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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die ungarische Krise
Julius Patzelt von in

ez^)>le ungarische Krise ist beendet! So liest man wenigstens in den
meisten Tagesblättern. Wie in einem Sensationsromane löste
sich der Knoten, der sich täglich fester zusammenzuziehn schien, in
wenig Stunden, und nichts ist begreiflicher als die Frage, wer
I der aeus iNÄvding, war, der die Lösung so spielend vollbrachte.
Vergebens sucht man in den großen Blättern nach einem Worte der Auf¬
klärung, obgleich sie einen sehr interessanten Beitrag zur modernen Staats¬
geschichte bildet.

Welches waren die Elemente der ungarischen Krise?

Nach der landläufigen Darstellung hatte in Ungarn die an die Über¬
lieferungen von 1848 anknüpfende Strömung die Oberhand gewonnen, die in der
dualistischen Reichsverfassung vom Jahre 1867, die eine Reihe von Angelegen¬
heiten als für Österreich und Ungarn gemeinsam erklärt hatte, die Ursache
aller politischen und wirtschaftlichen Mißstände in Ungarn sieht und darum der
reinen Personalunion mit Österreich zustrebt. Zu diesem Zwecke wurde nicht
nur die Forderung nach wirtschaftlicher Trennung beider Neichshälften erhoben,
sondern auch die Verfügung über den ungarischen Teil der gemeinsamen Armee,
die nach dem Wortlaute der Verfassung ausschließlich der Krone zusteht, für
den ungarischen Reichstag reklamiert. Die Krone widerstrebte aus begreif¬
lichen Gründen diesen Forderungen, suchte ihnen aber durch sehr weitgehende
Zugeständnisse bis zu einem gewissen Punkte entgegenzukommen und stützte
sich dabei auf die liberale Regierungsmehrheit im ungarischen Reichstage, die
durch die Sünden einer jahrzehntelangen Herrschaft allerdings schon sehr
morsch und brüchig geworden war. Aber die Opposition war unerbittlich und
erzwang schließlich die Auflösung des Abgeordnetenhauses, und als die Neu¬
wahlen vollzogen waren, befand sich die oppositionelle Koalition in der Mehr¬
heit, während die liberale Partei, wenn auch nicht vernichtet, so doch aus
dem Spiele der parlamentarischen Kräfte so ziemlich ausgeschaltet war.

Der Konflikt zwischen Krone und Opposition war damit zu einem Kon¬
flikt zwischen Krone und Parlament geworden, aus dem monatelang vergeblich
ein Ausweg gesucht wurde, da beide Streitteile zähe an ihrem Standpunkte
festhielten.

Das ist in wenig Strichen die Geschichte der letzten ungarischen Krise,
aber man wird sich vergeblich bemühen, aus ihr die plötzliche Beilegung des
Streits zu erklären, wenn man nicht auch die wirtschaftliche Entwicklung
Ungarns in den letzten Jahrzehnten berücksichtigt, die eine Macht hervor-




Die ungarische Krise
Julius Patzelt von in

ez^)>le ungarische Krise ist beendet! So liest man wenigstens in den
meisten Tagesblättern. Wie in einem Sensationsromane löste
sich der Knoten, der sich täglich fester zusammenzuziehn schien, in
wenig Stunden, und nichts ist begreiflicher als die Frage, wer
I der aeus iNÄvding, war, der die Lösung so spielend vollbrachte.
Vergebens sucht man in den großen Blättern nach einem Worte der Auf¬
klärung, obgleich sie einen sehr interessanten Beitrag zur modernen Staats¬
geschichte bildet.

Welches waren die Elemente der ungarischen Krise?

