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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Italien und der Dreibund. Botschafter Graf Lanza. Die
wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands und Rußlands. Kein Lvmbardverbot. Der
Reichskanzler. Herr von Holstein. Das Osterei des Reichstags.)

Aus der Polemik italienischer Blätter über oder gegen Deutschlands Haltung
nach dem Ausgange der Marokkokonferenz ist eine Äußerung der römischen Ltainpa
bemerkenswert, die behauptet, viel zu der Verstimmung zwischen Berlin und Rom
habe der Umstand beigetragen, daß Italien in Algcciras eine auf seine Veran¬
lassung in den Dreibundvertrag bei dessen Erneuerung eingefügte Bestimmung zu
wenig beachtet habe, worin sich die Verbündeten verpflichten, "diplomatisch oder
mit Waffengewalt jede Verletzung des se^of amo im Mittelmeer zu verhindern".
So scharf wird diese Bestimmung kaum gefaßt sein, aber daß für einen solchen Fall
eine gemeinsame Verständigung der drei Mächte in Aussicht genommen worden ist,
gilt in unterrichteten Kreisen für zutreffend. Danach war Italien durch Sinn und
Wortlaut der Dreibnndakte verpflichtet, in Algeciras mit Deutschland zu gehn, und
Awar in einem über die bisherigen Annahmen weit hinausreichenden Maße verpflichtet.
Die italienischen Staatsmänner behaupten jetzt, Deutschland habe gegen Italiens
Erwartung zu früh nachgegeben und dadurch Italien im letzten Augenblick die
Möglichkeit einer Deutschland unterstützenden Vermittlungsaktion genommen. Viel
Glauben werden die Italiener damit in Berlin nicht gefunden haben, ebenso wie
mit der andern Behauptung, sie hätten Visconti-Venosta in Algeciras freie Hand
lassen müssen. Es sei das seine Bedingung für die Übernahme des Maubads ge¬
wesen, die italienische Regierung habe sich deshalb in ihrer Einwirkung auf Rat¬
schläge beschränkt gesehen und sei nicht in der Lage gewesen, ihm von Fall zu Fall
Instruktionen zu erteilen. Auch wenn das alles richtig wäre, läge doch die Erwägung
nahe, weshalb ein bundestreues Italien seine Vertretung auf einer Konferenz, die
dazu bestimmt war, einen Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich in einer
Angelegenheit auszugleichen, die die Bedeutung einer allgemeinen Prinzipienfrage
angenommen hatte, seine Vertretung einem Staatsmanne von ausgesprochen fran¬
zösischen Anschauungen übertrug. Visconti-Venosta ist in der italienischen Politik
immer der Vertreter des Zusammengehns mit Frankreich gewesen. Er war im
Sommer 1870 bei Ausbruch des Deutsch-französischen Krieges Minister, die mili¬
tärischen Vorbereitungen, die Italien damals traf, gehören der Geschichte an. Viktor
Emanuel war bei seinem Besuche in Berlin 1873 ehrlich genug, zuzugeben, daß er
gewillt gewesen sei, an dem Kriege gegen uns teilzunehmen; Italien ist daran nur durch
die rapide Entwicklung der Ereignisse zwischen dem 4. August und dem 2. September,
dann allerdings auch durch die Haltung der Linken des Parlaments verhindert worden.
Die italienische Aktionspartei, die im Spätherbst das Garibaldische Korps nach
Frankreich sandte, schien bei Ausbruch des Krieges entschlossen zu sein, eine Be¬
teiligung Italiens zu verhindern, später begünstigte die Regierung die Garibaldische
Expedition wohl mehr mit der Absicht, diese Elemente aus Italien los zu werden.
Aber im Grunde genommen ist Visconti-Venosta heute noch derselbe, der er 1870
war, in Rom hat deshalb auch wohl kein Zweifel bestanden, wie seine Ernennung zum
Vertreter Italiens in Algeciras von Deutschland beurteilt werden würde. Voraus¬
sichtlich sind die Italiener mit derselben Anschauung wie die Franzosen zu der Kon¬
ferenz gegangen, daß Deutschland dort schließlich nachgeben werde, und daß es sich
in Algeciras eigentlich nur um die Auffindung einer annehmbaren Formel handle,
eine Anschauung, die namentlich auf der englischen Seite bestand und von dieser
wohl in Rom ebenso wie in Paris und Petersburg mit Nachdruck vertreten worden
ist. Die Italiener sahen somit allerdings wohl keinen Anlaß, sich über eine Sache
aufzuregen, von der sie annahmen, das; Deutschland ungeachtet der sehr bestimmten
Sprache seiner Diplomatie nachgeben werde, und wobei sie ihre Rechnung bei
Frankreich zu finden glaubten. Von einer gewissen Bewegung in der italienischen
Presse abgesehen, die ja auch in den in beiden Häusern des Parlaments an die


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Italien und der Dreibund. Botschafter Graf Lanza. Die
wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands und Rußlands. Kein Lvmbardverbot. Der
Reichskanzler. Herr von Holstein. Das Osterei des Reichstags.)

