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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

Ausgestaltung dieser seiner Lieblingsschöpfung der wirtschaftlichen Entwicklung
Bosniens um Dezennien vorausgeeilt sei, weil diese und andre Einrichtungen
zur Hebung des Fremdenverkehrs bis jetzt Zuschuß brauchen. Abgesehen von
dem ideellen Gewinn, dem der persönliche Verkehr mit dem Westen für die
zum Teil doch recht einsam sitzenden Offiziere und Beamten bringt, glaube ich,
daß die Spekulation auf das Bekanntwerden Bosniens und die Ausbeutung
seiner Sehenswürdigkeiten auch finanziell einschlagen wird. Wenn Bosnien jetzt
schon seinen Haushalt selbst bestreiten kann, so durfte Kallay auch diesen
Wechsel auf die Zukunft ruhig ausstellen. Ich meinerseits habe das Andenken
des zweiten Schöpfers von Bosnien gesegnet, so oft ich zum Schluß schöner
aber anstrengender Tage in Sarajewo und dessen Umgebung mich Abends der
herrlichen Therme von Jlidze erfreuen durste.

Österreich-Ungarn hat viel für sein Neuland getan, es hat Bosnien der
europäischen Kultur gewonnen, aber es war nicht bloß gebend, sondern auch
empfangend.

Österreich-Ungarn durfte, um nur eins zu nennen, sich und der Welt
zeigen, daß die innern Zwistigkeiten seine staatsbildende Kraft doch nicht ganz
aufgezehrt haben, daß es noch imstande ist, eine Beamtenschaft aus allen
Nationalitäten des Reichs zusammenzustellen, die von der Reichsidee beherrscht
ist, eine Beamtenschaft, mit der eine Kulturarbeit geschaffen werden kann, wie
sie Maria Theresia auf der Höhe der Macht Österreichs in dem verödeten
Südungarn geleistet hat.

Die Reise durch dieses Kolonialland, mitten im alten Europa, hat mich
manches, was wir Zuhause haben, mit kritischen Augen zu betrachten gelehrt,
und einen alten Skrupel hat sie mir gründlich genommen: nach den materiellen
und den ideellen Vorteilen, die durch die Okkupation den Bosniern wie den
Österreichern in demselben Maß erwachsen sind, ist mir jeder Zweifel darüber
vergangen, ob zivilisierte Nationen das moralische Recht haben, in Ländern
niedrer Kultur ungerufen einzugreifen und zugleich kolonisierend und zivilisierend
vorzugehn.




Menschenfrühling
Charlotte Niese von(Fortsetzung)

rucki saß ganz still. Sie hatte es aufgegeben, ihren Gesang zu lernen,
und die Rechenaufgabe für Herrn Gebhardt schob sie zur Seite. Es
war hübsch, ihren Onkel so sprechen und lesen zu hören. Später,
wenn sie groß war, wollte sie ihn bitten, alles noch einmal lesen zu
dürfen.

Aber Onkel Willi sprach nicht weiter. Er war aufgestanden
und an das Fenster getreten, das er öffnete.

Was willst du? fragte er auf die Terrasse hinaus, und Fred Rolands Stimme
antwortete:

Darf Anneli nicht einen Augenblick herauskommen?


Menschenfrühling

Ausgestaltung dieser seiner Lieblingsschöpfung der wirtschaftlichen Entwicklung
Bosniens um Dezennien vorausgeeilt sei, weil diese und andre Einrichtungen
zur Hebung des Fremdenverkehrs bis jetzt Zuschuß brauchen. Abgesehen von
dem ideellen Gewinn, dem der persönliche Verkehr mit dem Westen für die
zum Teil doch recht einsam sitzenden Offiziere und Beamten bringt, glaube ich,
daß die Spekulation auf das Bekanntwerden Bosniens und die Ausbeutung
seiner Sehenswürdigkeiten auch finanziell einschlagen wird. Wenn Bosnien jetzt
schon seinen Haushalt selbst bestreiten kann, so durfte Kallay auch diesen
Wechsel auf die Zukunft ruhig ausstellen. Ich meinerseits habe das Andenken
des zweiten Schöpfers von Bosnien gesegnet, so oft ich zum Schluß schöner
aber anstrengender Tage in Sarajewo und dessen Umgebung mich Abends der
herrlichen Therme von Jlidze erfreuen durste.

Österreich-Ungarn hat viel für sein Neuland getan, es hat Bosnien der
europäischen Kultur gewonnen, aber es war nicht bloß gebend, sondern auch
empfangend.

