichs¬
verfassung vom Jahre 1867 war von der Idee ausgegangen, daß beide Reichs¬
hälften eine straffe zentralistische Organisation erhalten sollen, und zwar unter
der Führung der Deutschen und der Magyaren; die österreichische Dezember-
Verfassung vom Jahre 1867 entsprach dem jedoch nicht. Die Deutschliberalen,
die damals am Ruder waren, hatten es entweder versäumt oder waren nicht
stark genug gewesen, in die Verfassung die Bestimmungen mit einzuführen
(Regelung der Sprachenfrage im deutschen Sinne), die dem österreichischen
Staatswesen den deutschen Stempel aufgeprägt hätten. Die Deutschliberalcn
suchten sich damit zu helfen, daß sie die Gesetzgebung in dieser Beziehung dem
Neichsrat überließen, in der Hoffnung, sie durch eine deutschliberale Mehrheit
für alle Zeit im deutschen Sinne ausüben zu können. Diese Majorität sollte
aber durch das Wahlgesetz von 1873 stabilisiert werden, das dadurch zum
Fundament der deutschen Hegemonie in Österreich wurde.
Alles kam nun darauf an, ob die Punkte, auf denen die Privilegierung
der Deutschen im Wahlgesetze von 1873 beruhte, veränderlicher oder unver¬
änderlicher Natur waren. Die Deutschliberalen glaubten an das letzte, und
darin irrten sie. Die Herrschaft der Deutschliberalcn und damit mittelbar die
Hegemonie des Deutschtums hing davon ab, daß der Zensus und die Wahl¬
bezirkseinteilung des Wahlgesetzes von 1873 aufrecht erhalten wurden, daß die
Krone die Wahlen aus dem Großgrundbesitze zugunsten der Deutschliberalcn
dauernd beeinflußte, und daß endlich die nichtdeutsche Bevölkerung in ihrer
Kulturentwicklung dauernd gehemmt werde, damit sie nicht in größern Massen
den Intelligenz- und den Steuerzensus des Wahlgesetzes von 1873 erreiche.
Von allen diesen Voraussetzungen erwies sich keine als stichhaltig. Zwar
wurde an dem Zensus und an der Bezirkseinteilung des Wahlgesetzes von 1873
fürs erste nicht gerüttelt, trotzdem wurden aber schon bei den Wahlen von 1879
die Deutschliberalen in die Minorität gedrängt. Schon diese Tatsache hätte
die deutschliberale Partei davon überzeugen müssen, daß die ganze Politik der
Verfassungspartei falsch eingeleitet worden ist, daß die Grundlage, auf die sie
im Wahlgesetze von 1873 die deutschen Interessen gestellt hatte, durchaus ver¬
änderlich und unzuverlässig war, und daß somit der Zentralismus eher eine
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