Aus der Polemik italienischer Blätter über oder gegen Deutschlands Haltung
nach dem Ausgange der Marokkokonferenz ist eine Äußerung der römischen Ltainpa
bemerkenswert, die behauptet, viel zu der Verstimmung zwischen Berlin und Rom
habe der Umstand beigetragen, daß Italien in Algcciras eine auf seine Veran¬
lassung in den Dreibundvertrag bei dessen Erneuerung eingefügte Bestimmung zu
wenig beachtet habe, worin sich die Verbündeten verpflichten, „diplomatisch oder
mit Waffengewalt jede Verletzung des se^of amo im Mittelmeer zu verhindern".
So scharf wird diese Bestimmung kaum gefaßt sein, aber daß für einen solchen Fall
eine gemeinsame Verständigung der drei Mächte in Aussicht genommen worden ist,
gilt in unterrichteten Kreisen für zutreffend. Danach war Italien durch Sinn und
Wortlaut der Dreibnndakte verpflichtet, in Algeciras mit Deutschland zu gehn, und
Awar in einem über die bisherigen Annahmen weit hinausreichenden Maße verpflichtet.
Die italienischen Staatsmänner behaupten jetzt, Deutschland habe gegen Italiens
Erwartung zu früh nachgegeben und dadurch Italien im letzten Augenblick die
Möglichkeit einer Deutschland unterstützenden Vermittlungsaktion genommen. Viel
Glauben werden die Italiener damit in Berlin nicht gefunden haben, ebenso wie
mit der andern Behauptung, sie hätten Visconti-Venosta in Algeciras freie Hand
lassen müssen. Es sei das seine Bedingung für die Übernahme des Maubads ge¬
wesen, die italienische Regierung habe sich deshalb in ihrer Einwirkung auf Rat¬
schläge beschränkt gesehen und sei nicht in der Lage gewesen, ihm von Fall zu Fall
Instruktionen zu erteilen. Auch wenn das alles richtig wäre, läge doch die Erwägung
nahe, weshalb ein bundestreues Italien seine Vertretung auf einer Konferenz, die
dazu bestimmt war, einen Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich in einer
Angelegenheit auszugleichen, die die Bedeutung einer allgemeinen Prinzipienfrage
angenommen hatte, seine Vertretung einem Staatsmanne von ausgesprochen fran¬
zösischen Anschauungen übertrug. Visconti-Venosta ist in der italienischen Politik
immer der Vertreter des Zusammengehns mit Frankreich gewesen. Er war im
Sommer 1870 bei Ausbruch des Deutsch-französischen Krieges Minister, die mili¬
tärischen Vorbereitungen, die Italien damals traf, gehören der Geschichte an. Viktor
Emanuel war bei seinem Besuche in Berlin 1873 ehrlich genug, zuzugeben, daß er
gewillt gewesen sei, an dem Kriege gegen uns teilzunehmen; Italien ist daran nur durch
die rapide Entwicklung der Ereignisse zwischen dem 4. August und dem 2. September,
dann allerdings auch durch die Haltung der Linken des Parlaments verhindert worden.
Die italienische Aktionspartei, die im Spätherbst das Garibaldische Korps nach
Frankreich sandte, schien bei Ausbruch des Krieges entschlossen zu sein, eine Be¬
teiligung Italiens zu verhindern, später begünstigte die Regierung die Garibaldische
Expedition wohl mehr mit der Absicht, diese Elemente aus Italien los zu werden.