Österreich-Ungarn durfte, um nur eins zu nennen, sich und der Welt
zeigen, daß die innern Zwistigkeiten seine staatsbildende Kraft doch nicht ganz
aufgezehrt haben, daß es noch imstande ist, eine Beamtenschaft aus allen
Nationalitäten des Reichs zusammenzustellen, die von der Reichsidee beherrscht
ist, eine Beamtenschaft, mit der eine Kulturarbeit geschaffen werden kann, wie
sie Maria Theresia auf der Höhe der Macht Österreichs in dem verödeten
Südungarn geleistet hat.

Die Reise durch dieses Kolonialland, mitten im alten Europa, hat mich
manches, was wir Zuhause haben, mit kritischen Augen zu betrachten gelehrt,
und einen alten Skrupel hat sie mir gründlich genommen: nach den materiellen
und den ideellen Vorteilen, die durch die Okkupation den Bosniern wie den
Österreichern in demselben Maß erwachsen sind, ist mir jeder Zweifel darüber
vergangen, ob zivilisierte Nationen das moralische Recht haben, in Ländern
niedrer Kultur ungerufen einzugreifen und zugleich kolonisierend und zivilisierend
vorzugehn.




Menschenfrühling
Charlotte Niese von(Fortsetzung)

rucki saß ganz still. Sie hatte es aufgegeben, ihren Gesang zu lernen,
und die Rechenaufgabe für Herrn Gebhardt schob sie zur Seite. Es
war hübsch, ihren Onkel so sprechen und lesen zu hören. Später,
wenn sie groß war, wollte sie ihn bitten, alles noch einmal lesen zu
dürfen.

Aber Onkel Willi sprach nicht weiter. Er war aufgestanden
und an das Fenster getreten, das er öffnete.

Was willst du? fragte er auf die Terrasse hinaus, und Fred Rolands Stimme
antwortete:

Darf Anneli nicht einen Augenblick herauskommen?


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[0164] Menschenfrühling Ausgestaltung dieser seiner Lieblingsschöpfung der wirtschaftlichen Entwicklung Bosniens um Dezennien vorausgeeilt sei, weil diese und andre Einrichtungen zur Hebung des Fremdenverkehrs bis jetzt Zuschuß brauchen. Abgesehen von dem ideellen Gewinn, dem der persönliche Verkehr mit dem Westen für die zum Teil doch recht einsam sitzenden Offiziere und Beamten bringt, glaube ich, daß die Spekulation auf das Bekanntwerden Bosniens und die Ausbeutung seiner Sehenswürdigkeiten auch finanziell einschlagen wird. Wenn Bosnien jetzt schon seinen Haushalt selbst bestreiten kann, so durfte Kallay auch diesen Wechsel auf die Zukunft ruhig ausstellen. Ich meinerseits habe das Andenken des zweiten Schöpfers von Bosnien gesegnet, so oft ich zum Schluß schöner aber anstrengender Tage in Sarajewo und dessen Umgebung mich Abends der herrlichen Therme von Jlidze erfreuen durste. Österreich-Ungarn hat viel für sein Neuland getan, es hat Bosnien der europäischen Kultur gewonnen, aber es war nicht bloß gebend, sondern auch empfangend. Österreich-Ungarn durfte, um nur eins zu nennen, sich und der Welt zeigen, daß die innern Zwistigkeiten seine staatsbildende Kraft doch nicht ganz aufgezehrt haben, daß es noch imstande ist, eine Beamtenschaft aus allen Nationalitäten des Reichs zusammenzustellen, die von der Reichsidee beherrscht ist, eine Beamtenschaft, mit der eine Kulturarbeit geschaffen werden kann, wie sie Maria Theresia auf der Höhe der Macht Österreichs in dem verödeten Südungarn geleistet hat. Die Reise durch dieses Kolonialland, mitten im alten Europa, hat mich manches, was wir Zuhause haben, mit kritischen Augen zu betrachten gelehrt, und einen alten Skrupel hat sie mir gründlich genommen: nach den materiellen und den ideellen Vorteilen, die durch die Okkupation den Bosniern wie den Österreichern in demselben Maß erwachsen sind, ist mir jeder Zweifel darüber vergangen, ob zivilisierte Nationen das moralische Recht haben, in Ländern niedrer Kultur ungerufen einzugreifen und zugleich kolonisierend und zivilisierend vorzugehn. Menschenfrühling Charlotte Niese von(Fortsetzung) rucki saß ganz still. Sie hatte es aufgegeben, ihren Gesang zu lernen, und die Rechenaufgabe für Herrn Gebhardt schob sie zur Seite. Es war hübsch, ihren Onkel so sprechen und lesen zu hören. Später, wenn sie groß war, wollte sie ihn bitten, alles noch einmal lesen zu dürfen. Aber Onkel Willi sprach nicht weiter. Er war aufgestanden und an das Fenster getreten, das er öffnete. Was willst du? fragte er auf die Terrasse hinaus, und Fred Rolands Stimme antwortete: Darf Anneli nicht einen Augenblick herauskommen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/164>, abgerufen am 26.12.2024.