Nach der landläufigen Darstellung hatte in Ungarn die an die Über¬
lieferungen von 1848 anknüpfende Strömung die Oberhand gewonnen, die in der
dualistischen Reichsverfassung vom Jahre 1867, die eine Reihe von Angelegen¬
heiten als für Österreich und Ungarn gemeinsam erklärt hatte, die Ursache
aller politischen und wirtschaftlichen Mißstände in Ungarn sieht und darum der
reinen Personalunion mit Österreich zustrebt. Zu diesem Zwecke wurde nicht
nur die Forderung nach wirtschaftlicher Trennung beider Neichshälften erhoben,
sondern auch die Verfügung über den ungarischen Teil der gemeinsamen Armee,
die nach dem Wortlaute der Verfassung ausschließlich der Krone zusteht, für
den ungarischen Reichstag reklamiert. Die Krone widerstrebte aus begreif¬
lichen Gründen diesen Forderungen, suchte ihnen aber durch sehr weitgehende
Zugeständnisse bis zu einem gewissen Punkte entgegenzukommen und stützte
sich dabei auf die liberale Regierungsmehrheit im ungarischen Reichstage, die
durch die Sünden einer jahrzehntelangen Herrschaft allerdings schon sehr
morsch und brüchig geworden war. Aber die Opposition war unerbittlich und
erzwang schließlich die Auflösung des Abgeordnetenhauses, und als die Neu¬
wahlen vollzogen waren, befand sich die oppositionelle Koalition in der Mehr¬
heit, während die liberale Partei, wenn auch nicht vernichtet, so doch aus
dem Spiele der parlamentarischen Kräfte so ziemlich ausgeschaltet war.

Der Konflikt zwischen Krone und Opposition war damit zu einem Kon¬
flikt zwischen Krone und Parlament geworden, aus dem monatelang vergeblich
ein Ausweg gesucht wurde, da beide Streitteile zähe an ihrem Standpunkte
festhielten.

Das ist in wenig Strichen die Geschichte der letzten ungarischen Krise,
aber man wird sich vergeblich bemühen, aus ihr die plötzliche Beilegung des
Streits zu erklären, wenn man nicht auch die wirtschaftliche Entwicklung
Ungarns in den letzten Jahrzehnten berücksichtigt, die eine Macht hervor-


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[0248] [Abbildung] Die ungarische Krise Julius Patzelt von in ez^)>le ungarische Krise ist beendet! So liest man wenigstens in den meisten Tagesblättern. Wie in einem Sensationsromane löste sich der Knoten, der sich täglich fester zusammenzuziehn schien, in wenig Stunden, und nichts ist begreiflicher als die Frage, wer I der aeus iNÄvding, war, der die Lösung so spielend vollbrachte. Vergebens sucht man in den großen Blättern nach einem Worte der Auf¬ klärung, obgleich sie einen sehr interessanten Beitrag zur modernen Staats¬ geschichte bildet. Welches waren die Elemente der ungarischen Krise? Nach der landläufigen Darstellung hatte in Ungarn die an die Über¬ lieferungen von 1848 anknüpfende Strömung die Oberhand gewonnen, die in der dualistischen Reichsverfassung vom Jahre 1867, die eine Reihe von Angelegen¬ heiten als für Österreich und Ungarn gemeinsam erklärt hatte, die Ursache aller politischen und wirtschaftlichen Mißstände in Ungarn sieht und darum der reinen Personalunion mit Österreich zustrebt. Zu diesem Zwecke wurde nicht nur die Forderung nach wirtschaftlicher Trennung beider Neichshälften erhoben, sondern auch die Verfügung über den ungarischen Teil der gemeinsamen Armee, die nach dem Wortlaute der Verfassung ausschließlich der Krone zusteht, für den ungarischen Reichstag reklamiert. Die Krone widerstrebte aus begreif¬ lichen Gründen diesen Forderungen, suchte ihnen aber durch sehr weitgehende Zugeständnisse bis zu einem gewissen Punkte entgegenzukommen und stützte sich dabei auf die liberale Regierungsmehrheit im ungarischen Reichstage, die durch die Sünden einer jahrzehntelangen Herrschaft allerdings schon sehr morsch und brüchig geworden war. Aber die Opposition war unerbittlich und erzwang schließlich die Auflösung des Abgeordnetenhauses, und als die Neu¬ wahlen vollzogen waren, befand sich die oppositionelle Koalition in der Mehr¬ heit, während die liberale Partei, wenn auch nicht vernichtet, so doch aus dem Spiele der parlamentarischen Kräfte so ziemlich ausgeschaltet war. Der Konflikt zwischen Krone und Opposition war damit zu einem Kon¬ flikt zwischen Krone und Parlament geworden, aus dem monatelang vergeblich ein Ausweg gesucht wurde, da beide Streitteile zähe an ihrem Standpunkte festhielten. Das ist in wenig Strichen die Geschichte der letzten ungarischen Krise, aber man wird sich vergeblich bemühen, aus ihr die plötzliche Beilegung des Streits zu erklären, wenn man nicht auch die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns in den letzten Jahrzehnten berücksichtigt, die eine Macht hervor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/248>, abgerufen am 24.07.2024.