Aber im Grunde genommen ist Visconti-Venosta heute noch derselbe, der er 1870
war, in Rom hat deshalb auch wohl kein Zweifel bestanden, wie seine Ernennung zum
Vertreter Italiens in Algeciras von Deutschland beurteilt werden würde. Voraus¬
sichtlich sind die Italiener mit derselben Anschauung wie die Franzosen zu der Kon¬
ferenz gegangen, daß Deutschland dort schließlich nachgeben werde, und daß es sich
in Algeciras eigentlich nur um die Auffindung einer annehmbaren Formel handle,
eine Anschauung, die namentlich auf der englischen Seite bestand und von dieser
wohl in Rom ebenso wie in Paris und Petersburg mit Nachdruck vertreten worden
ist. Die Italiener sahen somit allerdings wohl keinen Anlaß, sich über eine Sache
aufzuregen, von der sie annahmen, das; Deutschland ungeachtet der sehr bestimmten
Sprache seiner Diplomatie nachgeben werde, und wobei sie ihre Rechnung bei
Frankreich zu finden glaubten. Von einer gewissen Bewegung in der italienischen
Presse abgesehen, die ja auch in den in beiden Häusern des Parlaments an die


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[0230] Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel. (Italien und der Dreibund. Botschafter Graf Lanza. Die wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands und Rußlands. Kein Lvmbardverbot. Der Reichskanzler. Herr von Holstein. Das Osterei des Reichstags.) Aus der Polemik italienischer Blätter über oder gegen Deutschlands Haltung nach dem Ausgange der Marokkokonferenz ist eine Äußerung der römischen Ltainpa bemerkenswert, die behauptet, viel zu der Verstimmung zwischen Berlin und Rom habe der Umstand beigetragen, daß Italien in Algcciras eine auf seine Veran¬ lassung in den Dreibundvertrag bei dessen Erneuerung eingefügte Bestimmung zu wenig beachtet habe, worin sich die Verbündeten verpflichten, „diplomatisch oder mit Waffengewalt jede Verletzung des se^of amo im Mittelmeer zu verhindern". So scharf wird diese Bestimmung kaum gefaßt sein, aber daß für einen solchen Fall eine gemeinsame Verständigung der drei Mächte in Aussicht genommen worden ist, gilt in unterrichteten Kreisen für zutreffend. Danach war Italien durch Sinn und Wortlaut der Dreibnndakte verpflichtet, in Algeciras mit Deutschland zu gehn, und Awar in einem über die bisherigen Annahmen weit hinausreichenden Maße verpflichtet. Die italienischen Staatsmänner behaupten jetzt, Deutschland habe gegen Italiens Erwartung zu früh nachgegeben und dadurch Italien im letzten Augenblick die Möglichkeit einer Deutschland unterstützenden Vermittlungsaktion genommen. Viel Glauben werden die Italiener damit in Berlin nicht gefunden haben, ebenso wie mit der andern Behauptung, sie hätten Visconti-Venosta in Algeciras freie Hand lassen müssen. Es sei das seine Bedingung für die Übernahme des Maubads ge¬ wesen, die italienische Regierung habe sich deshalb in ihrer Einwirkung auf Rat¬ schläge beschränkt gesehen und sei nicht in der Lage gewesen, ihm von Fall zu Fall Instruktionen zu erteilen. Auch wenn das alles richtig wäre, läge doch die Erwägung nahe, weshalb ein bundestreues Italien seine Vertretung auf einer Konferenz, die dazu bestimmt war, einen Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich in einer Angelegenheit auszugleichen, die die Bedeutung einer allgemeinen Prinzipienfrage angenommen hatte, seine Vertretung einem Staatsmanne von ausgesprochen fran¬ zösischen Anschauungen übertrug. Visconti-Venosta ist in der italienischen Politik immer der Vertreter des Zusammengehns mit Frankreich gewesen. Er war im Sommer 1870 bei Ausbruch des Deutsch-französischen Krieges Minister, die mili¬ tärischen Vorbereitungen, die Italien damals traf, gehören der Geschichte an. Viktor Emanuel war bei seinem Besuche in Berlin 1873 ehrlich genug, zuzugeben, daß er gewillt gewesen sei, an dem Kriege gegen uns teilzunehmen; Italien ist daran nur durch die rapide Entwicklung der Ereignisse zwischen dem 4. August und dem 2. September, dann allerdings auch durch die Haltung der Linken des Parlaments verhindert worden. Die italienische Aktionspartei, die im Spätherbst das Garibaldische Korps nach Frankreich sandte, schien bei Ausbruch des Krieges entschlossen zu sein, eine Be¬ teiligung Italiens zu verhindern, später begünstigte die Regierung die Garibaldische Expedition wohl mehr mit der Absicht, diese Elemente aus Italien los zu werden. Aber im Grunde genommen ist Visconti-Venosta heute noch derselbe, der er 1870 war, in Rom hat deshalb auch wohl kein Zweifel bestanden, wie seine Ernennung zum Vertreter Italiens in Algeciras von Deutschland beurteilt werden würde. Voraus¬ sichtlich sind die Italiener mit derselben Anschauung wie die Franzosen zu der Kon¬ ferenz gegangen, daß Deutschland dort schließlich nachgeben werde, und daß es sich in Algeciras eigentlich nur um die Auffindung einer annehmbaren Formel handle, eine Anschauung, die namentlich auf der englischen Seite bestand und von dieser wohl in Rom ebenso wie in Paris und Petersburg mit Nachdruck vertreten worden ist. Die Italiener sahen somit allerdings wohl keinen Anlaß, sich über eine Sache aufzuregen, von der sie annahmen, das; Deutschland ungeachtet der sehr bestimmten Sprache seiner Diplomatie nachgeben werde, und wobei sie ihre Rechnung bei Frankreich zu finden glaubten. Von einer gewissen Bewegung in der italienischen Presse abgesehen, die ja auch in den in beiden Häusern des Parlaments an die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/230>, abgerufen am 26.12.2024.